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-- Rezensionen
--- Max Frisch - Stiller

Hermes - 11.07.2008 um 20:42 Uhr

Was ist nur mit diesem Roman, dass er mich so fasziniert (ich verschlinge sogar schon Kommentare der hauptamtlichen Damen und Herren Literaturkritiker!)?
Das blaue(hellblaue?), untersetzte und etwas abgegriffene Suhrkamp-Taschenbuch liegt nun wieder einmal vor mir; die vierhundertfünfzig Seiten – von der Seite betrachtet – schon mittelprächtig vergilbt: Kein Wunder – an ein Taschenbuch gehen zwanzig Jahre nicht spurlos vorüber, obwohl natürlich stets schonend behandelt (ich habe kein Verständnis, wenn die Leute – der Bequemlichkeit halber – ihre Taschenbücher beim Lesen in der Mitte umbiegen und das widerstrebende Papier in unnatürlicher Weise mit ihren Pranken klammern…).
Ich muss zugeben: Ich mag das Buch, d.h. sein Äußeres und seinen für Bücher dieses Alters typischen Papiergeruch.
Aber das Beste ist natürlich nach all diesen doch nicht unerheblichen Nebensächlichkeiten sein Inhalt:
Mit dem Motto von Sören Kierkegaard, unter das Frisch seinen Roman gesetzt hat, habe ich mich immer schwer getan: Die Sprache dieser Philosophen ist so beneidenswert (bemitleidenswert?) abstrakt und doch ohne Fremdworte (!).
Stiller, dieser für unsere Generation der Karriere machenden, Krawatte tragenden, täglichen „meetenden“ Jungmanagern vermutlich vollkommen idiotische Versager wird für dieselben auf immer verschlossen bleiben. Man hat einfach keine Zeit für solche [Zensiert], Nichtsnutze…wie Stillers Rechtsanwalt (Rechtsanwalt ist geradezu grotesk!), der der von Frisch angeprangerten Scheinwelt der Verlogenen angehört…
Aber weiter: Stiller hält sich ja selbst für einen Versager, also muss es doch wohl stimmen! Hat’s nicht geschafft, seine Porzellanpuppe umzustricken (sie quälen sich beim bloßen Beieinandersein; Julika fragt dauernd: „Was will dieser Mann von mir?“). Dann die Sache mit dem Spanischen Bürgerkrieg – damals, am Tajo: Wieso kann er nicht damit fertig werden? frage ich mich!
Aber: Seine Skulpturen will auch kein Mensch kaufen! Das kann ich schon eher nachvollziehen… Letztendlich steht aber für mich fest: Julika, die Kalte, macht ihn zum Emigranten.
Über seine Zeit in Amerika erfahren wir in kurzweiligen, nach Interpretation schreienden Anekdötchen…: Jim & Jim insbesondere (die Höhlengeschichte), und Florence, die Geschichte von der schönen Mulattin mit den ewigen Stöckelschuhen. Und in der Florence-Geschichte hören wir auch von Stillers Katzen-Antipathie. Manchmal erblickt er in der Katze (ihr Name war „Little Grey“) Julika – vielleicht versucht er deshalb, sie (die Katze) umzubringen…
Es gibt in Amerika kein Vergessen, kein Verarbeiten des bisherigen Lebens für Stiller, also mündet man in einem erfolglosen Selbstmordversuch – und jetzt geschieht es: Er sagt sich: Entweder „falscher“ Tod (weil künstlich herbeigeführt) oder, und dieser Fall tritt ein: Weiterleben, neu anfangen und irgendwann natürlicher Tod!
Er kehrt zurück nach Europa, in die enge Schweiz, und hat subjektiv eine neue Identität angenommen: Das kann und will die Gesellschaft nicht hinnehmen, kennt man den Heimkehrer doch als den ehemals Verschollenen!
Aber: Er kehrt doch zurück, weil er von Julika nicht loskommt, von der „Hassliebe ihrer beider Leben“, weil er, Stiller-White, noch einmal dem Versuch erliegt, sie nach seinen Maßstäben ändern zu wollen: Sie, die Unnahbare, Frigide, Zerbrechliche, Willensstärkere…
Es wird ihm schwer gemacht, von vorn zu beginnen: Die Mitglieder der Gesellschaft, drängen ihn immer weiter in die Rolle Stillers zurück; er hat keine Chance – sie inhaftieren ihn, bis er wieder Stiller zu sein hat… Per Gerichtsurteil wird White zum Stiller, von ihm selbst freilich weiter geleugnet, jedoch: Wozu das alles?
Die Aufzeichnungen Stiller-Whites im Gefängnis sind zu Ende. Im Nachwort Rolfs, des Staatsanwaltes, des Freundes, des ehemaligen Nebenbuhlers (Welche Zufälle, denkt man, welche Grotesken!), erfährt man, wie es mit Stiller und seiner Rühr-mich-nicht-an-Julika weitergeht: Sie ziehen in ein altes Bauerngehöft am Genfer See – und: Wenigstens teilweiser Fortschritt wird erkennbar: Stiller betätigt sich als Töpfer, nachdem seine Bildhauerei nichts einbringt. Mit Julika hingegen bleibt alles beim Alten. Als Rolf, der Staatsanwalt, auftaucht und sich in eines der wenigen Gespräche mit ihr vertieft, stellt sie erneut die alte Frage: „Was will dieser Mann nur von mir?“
Als Julikas ewiges Lungenleiden kritische Formen annimmt und sie ins Krankenhaus aufgenommen wird, beginnt Stillers endgültiger Befreiungsakt von ihr – so paradox es klingt: Als sie stirbt, hat Stiller sich von ihr gelöst und es gelingt ihm sogar, alleine in Glion am Genfer See zu leben.
Trotzdem kann von einem „Happy End“ keine Rede sein. Der Schluss kommt unvermittelt, schnell und karg formuliert. Man bedauert es, sich nun trennen zu müssen von dem Charakter, in den man sich – wie ich finde – so intensiv versetzt hat und den Frisch so überzeugend dargestellt hat. Es ist, als könne man nach Montreux fahren, Glion suchen und dort einen zufälligen Passanten nach Stiller fragen, und schon wies der Gefragte auf ein einzeln stehendes, am Hang über dem Ufer des Genfer Sees liegendes Gehöft, das von Unkraut und hohem Gesträuch umwuchert, von diesem bewohnt würde…
Einmal sagt Julika: „Stiller“ wäre sein Spitzname, da er ein so ruhiger Zeitgenosse sei…“ oder so ähnlich. Leider habe ich mir die Stelle nicht gemerkt…




