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-- Rezensionen II
--- Sehnsucht nach Liebe
Sabine Marya - 07.11.2008 um 15:15 Uhr
Sehnsucht nach Liebe – Endstation Bahnhof Zoo
Von Jörg S.
Lumen- Verlag
Gelesen von Sabine Marya
Das Buch „Sehnsucht nach Liebe“ gliedert sich in 3 Teile: der persönlichen Geschichte des Autors, Texten und Gedichten sowie zum Abschluss Antwortschreiben von zwei zuständigen Bundesministern und dem regierenden Bürgermeister von Berlin.
Im 1. Teil erzählt Jörg S. gefühlsbetont und schonungslos offen seinen Weg bis zu seinem 16. Lebensjahr. Vernachlässigt von der alkoholkranken Mutter, die das Kleinkind Jörg fast verhungern ließ, kommt er nach einem halben Jahr Heinaufenthalt mit 3 Jahren zum Vater, der ihm jedoch nur materielle Zuwendung und Schläge gibt. Verlassen, seelisch gequält und voller Sehnsucht nach Liebe landet der 14jährige Junge schließlich auf dem berüchtigten Jungenstrich am Bahnhof Zoo in Berlin. Schockierend gewährt der Autor Einblick in eine Welt, abseits der Vorstellungen, in der sich Kinder prostituieren, für Geld und für ein bisschen Zuwendung, die sie manchmal vorher von den Freiern bekommen. Mit deutlicher Sprache erzählt der Autor, was Freier dem Kind Jörg antaten und von ihm verlangten und wie die verletzte Kinderseele reagiert auf diese Form der sexuellen Gewalt. Zwei Jahre lang, von seinem 14.- 16. Lebensjahr, bietet Jörg sich den Freiern an und flüchtet sich zu Hause in eine kindliche Phantasiewelt. Im Gegensatz zu seiner Schwester, die im Drogensumpf landet bis zu ihrem Tod, hat Jörg nicht nur das Glück, nicht auch in diese Drogenszene abzurutschen oder sich eine Krankheit von einem der Freier zu holen, sondern es gelingt ihm auch, aus der Kinderprostitution wieder auszusteigen.
Doch eine solche Kindheit und Jugend gehen nicht spurlos an einem Menschen vorbei, wie die Gedichte und Texte im 2. Teil des Buches deutlich zum Ausdruck bringen. Berührend und aufrüttelnd schreit hier eine verletzte Seele auf. Flashbacks mit Erinnerungen und Gefühlen einer vergangenen Zeit werden hier genau so benannt wie der Vorwurf an die Freier, die eine Kinderseele zerstörten, um ihre eigenen kranken Triebe zu befriedigen.
Kein Kind prostituiert sich freiwillig, auch wenn es von niemandem mit Gewalt auf den Strich gezwungen wird, dies stellt der Autor im ersten und zweiten Teil sehr deutlich klar. „Viele Tränen werden zwischen den Zeilen schwimmen“, sagt Jörg S. in einem seiner lyrischen Texte.
Jörg S. hat überlebt, eine Kindheit ohne Liebe und diese Zeit als Strichjunge. Mit diesem Buch bricht der Autor nicht nur sein Schweigen als Betroffener, sondern er fordert auch engagiert eine Veränderung im Umgang mit Sexualstraftätern und bessere Hilfen für betroffene Kinder.
Im 3. Teil macht der Autor deutlich, wie mangelhaft unser Rechtssystem funktioniert.
„Sehnsucht nach Liebe“ ist ein sehr mutiges Buch, das aufrüttelt und bewegt und gleichzeitig ein weiterer wichtiger Baustein ist im öffentlichen Kampf gegen Kindesmissbrauch und Kinderprostitution.
Für Überlebende sexueller Gewalt ist dieses Buch wegen der Trigger im 1. Teil nur bedingt lesbar, so lange sie noch selber von Flashbacks überrollt werden. Der Verlag weist darauf hin, dass dieses Buch für Jugendliche unter 14 Jahren nicht empfehlenswert ist, dem schließe ich mich an.
Ich hätte diesem Buch ein besseres Lektorat gewünscht, auch vom Layout her, doch viel wichtiger ist das Ziel dieses Buches: aufklären, aufdecken und warnen – und das erfüllt es ganz sicher.
Es gibt nur wenige Menschen in Deutschland, die sich dieser Herausforderung stellen können, so ehrlich ihre Geschichte zu erzählen und die Folgen einer solchen Vergangenheit deutlich zu machen.
Meine Hochachtung für den Mut und das Engagement von Jörg S.!
Mit allen guten Wünschen für den Autor und sein mutiges Buch,
Sabine Marya
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