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-- Rezensionen
--- Jonathan Littell - Die Wohlgesinnten

Hermeneutiker - 28.06.2009 um 08:15 Uhr

Ein homosexueller Akademiker gerät in die Mühle der Macht, wird Offizier bei der SS und wirkt aktiv und passiv bei der Vernichtung der Juden mit. Alle Details werden beschrieben, keine Tabus. Dazu gehören die Massakrierung der Juden, das homosexuelle Sexualleben, der Inzest mit der Schwester (zwei Kinder werden gezeugt), der Muttermord mit dem Hackebeil (incl. Stiefvater). Die "Wohlgesinnten" sind antike Rachegötter, eigentlich "Eumeniden". Von Rache (wegen des Muttermordes) aber keine Spur, das Buch endet mit der Ansage, dass besagte Geister sich dereinst schon bemerkbar machen werden.

Bemerkenswert ist folgendes Detail: In diesem ganzen Zeugungs- und Blutopfergewürge - und im Hinterland der russichen Front taucht plötzlich der "Alte vom Berge auf", ein mythischer Archetypus. Es ist ein uralter Jude. Er ist hellsichtig und verlangt, persönlich von dem Protagonisten erschossen zu werden. Im Gegensatz zu seinen Leidensgenossen steht er über dem Schicksal (und über dessen Handlangern) und überblickt anscheinend den Kreislauf von Leben und Tod. Aus den alten Rachegöttern sind die "Wohlgesinnten" geworden, die das ganze tierisch-menschliche Treiben nicht nur real, sondern auch literarisch wohlwollend begleiten.




Matze - 28.06.2009 um 19:58 Uhr

Was um den Äquator des eigenen Arschlochs kreist, muß nicht zwingend zur Literatur werden.



Der_Stieg - 29.06.2009 um 23:41 Uhr

Zitat:

Was um den Äquator des eigenen Arschlochs kreist ...
Ein herrliches Bild. Für manches allerdings Konten füllend. Aber das hatten wir ja schon zur Genüge. It´s part of the party.




Hermeneutiker - 30.06.2009 um 07:39 Uhr

Mit Verlaub: die bisherigen Kommentare klingen für mich doch etwas nach Homophobie. Insofern kreisen sie - ohne es zu merken - vielleicht gleichfalls um besagten (Littellschen) "Äquator". Die Frage, ob etwas Literatur ist oder nicht, wenn sie mich denn interessieren würde, würde ich in diesem Fall lieber jemandem stellen, von dem ich annehmen dürfte, dass er auch die nicht sozusagen indizierten Teile des Romans zu würdigen versteht.



Matze - 30.06.2009 um 17:29 Uhr

Nicht jeder Schwule hat eine jüdische Ehefrau samt Schwiegermutter vor dem KZ gerettet wie der heldische Heldentenor Max Lorenz. Wenn aber Littells Max Aue für den SD angeworben wird, als er wegen des Verdachts ein "175er" zu sein, inhaftiert ist, wenn er dann "den Arsch voller Sperma in den Sicherheitsdienst" eintritt, obwohl noch heute in Diktaturen Verdächtige medizinischen Untersuchungen unterzogen werden, wenn er SS Führer einem jungen Kameraden einen ganzen gleichgeschlechtlichen Privatfaschismus ausbreitet, um ihn zu verführen, dann siegt die Männerfantasie endgültig über die grausame historische Realität in "Sachsenhausen" und anderswo.



Hermeneutiker - 01.07.2009 um 07:58 Uhr

Littell versucht eine archetypische Erklärung des SS-Faschisten anhand der psychoanalytischen Theorie von Klaus Theweleit ("Männerphantasien"). Tatsächlich wird daraus aber eine mythische Deutung: die unabänderliche Verknüpfung von Zeugung, Geburt, Opferung und Tod. Und zwar - im Faschismus - auf eine extrem archaisch-primitive gewaltsame Art und Weise. Stichwort: Die in den "Wohlgesinnten" beschriebene Erektion/Ejakulation der Erhängten bzw. überhaupt der in dem Roman immer wieder aufgerufene bildliche Zusammenhang von Sperma, (Blut) und Tod. Übrigens ist vor kurzem David Carradine eben diesem Phänomen zum Opfer gefallen, nur umgekehrt. Er wollte die ultimative Ejakulation und hat sich dabei stranguliert.



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