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-- Prosa
--- Die Obdachlosigkeit der Seele (uuh)

unverwundbar - 06.11.2007 um 11:09 Uhr

An der Wand lehnt einer, der lieber obdachlos ist, als sich in einem Heim verorten zu lassen, vor ihm flaniert eine Taube und er hält sich eine Dose ans Ohr. Er grinst und quiekt in die Dose, als wolle er Kontakt mit der Taube aufnehmen. Als die Taube kommentarlos weiterzieht, schimpft der Obdachlose in die Dose und wirft sie dann der Taube hinterher, die auch dieser spontane Aggressionsausbruch unbeeindruckt lässt. Sie scheint heute keine Audienz geben zu wollen, ich beneide sie für einen Moment. Das ist mein Problem, denke ich, meine ständige Ansprechbarkeit. Vielleicht ist es das Problem aller Menschen, denke ich dann gleichmütig und werfe den Gedanken weg, der Taube hinterher. Die S3 kommt und ich suche die Bahn nach zivilen Kontrolleuren ab. Es fällt mir jedoch niemand auf und ich setze mich nahe der hinteren Tür. Straßenbahnfahren ist für mich ein Akt der Aufreibung geworden, selbst wenn ich zuweilen einen Fahrschein erwerbe, macht die innere Unruhe meinen Blick nervös, der dann jede Haltestelle auf mögliche Kontrollorganismen abklopft und nicht ruhig bleibt, bis ich selbst aussteige, obwohl ich selten weiter als drei Haltestellen fahre. Wenn ich ausgestiegen bin und Glück hatte, wie man leichtfertig zu sagen pflegt, ist es wie nach einem gewonnenen Spiel, welcher Art auch immer: Ich kann mich nicht freuen, kann nicht das so genannte Glück genießen oder wenigstens empfinden, ich bin nur erleichtert und wittere schon das nächste Unglück, während ich meinen Schritt beschleunige; und dann ist es so, dass ich nicht nur dem augenscheinlichen Ort des potenziellen Unglücks entgehen will, sondern auch dem unscheinbaren, dem inneren, der unter meinen Fußsohlen sitzt und, gewissermaßen, dort verortet ist. Das ist das eigentliche Unglück, aber weiter als zu dieser Erkenntnis lässt mich das Furcht machende Moment unter meinen Füßen nicht gehen. Es gaukelt mir eine weitere Dringlichkeit vor und ich harre fortwährend diesem eigentlichen Unglück: dem Fortgehen.

Zuhause lege ich die Zuschriften auf den Küchentisch und rufe ins leere Schlafzimmer: Gehst du die Post durch?, dann gehe ich ins Wohnzimmer und gieße meinen Kaktus. Ich lebe nun seit zwei Jahren in der Annahme, sie sei immer noch da, und seit zwei Jahren öffne ich keine Post mehr. Ich lege jede postalische Zustellung akkurat auf den Küchentisch und vergesse sie dann. Überhaupt vergesse ich seit diesen zwei Jahren alles, das nicht unmittelbar mit ihr zu tun hat, denn seither kommt mir alles albern vor, das nicht unmittelbar mit ihr zu tun hat. Auf meinem Arbeitstisch finde ich eine halbe Schachtel alter Zigaretten, ich entdecke sie, als ich die provisorische Bildungskulisse, die sich die letzten Wochen auf meinem Arbeitstisch stapelt, Buch für Buch ins Regal räume. Ich zünde mir eine an, ich hatte schon vergessen, dass ich rauche, und setze mich an den Computer. Ich habe kürzlich eine Anstellung als Dozent bei einem Bildungsträger, ich sage: zugewiesen bekommen, gleichwohl ich gestehen muss, dass es doch eher ein arbeitsweltlicher Unfall war. Durchaus möchte ich nicht untätig sein, wenn mich die Gesellschaft ruft, will ich mein Männlein stehen. Nun ist es jedoch so, dass ich mich bisher geweigert hatte, Geld für diese Verweigerung der Untätigkeit in Anspruch zu nehmen, und das sorgte für mehr Probleme bei den möglichen Arbeitgebern, als man gemeinhin annehmen mag. Ich will nun die Ursache dieser Verweigerungshaltung nicht erklären, jedenfalls haben der Bildungsträger und ich eine Abmachung getroffen, mit der ich, wie man verklärend zu sagen pflegt, leben kann. Ich bekomme nun zwar ein akzeptables Gehalt, es geht jedoch auf ihr Konto, das ich aufzugeben mich bisher nicht entschließen konnte. Dort bleibt es und ich rühre es nicht an. So genannten Lohn in Anspruch zu nehmen, macht mir das Gefühl, das Geld erleichterte mir ihr Hinscheiden. Diesen Gedanken ertrage ich nicht. Jetzt sitze ich am Computer und erarbeite einen Test für mehr oder weniger arbeitswillige Jugendliche, für die die wirkliche Arbeitswelt, wie ich zu sagen mich manchmal genötigt fühle, keine Verwendung hat. Das Geistleben der Jugendlichen künstlich am Leben zu halten, kommt mir beinahe pervers vor, aber ich habe auch keine Alternative zu offerieren, die die marktwirtschaftliche Verwendungsarmut ins Gegenteil verkehrte. Und so fügen wir, die Jugendlichen und ich, uns in diese (gefühlte) Spirale der Veralberung. Ich veralbere sie mit meinem Test, sie veralbern den Test (also mich) mit ihren Antworten. Und so gewinnt diese Spirale für mich wieder an Sympathie, und wahrscheinlich ist diese (kalkulierte?) Sympathie unser Generator des Wegsehens. Dann habe ich einen depressionsträchtigen Gedanken: Hinsehen macht krank. Meine (systematische) Verweigerungshaltung jedoch veranlasst mich, die sich anbahnende Depression zu negieren. Ich deprimiere mich nicht müde heute Abend, ich rauche und spiele Solitär. Vermutlich verdient dieser allabendliche Ablauf ebenfalls die Bezeichnung Spirale, aber die Gewissheit um meine eigene Verwendungsarmut, die sich nur gelegentlich veralbern lässt, befriedet mich zusehends.




JH - 31.01.2008 um 20:41 Uhr

Genau so läuft doch der Scheiss.
Jeden Morgen, jeden Feierabend, jede Minute daheim. Wenn Du Mathematiklehrer wärst müsstest du das auch noch in Zahlen fassen, wodurch es zwar berechenbar aber dennoch ungreifbar bleibt. Es bleibt das Umwälzen, das des tatsächlichen Körpers während der Schlafllosigkeit, und das der Dinge im Alltag. Damit wir nicht so leer aus(einander)gehen:

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Passende Tracks zu diesem Text:

Bruce Springsteen - Big Payback
- ab der Stelle Ich habe kürzlich eine Anstellung als Dozent bei einem Bildungsträger,

Photek - Deadly Technology
- ab der Stelle Die S3 kommt und ich suche

Aphex Twin - Come 2 Daddy
- ab der Stelle die Jugendlichen und ich




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