- versalia.de
-- Literaturgeschichte & -theorie
--- lyrik im unterricht

kalypso - 01.07.2007 um 00:12 Uhr

hab mich kürzlich fast persönlich beleidigt gefühlt, als in englisch auf einmal ein gedicht von byron auf dem overhead-projektor lag, an dem ich mich enst ieiner schönen sentimentalischen nacht inbrünstig verschmachtet hatte, und dann plötzlich sagen musste, ist das jetzt ein daktylus oder ein anapäst? und wenn einem die schulbuchgesetzliche gedankliche zäsur entgeht, tja, themaverfehlung, pech gehabt, punktum.
hab auch gehört, dass schön öfters von offizieller seite infrage gestellt wurde, ob lyrik und schule so gut kompatibel sind, von wegen "zu wenig griffig" usw....
was meint ihr? ich pers. glaube nicht, dass man sich allgemeinbildung nur in der schule erwerben kann, im gegenteil, sobald sowas (gilt auch für literatur allgemein) den tünch der pflicht bekommt, ist es meistens aus mit den geheimnisvollen verlockungen,...
naja, bin gespannt..
kalypso




LX.C - 01.07.2007 um 18:01 Uhr

Und ich bin der Meinung, dass, wenn nicht wenigstens noch die Schule wäre, sich manche überhaupt keine Allgemeinbildung mehr aneignen würden.



Gast873 - 01.07.2007 um 19:33 Uhr

Diese Nachricht wurde von Hyperion um 19:55:44 am 01.07.2007 editiert

Diese Nachricht wurde von Hyperion um 19:37:57 am 01.07.2007 editiert


Es ist enorm wichtig zu wissen, was ein Daktylus ist!

Viele hören sich die Texte von Eco (der selbsternannte König von Deutschland) oder von Sido an und meinen sie dürfen diese wie sich selbst ebenfalls Künstler nennen. Diese Militärgewehrmarschmusik hat überhaupt nichts mit Rhythmus, Metrum, Prosodie, Alliteration usw. zu tun. Brutal das Thema verfehlt, wenn Du zu glauben vermeinst, irgendeinen literarischen Anspruch mit dem "Gedichterlebnis", das Du, Malerin (toller Name) beschreibst und beschwörst, mit echter Lyrik, wie der Lord Byrons, zu vertauschen.

Von autodidaktischen, blind aktionistischen und im Leeren stochernden Gedichtmaßnahmen halte ich gar NICHTS.

Gruß
Hyperion




LX.C - 01.07.2007 um 19:45 Uhr

[Quote]Es ist enorm wichtig zu wissen, was ein Daktylus ist![/Quote]

LOL :-) Ehrlich?

Na dann für alle: Hebung zu Beginn der Zeile, auf die eine zweisilbige Senkung folgt
:-P




Gast873 - 01.07.2007 um 19:47 Uhr

O.K. und was ist ein Distichon? ALLE Hölderlin-und Schiller-Liebhaber MÜSSEN es wissen! Kategorischer Imperativ der Lyrik quasi.

Gruß
Hyperion




LX.C - 01.07.2007 um 20:04 Uhr

Bin zwar kein Hölderlin- und auch kein Schiller-Liebhaber. Aber wenn dus unbedingt wissen willst, schreib ichs dir trotzdem :-P

Zweizeilige Strophe, die sich aus einem Hexameter und einem Pentameter zusammensetzt.

:-) nich übel nehmen. Bin heut n bissel übermütig ;-)




Gast873 - 01.07.2007 um 20:13 Uhr

Nein, im Gegenteil, lieber LX.C, wir machen das perfekt hier, nämlich wir sorgen für die Allgemeinbildung. Klasse.

Danke für den lebendigen Dialog.

Schöne Grüße,
Hyperion




kalypso - 02.07.2007 um 19:03 Uhr

@ Hyperion:

Zitat:

Viele hören sich die Texte von Eco (der selbsternannte König von Deutschland) oder von Sido an und meinen sie dürfen diese wie sich selbst ebenfalls Künstler nennen.

Was für Weisheiten du da sprichst! Bloß - habe ich irgendetwas dergleichen behauptet?

Zitat:

Brutal das Thema verfehlt, wenn Du zu glauben vermeinst, irgendeinen literarischen Anspruch mit dem "Gedichterlebnis", das Du, Malerin (toller Name) beschreibst und beschwörst, mit echter Lyrik, wie der Lord Byrons, zu vertauschen.