almebo - 11.07.2008 um 23:16 Uhr

Ja Hermes Du hast Recht. Stiller hält sich für einen Versager. Konstituierend für seine Persönlichkeit
ist das selbstempfundene Versagen. Als Freiwilliger
im spanischen Bürgerkrieg zeigte er sich außer
Stande, einen Menschen zu erschießen. Gegen das Gefühl des Versagens ankämpfend, machte er später die Beziehung zu seiner Frau Julika zu einer neuen Bewährungsprobe. Vergeblich wollte Stiller seine Frau aus ihrer kühlen Distanziertheit lösen und mehr Nähe schaffen. Trotz immer wieder auftauchenden Irritationen wird im Verlauf der Lektüre klar, dass White mit Stiller identisch ist, sich aber subjektiv als ein anderer fühlt. Nach seinem Weggang aus der Schweiz nach Amerika und einem gescheiterten Selbstmordversuch, hatte er sich deshalb zur Annahme einer neuen Identität entschlossen.-

Dieser Buchtitel wurde m.E. schon einmal hier behandelt. Ich jedenfalls kann mich noch gut
daran erinnern, als ich dieses Buch in den
50 er Jahren 54/55 in meiner ersten Ausbildung
bei der bayer. BEPO in Fürstenfeldbruck las und
davon begeistert war. Nur mein damaliges Salair
war so mickrig, dass ich mir jedes Buch (ABO)
beim Verlag vom Munde absparen mussste.


Gruss

Al




LX.C - 11.07.2008 um 23:17 Uhr

Hattest du den Stiller nicht schon mal rezensiert?
Hatte das Buch schon oft in der Hand und doch immer wieder weggelegt.
Aber die Rezension hört sich interessant an.




Hermes - 11.07.2008 um 23:36 Uhr

Diese Nachricht wurde von Hermes um 23:41:33 am 11.07.2008 editiert

Zitat:


Dieser Buchtitel wurde m.E. schon einmal hier behandelt.

Recht habt ihr, Al und LX.C.
Die Abhandlung ist auch unter "Rezensionen / Moderne Klassiker" abrufbar. Jedoch war mir vor einigen Tagen aufgefallen, daß sie leider aus unerfindlichen Gründen aus dem Forum "herausgefallen" ist, was umso bedauerlicher ist, als es dort bereits einige Reaktionen anderer Leser auf meinen Kommentar gegeben hatte, die nun natürlich verloren sind.

Zitat:

Ich jedenfalls kann mich noch gut
daran erinnern, als ich dieses Buch in den
50 er Jahren 54/55 in meiner ersten Ausbildung
bei der bayer. BEPO in Fürstenfeldbruck las und
davon begeistert war. Nur mein damaliges Salair
war so mickrig, dass ich mir jedes Buch (ABO)
beim Verlag vom Munde absparen mussste.


