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-- Prosa
--- Wie ein Stier in der Arena
vanvalle - 29.07.2006 um 21:11 Uhr
Diese Nachricht wurde von vanvalle um 21:25:24 am 29.07.2006 editiert
Eine Bar. Musik aus dumpfen Boxen, laut. Gedämpftes Licht. Ein Pulk von Menschen auf engem Raum. Bewegung, nur einzeln im Rhythmus der Musik. Ansonsten Gesten, Armbewegungen und viel, viel Lachen, tolle Laune, Partyspaß. Das alles prallte an mir ab. Ich war allein, inmitten der Redseligkeit. Vielleicht war ich für irgendwen, der einsame Versager an der Bar. In jeder Bar ist irgendwo, meist in einer Ecke, irgendwer, der ganz alleine ist und traurig auf den Boden blickt, ganz mit sich und seinem Bier. Und manchmal blickt er auf, nein, er schreckt fast auf, erinnert sich: ‚hey, ich will doch fröhlich sein, möchte nicht der eine sein, der einsame Versager.’ Dann wippt sein Kopf mit der Musik, Spannung in den Körper und ein anderes Gesicht: ‚Ja, ich amüsiere mich,’ Gesicht. Das hält ein paar Minuten lang, bevor es in Nuancen einer Bewegung dann, zurück in seine leere Starre fällt, die Spannung aus dem Körper und die Gedanken irgendwo, bei diesem irgendwas, das ihn so traurig macht.
Heute fühlte ich mich wie der König der einsamen Versager. Nur, ich war nicht traurig, nicht so richtig, wenigstens. Ich hatte eher das Gefühl, dass ich nicht wahrgenommen werde und das kam mir fast poetisch vor. Ein Bild von einem Menschen, in sich gekehrt, in einer von Partylaune getränkter Umgebung. Fast als wäre man ein Engel, der inmitten des Treibens ist, aber unbeteiligt an der Szene und nicht sichtbar für die anderen. Gerade deswegen sticht er aus dem Bild heraus; Stille in Bewegung; einsam in der Menge; Sehnsucht unter Lachenden.
Wahrscheinlich war ich nur hierher gekommen, um die Existenz des Lebens zu spüren, zu wissen, dass da Leben ist, die Welt noch da ist, dass man selbst noch in irgendeiner Form dazu gehört. In meiner Absteige hatte mich das Gefühl überkommen, ich wäre schon tot. Man hat nur vergessen, mir das zu sagen. Ich lag auf dem Bett und... und weil ich mir überhaupt nicht mehr sicher war, bin ich zu diesem Portier in den Flur gegangen. Der war damit beschäftigt etwas in ein Buch zu schreiben und blickte nicht auf, erst als ich eine Weile vor ihm stand. Dann sah er mich an: „Brauchen Sie was?“ Und mir fiel ein, dass er immer da war, egal um welche Uhrzeit und das schien mir auch nicht ganz normal, wie sein Hemd, dass die Farbe meiner Wände angenommen hatte.
„Arbeiten Sie immer?“ fragte ich. Er lachte nur und nickte. Ich überlegte mir, wann ich wohl gestorben war und warum es mir keiner sagte. Vielleicht kommen alle Tote erst in ein Hotel, so wie bei Sartre. Vielleicht nur Einbildung zu glauben, aus eigener Überzeugung hier eingecheckt zu haben. Zurück in meinem Zimmer, ließ mich der Gedanke nicht mehr los. Tot und man merkt es gar nicht, wundert sich nur, warum alles öde ist; warum die Familie weg ist und man nicht mehr zur Arbeit geht. Man streift durch die Welt, sieht die Sterne und die Lichter der Laternen und atmet die Luft, aber in Wirklichkeit hat man’s nur noch nicht begriffen, dass einen die Menschen nicht mehr wahrnehmen und die, die es tun, die wagen es nicht zu sagen: „Mensch Junge, du bist tot.“
„Tot?“
„Mausetot.“
„Oh. Na dann.“ Ein unsicherer Blick, ein peinliches Lächeln, ein nicht Wissen, wo man eigentlich hingehen soll; wie man sich als Toter zu verhalten hat, man möchte ja nicht gegen die Etikette verstoßen. Und dann, dann geht man weiter, weiß, dass man tot ist und dass es von nun an schwierig wird eine Currywurst zu bestellen. Ich wollte es testen, ging los und kaufte mir Tabak, beobachtete den Verkäufer genau, ob ich’s an seinem Blick erkenne, ob er mich überhaupt bedient oder ob er sagt: „Nein, an Tote verkaufen wir nichts.“ Er verkaufte, aber sah mich nicht an, konnte nicht erkennen, ob ich ein Lebender war, hätte auch an Tote verkauft. Und die Passanten? Kein Aufschluss, niemand sah mich an, ich hätte auch unsichtbar sein können. Das einzige waren die Geräusche, die Existenz des Windes, das kalte Holz einer Bank. Doch woher sollte ich wissen, ob man im Tod nicht spüren und fühlen kann? Und dann überlegte ich mir, was daran tragisch wäre und es wollte mir absolut nichts einfallen. Ich wäre einfach tot, so ist das. Keine Arie, keine Tragödie, einfach tot und nicht mal ich selbst hab’s bemerkt. Waren das depressive Gedanken? Eigentlich fühlte ich mich nicht depressiv, nur leer. Und dann ging ich in diese Kneipe, saß inmitten der Lebendigkeit und war allein, als wäre ich gar nicht hier, nur eine Randnotiz. Das Bild des einsamen Versagers.