Habe ich denn einen "Anspruch" erhoben? In meinen Augen widersprechen sich "Gedichterlebnis" und "echte Lyrik" durchaus nicht, und wer z.B. mit den deutschen Romantikern vertraut ist, wird womöglich zu dem Schluss kommen, dass etliche "echte Lyriker" meine Meinung teilen.

Zitat:

Von autodidaktischen, blind aktionistischen und im Leeren stochernden Gedichtmaßnahmen halte ich gar NICHTS.

Was schlägst du vor? Jugendschutz auf Lyrik, und erst so weisen, in all das Top-Secret-Wissen über Daktylus & Co eingeweihten Erwachsenen wie dir den Zugriff gewähren?

Zitat:

Du, Malerin (toller Name)
Wo wir schon beim Thema literarische Allgemeinbildung sind - die letzte Homer-Lektüre liegt wohl auch schon einige Zeit zurück?!

Einen schönen Gruß...

PS: Danke immerhin für deine Meinung - leider hat ja sonst niemand hier wirklich etwas zu meiner Frage von sich gegeben---




Herr Aldi - 02.07.2007 um 19:53 Uhr

Ich hatte immer eine Abneigung gegen dieses Auswendiglernen von Versbezeichnungen und sonstigen Fachbegriffen, auch jetzt im Studium noch. Würde mir so etwas Spaß machen, studierte ich jetzt wohl Maschinenbau oder Elektrotechnik, vielleicht auch Medizin, da muss man auch ganz viele Fachbegriffe auswendig lernen.

Ich sehe ja ein, dass dies zur wissenschaftlichen Arbeit mehr oder weniger notwendig ist, warum man Schülern damit jedoch den letzten Rest Begeisterung für Literatur nehmen bzw. sie statt einer Heranführung an die Lyrik lieber vor ihr abschrecken möchte, vermag ich nicht so recht zu verstehen.




Der_Geist - 02.07.2007 um 20:11 Uhr

als schon immer literaturinteressierter habe ich vor jahrzehnten das literarische "uni"-studium kurz nach beginn abgebrochen, weil es mir jegliche lust an der literatur nahm. dieser fremdbestimmte institutionelle kack. aetzend.

dies war ein persoenliches statement eines alten sackes.




LX.C - 02.07.2007 um 22:36 Uhr

Schule ist da, um gewisse Grundkenntnisse zu vermitteln. Und da gehört das eben dazu. Das eigentliche Problem liegt vermutlich beim Lehrer selbst, je nachdem wie verbissen dieser die Versschule lehrt. An meinen kann ich mich nicht mal mehr erinnern. Dementsprechend war vermutlich auch seine Art, literarische Grundkenntnisse zu vermitteln.

[Quote]als schon immer literaturinteressierter habe ich vor jahrzehnten das literarische "uni"-studium kurz nach beginn abgebrochen, weil es mir jegliche lust an der literatur nahm. dieser fremdbestimmte institutionelle kack. aetzend.[/Quote]

Was die Literaturwissenschaft betrifft, so kann man vereinfacht sagen, dass dies eine Disziplin ist, die Literatur nachträglich strukturiert, um sie einordnen zu können, alles weitere ist Hermeneutik. Gegenwärtige Autoren sollten sich von ihr also gar nicht beeinflussen lassen.
Zumindest nicht maßregelnd.
Dennoch kann es nie schaden, als Autor sein Werk gegen Literaturwissenschaftler verteidigen zu können. Es gegen bestehende Formen und Normen argumentativ abgrenzen zu können. Einfach zu sagen, mir war halt mal so, reicht möglicherweise nicht in jedem Fall aus.
Diese Überlegung hat mir eine Germanistin vor langer Zeit ans Herz gelegt. Und ich muss zugeben, sie beschäftigt mich immer noch.




Gast873 - 02.07.2007 um 22:42 Uhr

An die Kalyptische:

Nichts gegen dein subjektives Gesülze, aber es gibt dennoch einen objektiven Maßstab in der Lyrik, den du vielleicht nicht wahr haben kannst oder willst, weil Du noch unvermögend bist die Zusammenhänge zu erkennen, bzw. voller Emotionen bist, werde ich hierzu nichts mehr zu Dir schreiben, es sein denn, du willst keine Kindergartendiskussion mit mir führen, sondern Dich mit mir in einem gepflegten Normalton unterhalten, dann bin ich gerne bereit mit Dir über Lyrik zu diskutieren, so wie ich das mit andern Forums-Mitgliedern tue.

Schönes
Nachdenken noch!




Der_Geist - 02.07.2007 um 22:45 Uhr

Zitat:

... dass dies eine Disziplin ist, die Literatur nachträglich strukturiert, um sie einordnen zu können... Gegenwärtige Autoren sollten sich von ihr also gar nicht beeinflussen lassen....

ok fuer das aus meiner kamera.




