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-- Rezensionen
--- Stendhal - Rot und Schwarz
Schreiber - 11.12.2007 um 21:07 Uhr
RÜHRSELIGER REALIST
Stendhal, Rot und Schwarz
(Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006) 872 S., € 12,50
Selten ist eine Übersetzung so enthusiastisch gelobt worden wie die des (bereits im Jahre 2004 bei Hanser vorgelegten) Romans: "Man weiß nicht, was man an dieser Ausgabe mehr bewundern soll: Elisa-beth Edls kenntnisreichen Kommentarteil oder ihre Übersetzung" (Da-niel Kehlmann) - und selten hat jemand für eine Übersetzung gleich mehrere Preise und Auszeichnungen erhalten (u.a. von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung). Die vorliegende Übersetzung beruht auf der zweibändigen Erstausgabe von 1830, wobei auch frühe-re deutsche Übersetzungen verglichen wurden. Im anhang findet sich übrigens auch Stendhals Selbstrezension von 1832, außerdem sind hier Verständnishilfen für deutsche Leser enthalten "zum werk- und le-bensgeschichtlichen Hintergrund Stendhals sowie zu dem besonders wichtigen geschichtlichen, politischen und sozialen Kontext."
Edl verweist darauf, beim Übersetzen "die unterschiedlichen Stilla-gen" nicht verwischt zu haben, einerseits den "nüchternen, fast kargen Realismus", andererseits der "romantische Überschwang in Dialogen" und in "Szenen mit Frauen". Überdies wurde "der Sprachstand von Stendhals deutschsprachigen Zeitgenossen zugrunde gelegt." Henri-Marie Beyle, wie Stendhal mit bürgerlichem Namen hieß, brachte kurz nach der Revolution und der Manifestation des Machtantritts des Bür-gertums den ersten "realistischen", aktualitätsbezogenen Gesellschafts-roman heraus. Es ist auch eine Kehrtwendung gegen den klassischen Entwicklungsroman, dessen ideologische Basis war, daß das (bürgerli-che) Individuum durch Talent und Leistung seine soziale Position be-stimmt.
Immerhin hat der greise Goethe das Buch noch gekannt und gelobt, obschon eben der Emporkömmling aus der Provinz, Julien Sorel, Sohn eines Sägewerkbesitzers, bei seinem Aufstieg in die höhere Klasse scheitert, weil er von Idealen lebt, die in der Restaurationsepoche ihre Gültigkeit verloren haben. Erziehung besteht nur noch darin, die soziale Mimikry vollkommen zu beherrschen und sie für die eigenen Ziele ein-zusetzen, wobei Mitmenschen nur Instrumente des eigenen Aufstiegs sind. So wie für Stendhal sein Vater die Heuchelei und Verlogenheit des Bürgertums verkörperte, gilt sein Kampf zeitlebens der bornierten Welt der Bourgeoisie. Der Roman ist ebenso modern, wie er an den Sturm-und-Drang (Lenz, Der Hofmeister) erinnert: Sexualität als Mittel der Auflehnung, der Selbstentfaltung und womöglich auch zum gesellschaftlichen Aufstieg. Die Inspiration zu diesem Roman kam von einem Gerichtsprozeß, in dem ein junger Hauslehrer guillotiniert wird, nach dem Mordversuch an der Frau des Hausherrn. Sorel verstrickt sich entsprechend zwischen Liebe (Rouge) und Tod (Noir).
Von seinem Vater als "Bücherwurm" und Tölpel beschimpft und verprügelt, wird der 19jährige Julien im Ersten Buch Hauslehrer beim Bürgermeister Rênal. Julien hat Rousseaus ´Bekenntnisse´ gelesen und das Neue Testament auf Lateinisch auswendig gelernt. Auch ist ihm alles recht, um von zuhause fortzukommen: "Alles, was er hier sah, lähmte seine Phantasie." Der Bürgermeister verspricht, ihm später behilflich zu sein, "eine kleine Stellung zu erlangen" und verweist darauf, "welchen vorteil es hat, in das Haus besserer Leute zu kommen." Als Madame de Rênal ihm Geldgeschenke machen will, reagiert Julien allergisch: "Ich bin von niederer Herkunft Madame, aber ich bin nicht niedrig." Die Frau Bürgermeisterin und der Hauslehrer - da entwickelt sich eine halsbrecherische Liaison - die Frage ist natürlich: ist das nicht eine kitschige soapstory: "In diesem ständigen Wechsel von Liebe, Reue und Lust vergingen ihm die Tage schnell wie der Blitz."
Sorel muß ins Priesterseminar, wo er das Problem bei sich entdeckt, daß er denkt und nicht zum "inbrünstigen und blinden" Glauben fähig ist. Überdies gibt der auktoriale Erzähler noch den kommentar: "Das Glück besteht für diese Seminaristen wie für die Helden in Voltaires Romanen vor allem darin, gut zu essen." Von seinem Abbé Pirard wird er an den Marquis de la Mole als Sekretär empfohlen. Im Zweiten Buch gelangt Sorel dann tatsächlich nach Paris, dem "Zentrum von Intrige und Heuchelei", er findet hier "kalte und stolze Eitelkeit." Eines Tages erhält er "armer Bauer eine Liebeserklärung von einer feinen Dame"! Nämlich Mathilde, der Tochter seines Marquis. Es dauert viele Kapitel, bis die beiden zusammenkommen und Mathilde schließlich ihrem Vater ihre Liebe zu Julien gesteht - statt durch Heirat eine Herzogin zu werden. Der Marquis versucht notgedrungen Julien gesellschaftlich aufzuwerten - schießt auf Madame Rênal, seine eigentliche große tragische Liebe, und kommt ins Gefängnis.
Den folgenden Prozeß versucht Julien gesellschaftspolitisch umzudeuten: sein Verbrechen sei, daß er versucht habe, in die bessere Gesellschaft aufzusteigen, dabei werde er auch nicht von seinesgleichen gerichtet: "Ich sehe auf der Geschworenenbank keinen einzigen reich gewordenen Bauern, sondern nur empörte Bürger." Schließlich wird er zum Tode verurteilt, aber Madame de Rênal erscheint selbst im Gefängnis, verzeiht ihm und reicht seine Berufung weiter. Aber Julien wird enthauptet - und drei Tage später Madame de Rênal ebenso. Wenn das nicht herzergreifend ist?! In seiner unter Pseudonym selbst verfaßten Rezension bemerkt Stendhal: "Dieser Roman ist kein Roman. Alles, was er erzählt, hat sich 1826 in der Gegend von Rennes wirklich ereignet." So hat dieser Roman heute seinen soziologischen, historischen und moralischen Wert - er hat zwar sehr rührselige Passagen, aber dafür wenigstens kein Happyend. KS
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