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-- Prosa
--- Im Lügentempel und im Totenhaus.

Wittgenstein - 21.12.2006 um 22:49 Uhr

Im Lügentempel und im Totenhaus.


Ich erwache zu später Stunde, schlage die Augen auf und da ist es mir auch schon klar; ich befinde mich im Tempel der Lügen. Du weißt schon, das ist jener Graubereich meines Denkens, den ich bisher mehr aus der Ferne betrachtet als tatsächlich bereist hatte. Es ist der Bereich meiner Seele, dort wo tiefe Gedanken entstehen, die Rationalität nur ein kleiner Geist ist und Gläser leicht zerbrechen. Glas zerbricht in diesen Tälern und sammelt sich in den Talsohlen, wo die Scherben große Gebirge aus Klingen bilden, über die meine Gedanken und Gefühle dann mit bloßen Füßen jagen; sie jagen nur darüber, da ja ein langsames Gehen zu sehr schmerzen würde. Blutende Füße sind die Folge der Streifzüge durch diese Täler; und jetzt wird dir auch schon klar werden, was mir erst langsam – eben aus jenen Tallagen der Seele – langsam ins Bewusstsein kroch: Meine blutigen Füße hinterließen ihre grausigen, so markanten und doch gehassten Fußspuren nicht in mir, sondern außerhalb meines Kopfes.
Ich erwache also im Lügentempel; um aus ihm wieder zu entkommen, erdenke ich mir folgendes Regelwerk, um die Spuren, die ich dank meiner blutigen Fußsohlen hinterlassen hatte, wieder zu verwischen, In all Situationen in denen mich der Schmerz bisher dazu gezwungen hatte zu lügen, würde ich in Zukunft die Wahrheit sagen – und umgekehrt. Das würde sowohl durch die umgekehrte Wahrheit der bisherigen Lügen für Klarheit sorgen als auch zugleich durch die umgekehrten Lügen der bisherigen Wahrheiten Räume schaffen, in denen ich mich weiterhin verstecken könnte.
Denken wir uns eine solche Situation: Ich sterbe und trete meinen letzten Weg an, klopfe an der Pforte des Totenhauses: Ein blasses Skelett – seine Kiefer, die noch über bestens gewachsene Zähne verfügen, knirschen – öffnet mir die Tür, welche übrigens leichter aufzutreten ist, als du es dir vorstellst. „Hallo, mein Lieber Toter“, meint mein Gegenüber mit toter Sprachmelodie, „ bist du er neue Tote, der uns angekündigt wurde, für den wir nun ein gutes Zimmer – nämlich ein Zimmer mit Blick auf das Allerheiligste – in unserem Totenhaus freimachen mussten. Wie geht’s es dir und wie war dein Tod? Bist du sanft entschlafen oder hast du dich gefürchtet?“ „Nein.“, sagte ich die Wahrheit,“ ich hatte einen langsamen, schmerzhaften Tod. Ich fürchtete mich zu Tode.“ Und ich ergänze, wobei ich wie vorgenommen lüge: „ Jetzt fühle ich mich allerdings sehr gut. Es ist eine tolle Sache tot zu sein; man lässt den Schmerz hinter sich und geht dann dorthin wo man eigentlich hingehen sollte!“ Und weiter lüge ich, dass sich die Balken biegen: „ Das Sterben an sich war eigentlich jetzt vom Empfinden des Schon-Tot-Seienden gar nicht so schlimm; schließlich kann ich jetzt ein schönes Zimmer im Totenhaus beziehen – und wenn es nur halb so schön ist, mit Blick auf das Allerheiligste, wie es das Prospekt angekündigt hatte!“ Das Skelett wippt Nervös hin und her und entscheidet sich dann doch für mich; mit eine raschen Schwung reißt es die Tür zum Totenhaus weit auf, lässt mich eintreten. Ein weiteres Skelett, diesmal in eine Dieneruniform des habsburgischen Hofzeremoniells gepackt nimmt mich Empfang – es hat, so sehe ich jetzt, auch jene Form des Bartwuchses, die unseren Franz-Joseph zum Symbol des sterbenden Reiches machte. Das zweite Skelett packt mich und schleift mich wortlos – ich kann mich gar nicht wehren, mein Körper geht ja langsam in die Totenstarre über – in mein Zimmer. Das Prospekt hatte nicht gelogen. Mein Zimmer im Totenhaus war wunderschön, vom großen Fenster auf der Hofseite kann ich direkt auf das Allerheiligste blicken.
Jetzt lege ich mich wieder schlafen. Ob ich dir die Wahrheit über den Lügentempel und das Totenhaus erzählt habe weiß ich nun selber nicht mehr, Ich werde über diese Entscheidung eine Nacht schlafen.




Trillo - 29.12.2006 um 18:37 Uhr

man kann diesen text lesen. man kann außenbleiben und das mal anschauen. die bilder im traumgewölk, die gedanken, wie sie sich aneinanderreihen und etwas sinn, etwas gehalt eines innenfluges geben, versprechen. ich habe mich jedoch für das lesen entschieden, das mich mitnimmt und etwas in meine brust pflanzt. das hier ist sehr gut, das will ich sagen, schon die ganze zeit, naja, vielleicht erst, ab den dritten satz.



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