Herr Aldi - 03.07.2007 um 00:05 Uhr

Zitat:

Diese Überlegung hat mir eine Germanistin vor langer Zeit ans Herz gelegt. Und ich muss zugeben, sie beschäftigt mich immer noch.

Die Überlegung oder die Germanistin?

Meiner Meinung nach sollte Schule nicht in erster Linie Grundkenntnisse, sondern Grundfähigkeiten und -fertigkeiten vermitteln (obgleich dies oft Hand in Hand gehen mag); in diesem Sinne ist für mich die Fertigkeit zur kreativen Auseinandersetzung mit literarischen Werken wichtiger als die Kenntnis von Fremdwörtern, die von den meisten trotz ständigem Vorbeten von dem da vorne kaum mit Sinn gefüllt werden können.
Ich postuliere: Ein Kind/Jugendlicher hat mehr von der Erprobung seiner Fantasie und seines Sprachgefühls an einem Gedicht als vom Auswendiglernen von Wortungetümen wie Hendiadioin oder Homoioteleuton.




Persephone - 03.07.2007 um 01:08 Uhr

ich denke, der vorteil an diesen ganzen formellen sachen ist, dass man sie relativ mühelos lernen kann. ich meine, man braucht nicht irgendwas in richtung begabung, das gedicht, das man interpretieren soll, muss einem nichts sagen und man hat so einen ganzen haufen zeug, das theoretisch jeder, der nicht komplett unfähig ist und der sich ein bisschen anstrengt, anwenden kann. ich fand das in der schule immer sehr nett, weil so das jeweilige gedicht zu einem kreuzworträtsel wird und wenn man überall die richtigen wörter einsetzt, ist es am ende schlüssig und ganz wunderbar.
wozu das dann eigentlich gut ist, ist mir allerdings nicht klar. vielleicht ist es der einzige "massentaugliche" zugang zu lyrik. man zwingt den schüler, drüber nachzudenken. das klappt so leider nicht immer.

kalypso, es ist schön, dass dir die lyrik auch so etwas sagt. ich selber bin froh über das werkzeug, das mir die schule an die hand gegeben hat, weil ich sonst niemals in die struktur eines gedichtes eindringen könnte. ich muss das bewusst und explizit machen, was der dichter da gemacht hat und das geht eben quasi nur mit diesen vokabeln (zumindest kenne ich keine anderen dafür). sonst würde ich das Gedicht viel zu schnell überlesen und könnte gar nicht erfassen was es sagt...




Kenon - 03.07.2007 um 09:18 Uhr

Zitat:

Nichts gegen dein subjektives Gesülze, aber es gibt dennoch einen objektiven Maßstab in der Lyrik

Das "subjektive Gesülze" von objektiven Maßstäben, in deren Besitz sich oft genau die wähnen, welche davon schwätzen, macht mich immer wieder lachen. Zum Glück muss man es nur in totalitären Diktaturen ertragen.

Wagnerischen Scholastikern kann man gern folgende Faust-Stelle ans Herz legen:

Zitat:

Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen,
Wenn es nicht aus der Seele dringt,
Und mit urkräftigem Behagen
Die Herzen aller Hörer zwingt.
Sitzt ihr nur immer! Leimt zusammen,
Braut ein Ragout von andrer Schmaus,
Und blast die kümmerlichen Flammen
Aus eurem Aschenhäufchen raus!
Bewundrung von Kindern und Affen,
Wenn euch darnach der Gaumen steht -
Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,
Wenn es euch nicht von Herzen geht.




LX.C - 03.07.2007 um 11:45 Uhr

[Quote]Ich postuliere: Ein Kind/Jugendlicher hat mehr von der Erprobung seiner Fantasie und seines Sprachgefühls an einem Gedicht als vom Auswendiglernen von Wortungetümen[/Quote]

Ja, stimme ich dir zu, ohne meine Meinung zu verwerfen. Denn es gibt eben auch analytischere Menschen wie Persephone. Die Schule muss also eine Gradwanderung zwischen beidem schaffen. Daher meine ich, der Lehrer hat den Schlüssel in der Hand.




Gast873 - 03.07.2007 um 14:42 Uhr

Lieber Kenon, schön, dass ich Dich zum Lachen bringen konnte.

Zitat:

"Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst"..."Wie könnten wir dazu der Kunst, wie des Narren entbehren" FR. NIETZSCHE

Fröhliches Weiterlachen noch!