Gruss

Al

Das wiederum finde ich sehr interessant. 1954 war das Erscheinungsjahr von "Stiller", und Frisch´s erster Roman aus der "Identitätstrilogie": "Stiller", "Homo Faber" und "Gantenbein", die mir alle sehr zusagen (keiner der beiden anderen jedoch so wie "Stiller"). Heutzutage würde mich sehr interessieren, wie die Reaktionen auf dieses Buch damals waren. Frisch war ja immerhin noch ein relativ unbekannter Autor zu jener Zeit.

Ich habe den "Stiller" im Jahr 1984 zum ersten Mal gelesen, einerseits dazu inspiriert durch die Schullektüre des "Homo Faber", der mir sehr gefallen hatte - was (als Schullektüre) durchaus als Seltenheit erwogen werden kann, andererseits durch eine junge Dame gleichen Namens, der ich damals (leider) nur entfernt bekannt war.

Zitat:

Hatte das Buch schon oft in der Hand und doch immer wieder weggelegt.
Aber die Rezension hört sich interessant an.

Das Werk ist nicht jedermanns Sache. Habe schon mehrfach versucht, es anderen ans Herz zu legen, ganz einfach deshalb, um mit ihm/ihr nachher darüber diskutieren zu können...Leider haben dieselben es (bisher) nicht fertig gebracht, es zu Ende zu lesen bzw. eine ähnliche Vorliebe zu entwickeln wie ich. Ich kann Dir die Lektüre nur sehr empfehlen, noch dazu, wenn Dir die Rezension schon zusagte.




Gast873 - 12.07.2008 um 00:19 Uhr

@erster satz ganz oben:

die germanisten sind nicht die schlechtesten literaturinterpreten, sie unterscheiden sich nur vom hobbyleser durch den blick für das ganze.

@stiller

die zauberberg-episode zeugt vom intertextuellen wissen und können des autors. außerdem von psychologischen und mythologischen kenntnissen im gesamten roman.




almebo - 12.07.2008 um 21:53 Uhr

Zitat:

Hattest du den Stiller nicht schon mal rezensiert?
Hatte das Buch schon oft in der Hand und doch immer wieder weggelegt.
Aber die Rezension hört sich interessant an.


Ja ich hatte zu dem Buchtitel auch etwas beigetragen, kann es aber ebenfalls nicht mehr ausfindig machen.,

Gruss

AL




Hermes - 12.07.2008 um 23:07 Uhr

Zitat:


Ja ich hatte zu dem Buchtitel auch etwas beigetragen, kann es aber ebenfalls nicht mehr ausfindig machen.,

Gruss

AL

Das allerdings würde mich interessieren.




aristide - 20.07.2009 um 18:44 Uhr

Zitat:

