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-- Prosa
--- Akademikerstrich
Wittgenstein - 30.07.2006 um 23:40 Uhr
Akademikerstrich
Mein Freund führte mich durch die Stadt. Ich hatte auf meiner Reise nur einen kurzen Aufenthalt eingeplant, schließlich wollte ich zu guter Zeit des Jahres, nämlich dann wenn der Sommer noch nicht den Frühling abgelöst hatte, mein eigentliches Ziel erreichen. Mein Freund – er kannte die Stadt nur allzu gut, hatte er doch viele Jahre (eines besser wie das jeweils vorhergehende) hier verbracht – führte mich durch lange Gassen, die meistens in rechtem Winkel aufeinander trafen. Die Gassen wirkten dumpf. Erbärmlicher Geruch drang aus der Kanalisation, die wie ein unterirdischer Schatten den Verlauf der Gassen begleitete. Meinem Freund schien die stickige Atmosphäre der Stadt nichts anzuhaben. Im Gegenteil: sein Blick, sein Lächeln wurde umso erfreuter je unbarmherziger die Stadt auf uns herab fiel; mir persönlich war an solch einem Ort, an dem Menschen das Licht entzogen wurde, nichts gelegen. Mein Freund schien diesen Umstand aus anderer Sichtweise zu betrachten. Er war der beste Stadtbewohner, den es nur geben konnte. Er war dies, da er offensichtlich die Fähigkeit entwickelt hatte – vielleicht war sie ihm auch schon immer gegeben gewesen – im Dunkeln zu sehen. Mein Freund erklärte mir, sein rasches Vorankommen im Gewirr der städtischen Gassen sei nur darauf zurückzuführen, dass er einen Stadtplan auswendig gelernt hätte. Ich mochte dies nicht so recht glauben; kein Mensch kann sich schließlich gleich einer Katze durch solches Dunkel bewegen und dabei noch die städtische Umgebung schildern, als ob es hellster Tag wäre.
Wir gelangten schließlich in einen Bezirk der Stadt, in welchem – so erklärte mir mein Freund in farbigen Bildern – die städtische Industrie angesiedelt war. Ich konnte nur einen grauen, teils gar schwarzen Schleier erkennen, der alles verbarg was jenseits der gepflasterten Gassen lag. Ich war somit darauf angewiesen, den Bildern meines Freundes zu vertrauen. Dies fiel mir gar nicht leicht, male ich mir doch für gewöhnlich meine Bilder selber aus. Ich verfiel ob dessen in eine betrübte Stimmung; mein Freund jedoch kümmerte sich nicht weiter darum und malte die Bilder der Industrieanlagen weiter aus, wobei er sogar Arme und Hände heftig gestikulierend benötigte. Er verfiel in einen Zustand heftigster Euphorie; dieser verfiel jedoch schlagartig als wir einen besonderen Teil des Industriebezirks erreicht hatten.
„Da! Sie hin“, meinte mein Freund mit brechender Stimme, „das ist das dunkelste Kapitel dieser Stadt! Das ist der Akademikerstrich! Hier finden wir Juristen, Betriebswirte, Bauingenieure, Philosophen, Linguisten, Soziologen, Historiker, Mathematiker und sonstige Fälle, welche die Industrie wieder ausgespuckt hat. Sie sind zu nichts nütze. Stehen hier nur herum, bieten ihre Fähigkeiten feil, die ja doch kein Gewerbe gebrauchen kann. Sie stehen hier tags, oft auch nachts. Mancher, so erzählt man sich hinter vorgehaltner Hand, soll sogar seinen akademischen Titel gegen einen Bissen trockenen Brotes getauscht haben. Das ist auch klar – von trockenem Brot lebt sich’s noch besser als von der Doktorswürde. Nun ich will dir erklären, wie der Akademikerstrich funktioniert. Nachdem die Akademiker dieser Stadt die Universität verlassen haben – sie befindet sich übrigens direkt anschließend zum Industriebezirk, das von ihr jedoch nicht einsehbar ist – kommen sie direkt hierher. Sie bekommen einen Platz zugewiesen, auf welchem sie ausharren müssen bis sie ihren Strichcode zugewiesen bekommen. Über ihren Strichcode sind sie direkt erkennbar. Jedes Fach, das am Akademikerstrich vertreten ist hat dabei eine eigene Kennnummer, die sich im Strichcode findet. Nun wozu dient das wiederum? Ich will es dir erklären: Über die ihnen zugewiesene Nummer sind die Akademiker eindeutig erkennbar. Der größte Vorteil des Strichcodes ist jedoch, dass die Akademiker durch ihn nicht mehr als Akademiker erkennbar sind. Er erlöst sie aus ihrer akademischen Qual. Dies geschieht dadurch, dass die einzelnen Untergruppen der verteilten Nummern ordentlichen Beschäftigungen, nämlich solchen die wir im Industriebezirk brauchen können, zugeordnet werden. Natürlich gibt es da so manches Gesindel, das wir gar nicht brauchen können. Du siehst, nüchtern betrachtet dient der Akademikerstrich dem guten Zweck, brauchbare Menschen zu erzeugen, in dem sie sie aus ihrem akademischen Wahnsinn erlöst!“ Bei diesen Worten erhellten sich die Züge meines Freundes um ein Vielfaches.
Eigenartig, dachte ich bei mir, ich hatte vor dem Besuch in der Stadt gelesen, dass ihr Industriebezirk von tüchtigen Architekten und Ingenieuren geplant worden war. Ich verließ die Stadt so schnell ich konnte. Mein Freund ist heute Vorsteher des Industriebezirkes.
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