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-- Prosa
--- Zeitlebens
mala - 08.07.2007 um 22:38 Uhr
Zeitlebens
Orgelmusik. Die Erinnerung so nahe. Faszinierend und schaurig die Klänge, schreckbesessen die Stimulation.
Der Wunsch nach einem schnellen Ende. Oder ganz allein zu sein, zuhören zu können, zuhören, nur der Musik. Es ist kalt auf diesem heißen Stuhl, fernab denen, mit denen sie sich fast totlebte. Pochen, das Schreie eindämmt. Bloß raus hier, raus.
Eine tiefe Stimme von vorn, die Worte streichen ihre Ohren. Es ist gut so. Dicht sein. Rissiger Panzer in erster Reihe. Ein halbes Leben später, und es ist vorbei. Endlich vorbei.
Mehr oder weniger gute Bekannte, Familie und ein paar fremde Gesichter – alles quetscht sich durch die Tür ins Freie. Ins Freie? Sie atmet nicht wirklich, läuft außer sich an dem Geschehen vorbei - wie an einer Leinwand. Unverfängliche Worte – entweichen sie etwa ihr? Eigene Schritte vermögen sie kaum zu halten. Gemäßigt bleibt die Distanz zu ihrer Familie, orientierungslos, in der Menge.
Diesen Weg wird sie sich auch nicht merken können. Seit über zwanzig Jahren hat sich nichts verändert, nur hier und da Erdhaufen oder -buckel, mit und ohne Stein, mit und ohne Bepflanzung, ein paar Bäume und Büsche. Auch sie schert zwei Male nach rechts aus, wie in einen Winkel, bleibt stehen. Wie die Anderen. Die Senker tun Ihre Pflicht. Ein Blick zur Mutter nur – sieht sie deren Anspannung, genervt scheint sie, als fühle sie sich belästigt durch unangenehmen Besuch. Der Pastor redet noch etwas. Sie kann sich nicht darauf konzentrieren, will doch nicht zulassen, dass die Leere in ihr fast explodiert. Das erste Häufchen Erde schüttet der Geistliche dem Sarg hinterher, geht zurück, nickt der Alten zu, faltet seine Hände und lässt sie über seinem Talar in Schritthöhe sinken, andächtig. Wie oft pro Monat steht er so da?
Sie sieht sie den Spaten nehmen, ihre Augen huschen kurz weg - ob jemand ihre Gedanken liest oder etwa dieselben hat? Wie aus Holz die Hand der Alten, vereint mit dem Stiel der Schaufel. Das Gesicht zusammengerissen. So gezieme es sich. Haltung. Beleidigt schauend ob etwaiger Kontrolle von Außen, sonst keine nennenswerte Regung.
Gestern auf der Herfahrt mischte sich ihre Verachtung gegenüber der Mutter noch mit Mitleid, heute schnüren ihr zusätzlich Wut und Scham den Hals zu. Fragte man sie, wie sie sich fühle, würde sie sagen: wie das kleine Mädchen, dass unter Widerwillen Spinat in den Mund gestoßen bekam, ihn kurz später über den Tisch kotzte.
Ihr Unterkiefer verspannt, ihre Unterlippe drückt die obere hoch, ihre Nasenflügel, Mundwinkel, alles zuckt, Luftnot macht sich breit, für Momente erweicht sich der Boden. Warum sieht sie zu?
Die Brüder gehen vor, erstaunlich, wie sie das managen. Anständig wirken sie. Sie kann kaum glauben, dass sie dazu gehört. Und schon ist sie dran. sie kann nicht sofort hinterher wie am Schnürchen oder auf Kommando, zwingt sich zur Funktion. Jeden Blick zu den Umstehenden meidend - die Hand um den Rosenstiel ist mittlerweile schweißig, hofft sie, nicht zu sehr zu wanken auf dem Weg. Auf dem Weg vor´s große Loch.
Der Sarg wäre in seiner Form und Größe gar nicht nötig gewesen, er ist ja gar nicht mehr am Stück darin. Täuschung, Schöngaukelei.
Während sie hinuntersieht und froh ist, dass die Holzverpackung die brüderlichen Reste kaschiert, weiß sie: Nichts. Nichts konnte sie, nichts kann sie tun.
Der Mund berührt die Blüte, sie hört noch das leise, dumpfe Aufkommen der Blume auf dem Holz. Nie wieder. Das ist ganz was anderes als vorläufig oder auf unbestimmte Zeit. Sie schluckt gegen diesen Kloß an.
Friedhöfe sind das Letzte, wo sie sich aufhalten will.
Alles aufgesetzt, lauter Statisten, die da stehen. So gehört es sich.
Sie hasst diese ganze Stadt. Hasst Gehabe und alle diese beschissenen schaulustigen [Zensiert]löcher. Und der Hass frisst sie auf.
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