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--- A. L. Kennedy - Paradies

nibrir - 24.11.2008 um 17:59 Uhr

»Was voll ist, wird geleert werden.« - Ja, dieser Satz ist wohl so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt, um den alles kreist: »Paradies« ist nicht nur ein erschütternder Roman über ein Leben im Alkohol, sondern gleichzeitig etwas noch viel Größeres von derartiger (Wort)Kraft, dass es einen umwirft.

Kennedy erzählt in erster Linie Hannahs Geschichte: Die Mittdreißigerin ist seit der Schulzeit dem Alkohol verfallen und wacht eines Morgens in irgendeinem Hotelzimmer auf, mit einer ganzen Menge Restalkohol im Blut und nur sehr bruchstückhaften Erinnerungen an die letzte Nacht. Nach und nach kehren die Einzelheiten zurück, und Hannahs Gedanken machen sich auf die Reise – zu ihrem geliebten Bruder und dessen Frau, die sich um Hannah kümmern, zu ihren Eltern, die Hannah am liebsten nie mehr wieder sehen würden, weil die Tochter der Mutter- und Vaterliebe nicht genügen kann und mehr zerstört, als es ihr lieb ist.
Hannah erzählt von der Zeit in der Ausnüchterungsklinik, aus der sie geflohen ist – und sie erzählt von Robert, dem Zahnarzt, von dem man nie so recht weiß, ob er nun Hannahs Rettung oder ihr endgültiges Verderben bedeutet: Eine rücksichtslose Zuneigung zueinander und der Alkohol lassen die beiden nicht voneinander loskommen.

So enden viele meiner Geschichten, sie versanden einfach in immer längeren Aufzählungen, und ich merke, dass ich viel zu oft oder sage und denke, dass ein Leben voller Möglichkeiten in mancher Hinsicht nicht immer nur erfreulich ist.

Hannah ist keine typische Trinkerin, sondern vielmehr eine bissige, intelligente und vermutlich auch nicht unattraktive Frau, deren Gedanken die meiste Zeit über bestechend frei sind. A. L. Kennedy nimmt diese Gedanken und lässt sie umherwirbeln, sät grundexistenzielle Wahrheiten, und zwar stellenweise mit einer Brutalität, der man sich nicht in den Weg zu stellen wagt: Während Hannah auf Händen und Knien darum kämpft, ihr Leben nicht völlig aus den Augen zu verlieren, brennt die Autorin ein regelrechtes menschliches Feuerwerk ab und rührt dabei immer wieder an unserer aller Grundwerte.
Funken sprüht auch die Sprache: Virtuos und mit einer bewundernswerten Mischung aus trockenem Realitätssinn, bitterstem Humor und beinahe zerbrechlicher Poesie wird da erzählt und geschildert, die Beschreibungen sind unglaublich facettenreich und lassen die Worte sich zu regelrechten Sprachgranaten entladen.
Jede einzelne Seite ist ein hochgradig sinnliches Erlebnis.

»Wir sind im Krieg?«
Und du kannst dir nicht vorstellen, wie etwas so Großes sich unbemerkt ereignen konnte, ein ganzer Krieg ohne dein Wissen, und deine Nachbarin reicht dir ihre Zeitung, schaut dich an, als wärst du tot und leer, und du kannst die Schrift und die Bilder nicht sehen, weil sie sich bewegen, dich farbenblind, stockblind machen, und nichts in der Kabine ist mehr sicher, und alles riecht nach Bomben, und du gleitest in ein ruheloses Dunkel, wo du schwebend treibst, wo du nackt wie die Sünde bist, unter dir ist nichts als heiße, feuchte Erde, kein Zeichen menschlicher Vergangenheit außer diesem Schlachthausgestank, der dich einfängt, dich sinken lässt, dich hinüberzieht, bis du ihn berührst, bis du über klebrig glitschigen roten Schlamm rutschst, und hier und dort zuckt er unter dir, und das hat etwas zu bedeuten, du begreifst es – dass die Toten nach oben treten, dass sie sich deiner erinnern, dich hören, schmecken, dass du da bist. Sie wollen dich dirt unten haben. Sie wollen dich bei sich begraben haben.




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