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--- Raymond Queneau - Stilübungen

Schreiber - 17.12.2007 um 19:39 Uhr

VARIATIONEN DES SCHREIBENS UND LESENS UND WEITERSCHREIBENS
Raymond Queneau, Stilübungen
(Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2007) 172 S., € 12,80
Sechzig Jahre nach dem ersten Erscheinen der Originalausgabe der ´Exercises de Style´ von Raymond Queneau (1903 - 1976) kommt nun die soundsovielte deutsche Neuauflage immer noch in der Übersetzung Ludwig Harig und Eugen Helmlé in den Handel. Harig bemerkt in seinem Nachwort: "Die Übersetzung der Exercises de style war ein Drahtseilakt: Queneau turnte ihn uns vor, wie es einst nur Till Eulenspiegel zustande gebracht hat." Und Harig führt den Vergleich fort, daß nämlich Queneau - wie Eulenspiegel, der den Zuschauern ihre linken Schuhe, die er sich vorher erbeten hatte, auf die Straße warf - seine "linken Wörter" den Lesern vor die verdutzten Köpfe wirft, "damit sie mit Hilfe der rechten Bedeutung eine passende Geschichte zusammenbringen."
Die zugrundeliegende Handlung ist denkbar banal: ein beobachtendes Ich sieht zweimal einen Fremden im abstand von zwei Stunden - einmal im Bus, wo er einen Sitzplatz ergattert, dann auf einem freien Platz mit einem Bekannten. Und diese Geschichte erzählt Queneau noch 98 mal in sprachlich unterschiedlichen Variationen. Hans Magnus Enzensberger vermutet in seiner Vorbemerkung zur ersten deutschen Übersetzung (1961), daß hier die Gültigkeit von Erfahrung bzw. Wahrnehmung angezweifelt werde. So scheint es Queneau um die eher philosophische Frage zu gehen, ob es eine richtige eindeutige Wahrnehmung gebe. Einen Gedanken Gottfried Benns (Marburger Rede, 1951) aufnehmend, könnte es sich nach Enzensberger aber auch eher um ein ästhetisches Problem handeln: Benn sprach vom "Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte, sich selbst als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden" - Benn sprach gar von einer "Transzendenz der schöpferischen Lust." Daß in solchem Zusammenhang die Übersetzung ein perpetuierendes Risiko war, muß wohl kaum noch erwähnt werden.
Im Jahr 1961 erschien ein Gedichtband mit dem Titel ´Cent mille milliards de poèmes´ - freilich handelt es sich dabei um potentielle Sonette, die durch mathematisch errechenbare mögliche Kombinationen entstehen würden. Verglichen damit hat es dieser surrealistische Dichter, Philosoph, Mathematiker und Verkünder der Pataphysik im vorliegenden Buch doch noch recht gnädig mit dem Leser gemeint. Die unterschiedlichen Variationen bieten beispielsweise eine ´Verdoppelung´ ("Ich sah und bemerkte einen jungen Mann und alten Jüngling"), eine Erzählweise ´Rückwärts´ oder als ´Traum´, als ´Vorhersage´ oder ´Wortschnitzeljagd´. Auffällig etwa auch der Text mit Zahlenangaben ´Genauigkeiten´ ("ein 27 Jahre, 3 Monate und 8 Tage altes, 1,72 m großes und 65 kg schweres Individuum") oder die ´Negativitäten´, wo erklärt wird, worum es sich nicht handelt. Witzig etwa das ´Homöotelenton´ ("Der wohlbestallte Autobus stand an der Halte. Ein junger Balte krawallte, denn der Alte prallte an seine gebügelte Falte"), eher schon albern die ´Lautmalereien´ ("Es war um die Mittagszeit bimbambum, bimbambum"). Anspruchsvoller das Ganze als ´Alexandriner´, spielerisch die Varianten ´Aphäresis´ ("nen tobus ler gäste. merkte nen gen schen sen") oder ´Apokope´ ("Er ge in Rase ge ei ande Fahr") - oder auch ´Schwülstig´ oder ´Vulgär´.
Ja, es ist doch wohl die Lust am Sprachspiel, welche hier die Lust am losgelösten Lesen wecken soll. Überdies hat dieses Buch auch schon als Vorlage für Stilübungen in Schreibwerkstätten gedient. Es ist tatsächlich so: im Grunde könnte jeder Leser neue weitere Varianten ergänzen - warum eigentlich nicht?! Nehmen wir die Herausforderung an: lassen wir´s in unseren Köpfen weiterdichten! KS




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