Gruß
Hyperion




JH - 03.07.2007 um 15:52 Uhr


Kafka hat mal geschrieben, Schule sei dazu da, die Eigentümlichkeit zu verwischen.




Herr Aldi - 03.07.2007 um 17:25 Uhr

Diese Nachricht wurde von Herr Aldi um 17:25:49 am 03.07.2007 editiert

Viele meiner Eigentümlichkeiten habe ich überhaupt erst in der Schule entwickelt, würde ich sagen.

Zitat:

Denn es gibt eben auch analytischere Menschen wie Persephone. Die Schule muss also eine Gradwanderung zwischen beidem schaffen.

Das bestreite ich nicht. Das Fremdwortgepauke sollte aber immer nur Mittel sein, neues zu entdecken, und nicht Selbstzweck. Wenn es nämlich zum Selbstzweck wird, dann erscheint mir das alles reichlich nutzlos - es gibt sicherlich bessere Möglichkeiten, die Analytiker unter den Schülern (ich war auch immer einer, Mathe war mein bestes Fach) zufriedenzustellen.

Mein Deutschlehrer in der Mittelstufe hat uns jedenfalls für die Gedicht- und auch sonstige Textanalyse folgendes Modell eingeprügelt: Einleitungssatz, Inhaltsangabe, Sinnvermutung, Grobstrukturanalyse, Feinstrukturanalyse, evtl. Verbessern der Sinnvermutung. Und das in jedem Unterrichtsblock. Abgesehen davon, dass eine solche Art uniformierter Texterschließung die Sichtweisen auf das, was Literatur und Lesen sein kann, völlig verbaut, ist es auf dem Stand der Forschung und Literaturtheorie von vor 80 Jahren.




Persephone - 03.07.2007 um 18:39 Uhr

gut, fremdwortgepauke gab es bei uns nie. wir haben nie etwas auswendig gelernt, in klausuren hatten wir immer unser genormtes "vokabellistchen" mit den wichtigsten stilmitteln dabei und solange der text, den wir fabriziert haben gut und verständlich war und eine grobe gliederung hatte (einleitung - hauptteil - schluss) hat niemand was dagegen gesagt. wir haben auch feine gliederungen gelernt, aber die waren eher angebote an die schüler, die ein solches gerüst brauchten, um sich durch ihren text zu hangeln. mir wird heute erst so langsam klar, dass ich mit meiner schule sehr viel glück hatte...



Franklin Bekker - 09.07.2007 um 21:02 Uhr

Diese Nachricht wurde von Franklin Bekker um 21:07:27 am 09.07.2007 editiert

Lyrik im Unterricht...
darf den Versuch machen die Texte nicht auf eine Lesart festzulegen. Das heißt nicht nur, dass der Lehrer nicht "die eine Interpretation" aufzwingen darf, sondern auch, dass man mehr macht als die Texte in vielen Varianten zu interpretieren.
Es ist ebenso wichtig eine Sinnschule mit den Schülern durchzuführen. (Nein ich meine nich, dass man ihnen sagen soll, was zu fühlen ist.) Aber man kann Aufmerksamkeit auf Klang, Intonation und dergleichen lenken. (Inhaltlich auf Gegensätze und auf Spannungen) Das ist wichtig sowohl für ältere Texte beispielsweise Barocke Elegien als auch für moderne Gedichte z.B. Ernst Jandls (einige davon lassen sich kaum anders gebrauchen).
Distichen oder Alexandriner hat man nicht zum Selbstzweck geschrieben. Sie sind unglaublich hilfreich für den Vortrag und für das Hören von Texten. Auch Blankverse im Drama geben ja einen Normal-Ton für das Sprechen vor und der Schauspieler kann dann durch abweichende Betonung Bedeutung deutlich schärfer hervorheben.
In der heutigen Lyrik verflüchtigen sich manche Erscheinungen und das Publikum hört viele Sachen einfach nicht mehr. Was nützt es da, wenn ich in einer Ode mit Tragweite für den Inhalt zwischen asklepiadeischen und sapphischen Odenstrophen wechsle? Eine Ode, die ohnehin nicht gesprochen, sondern nur gelesen wird. Denn ob ein Gedicht durch Hören oder Lesen aufgenommen wird ist ein himmelweiter Unterschied!

Also meine (prototypische) Zielsetzung für Lyrik im Deutschunterricht: Texte in ihrer vielfältigen Verwend- und Brauchbarkeit würdigen und den praktischen Nutzen der Form sichtbar machen. (Ich gehe stillschweigend davon aus, dass Form als Inhalt verstanden werden kann.)




URL: https://www.versalia.de/forum/beitrag.php?board=v_forum&thread=2866
© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz // versalia.de