Was ist nur mit diesem Roman, dass er mich so fasziniert (ich verschlinge sogar schon Kommentare der hauptamtlichen Damen und Herren Literaturkritiker!)?
Das blaue(hellblaue?), untersetzte und etwas abgegriffene Suhrkamp-Taschenbuch liegt nun wieder einmal vor mir; die vierhundertfünfzig Seiten – von der Seite betrachtet – schon mittelprächtig vergilbt: Kein Wunder – an ein Taschenbuch gehen zwanzig Jahre nicht spurlos vorüber, obwohl natürlich stets schonend behandelt (ich habe kein Verständnis, wenn die Leute – der Bequemlichkeit halber – ihre Taschenbücher beim Lesen in der Mitte umbiegen und das widerstrebende Papier in unnatürlicher Weise mit ihren Pranken klammern…).
Ich muss zugeben: Ich mag das Buch, d.h. sein Äußeres und seinen für Bücher dieses Alters typischen Papiergeruch.
Aber das Beste ist natürlich nach all diesen doch nicht unerheblichen Nebensächlichkeiten sein Inhalt:
Mit dem Motto von Sören Kierkegaard, unter das Frisch seinen Roman gesetzt hat, habe ich mich immer schwer getan: Die Sprache dieser Philosophen ist so beneidenswert (bemitleidenswert?) abstrakt und doch ohne Fremdworte (!).
Stiller, dieser für unsere Generation der Karriere machenden, Krawatte tragenden, täglichen „meetenden“ Jungmanagern vermutlich vollkommen idiotische Versager wird für dieselben auf immer verschlossen bleiben. Man hat einfach keine Zeit für solche [Zensiert], Nichtsnutze…wie Stillers Rechtsanwalt (Rechtsanwalt ist geradezu grotesk!), der der von Frisch angeprangerten Scheinwelt der Verlogenen angehört…
Aber weiter: Stiller hält sich ja selbst für einen Versager, also muss es doch wohl stimmen! Hat’s nicht geschafft, seine Porzellanpuppe umzustricken (sie quälen sich beim bloßen Beieinandersein; Julika fragt dauernd: „Was will dieser Mann von mir?“). Dann die Sache mit dem Spanischen Bürgerkrieg – damals, am Tajo: Wieso kann er nicht damit fertig werden? frage ich mich!
Aber: Seine Skulpturen will auch kein Mensch kaufen! Das kann ich schon eher nachvollziehen… Letztendlich steht aber für mich fest: Julika, die Kalte, macht ihn zum Emigranten.
Über seine Zeit in Amerika erfahren wir in kurzweiligen, nach Interpretation schreienden Anekdötchen…: Jim & Jim insbesondere (die Höhlengeschichte), und Florence, die Geschichte von der schönen Mulattin mit den ewigen Stöckelschuhen. Und in der Florence-Geschichte hören wir auch von Stillers Katzen-Antipathie. Manchmal erblickt er in der Katze (ihr Name war „Little Grey“) Julika – vielleicht versucht er deshalb, sie (die Katze) umzubringen…
Es gibt in Amerika kein Vergessen, kein Verarbeiten des bisherigen Lebens für Stiller, also mündet man in einem erfolglosen Selbstmordversuch – und jetzt geschieht es: Er sagt sich: Entweder „falscher“ Tod (weil künstlich herbeigeführt) oder, und dieser Fall tritt ein: Weiterleben, neu anfangen und irgendwann natürlicher Tod!
Er kehrt zurück nach Europa, in die enge Schweiz, und hat subjektiv eine neue Identität angenommen: Das kann und will die Gesellschaft nicht hinnehmen, kennt man den Heimkehrer doch als den ehemals Verschollenen!
Aber: Er kehrt doch zurück, weil er von Julika nicht loskommt, von der „Hassliebe ihrer beider Leben“, weil er, Stiller-White, noch einmal dem Versuch erliegt, sie nach seinen Maßstäben ändern zu wollen: Sie, die Unnahbare, Frigide, Zerbrechliche, Willensstärkere…
Es wird ihm schwer gemacht, von vorn zu beginnen: Die Mitglieder der Gesellschaft, drängen ihn immer weiter in die Rolle Stillers zurück; er hat keine Chance – sie inhaftieren ihn, bis er wieder Stiller zu sein hat… Per Gerichtsurteil wird White zum Stiller, von ihm selbst freilich weiter geleugnet, jedoch: Wozu das alles?
Die Aufzeichnungen Stiller-Whites im Gefängnis sind zu Ende. Im Nachwort Rolfs, des Staatsanwaltes, des Freundes, des ehemaligen Nebenbuhlers (Welche Zufälle, denkt man, welche Grotesken!), erfährt man, wie es mit Stiller und seiner Rühr-mich-nicht-an-Julika weitergeht: Sie ziehen in ein altes Bauerngehöft am Genfer See – und: Wenigstens teilweiser Fortschritt wird erkennbar: Stiller betätigt sich als Töpfer, nachdem seine Bildhauerei nichts einbringt. Mit Julika hingegen bleibt alles beim Alten. Als Rolf, der Staatsanwalt, auftaucht und sich in eines der wenigen Gespräche mit ihr vertieft, stellt sie erneut die alte Frage: „Was will dieser Mann nur von mir?“
Als Julikas ewiges Lungenleiden kritische Formen annimmt und sie ins Krankenhaus aufgenommen wird, beginnt Stillers endgültiger Befreiungsakt von ihr – so paradox es klingt: Als sie stirbt, hat Stiller sich von ihr gelöst und es gelingt ihm sogar, alleine in Glion am Genfer See zu leben.
Trotzdem kann von einem „Happy End“ keine Rede sein. Der Schluss kommt unvermittelt, schnell und karg formuliert. Man bedauert es, sich nun trennen zu müssen von dem Charakter, in den man sich – wie ich finde – so intensiv versetzt hat und den Frisch so überzeugend dargestellt hat. Es ist, als könne man nach Montreux fahren, Glion suchen und dort einen zufälligen Passanten nach Stiller fragen, und schon wies der Gefragte auf ein einzeln stehendes, am Hang über dem Ufer des Genfer Sees liegendes Gehöft, das von Unkraut und hohem Gesträuch umwuchert, von diesem bewohnt würde…
Einmal sagt Julika: „Stiller“ wäre sein Spitzname, da er ein so ruhiger Zeitgenosse sei…“ oder so ähnlich. Leider habe ich mir die Stelle nicht gemerkt…




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