„Hi,“ hörte ich. Ein junger Mann hatte mich angesprochen, riss mich aus diesem Gemälde heraus, durchbrach meine Unsichtbarkeit, zog mich auf die Seite der Lebenden.
„Du bist mir aufgefallen,“ sagte er. Nur kurz sah ich ihn an, trank von meinem Bier und wünschte mir, wieder unsichtbar zu sein.
„Du hast Wahnsinns Augen, weißt du das?“
Vielleicht verwechselte er mich mit einer Frau? Ich kam mir vor wie eine Frau.
„Ich dachte, ich quatsch dich einfach mal an,“ sagte er.
Ich nickte, wollte mich nicht unterhalten, wollte nicht. Er erzählte, er hätte eine IT Firma, kommt nicht von hier, streifte durch die Stadt, auf der Suche nach diesem Besonderen, diesem Blick, diesem Etwas, dass sich abhebt von der Masse.
„Vielleicht bin ich tot,“ sagte ich. Er lachte etwas verwirrt, „nein, bist du nicht.“ Und dann redete er und ich hörte ihm nur ein wenig zu, beobachtete seine Hand, die sich immer wieder zur Faust ballte, sah an ihr vorbei, zu der sich im Hintergrund rhythmisch bewegenden Körper, fremde, anonyme Menschen mit Träumen, mit einer eigenen Geschichte und eine von diesen wurde mir gerade erzählt, von dem, dem die Hand gehörte, die dann meinen Arm griff und dort blieb. Ich sah ihn an. Ein leichter Bart, lächeln, kurze Haare, angespannte Augen und ein Mund, der sich bewegte zu: „Lass uns woanders hingehen.“ Er wartete auf Antwort, seine Hand blieb an mir, ebenso sein Blick. Keine Antwort von mir.
„Ich will mit dir reden. Es gibt so viel über...“
„Ja,“ unterbrach ich ihn, stand auf, seine Hand löste die Berührung, ich ging zur Türe, er hielt sie mir auf, hinaus in die Kälte, die den Atem sichtbar machte, sich vereinen ließ mit dem Nebel in der Nacht. Er lachte, ich sah verschwommen die Laternen, er nahm meine Hand, ich ließ es geschehen, er lachte noch freudiger, ich ging und er blieb stehen.
„Wir müssen hier lang.“
Ich sah ihn an.
„Ja, hier lang,“ wiederholte er.
‚Wen interessiert es,’ dachte ich und ging in seine Richtung.
Mit jedem Meter stieg seine Freude, jubilierend seine Stimme.
„Da hinein,“ und zog mich durch eine Glastüre. Sie gehörte zu einem Hotel, kurz nur sah ich das matte Rot der Leuchtschrift über der Türe. Fröhlich war er, als er den Portier begrüßte, witzelte wohl was, denn er lachte und der Portier lächelte angespannt zurück, bevor sein Blick an mir hängen blieb, nicht wissend, was er von uns denken soll. Vielleicht dachte er, ich sei ein Callboy oder so, ein Drogenjunkie, der ihm die Wände voll kotzt. Irgendwas dachte er wohl und das war nicht sehr wohlwollend. Mein Begleiter ignorierte das, sprach mit dem Portier, wie mit einem Kumpel, so Sätze wie: „Glaubst du, es lässt sich arrangieren, dass du uns noch was aufs Zimmer schickst? Prosecco wär nicht schlecht.“ Dann blickte er zu mir: „Oder was meinst du?“ „Wodka,“ antwortete ich und komplettierte damit die Vorstellung des Portiers, dass ich, wenn schon kein Drogenjunkie, auf jeden Fall ein Junkie sein muss.
„Prosecco,“ nickte mein Begleiter zum Portier.
Dann saß ich auf einem Stuhl in einer klassischen Businesssuite. Die Klimaanlage brummte im Hintergrund. Er war im Badezimmer und machte sich wohl frisch. Businesssuites wirkten immer seltsam auf mich. Egal in welcher Stadt, auf welchem Kontinent, sie sehen immer gleich aus, absolut identisch. Durch nichts ist zu erkennen, auf welchem Kontinent man sich gerade befindet. Dieser Ort ist überall, als würde man versuchen Klimazonen, Kulturen, alles zu überwinden, um diesen einen identischen Ort zu schaffen, an dem alles immer gleich ist. Vielleicht soll es einem ein Gefühl von Zuhause geben. Aber ich möchte nicht, dass mein Zuhause so aussieht, immer identisch ist, leblos, austauschbar, klinisch… tot.
Er setzte sich aufs Bett, kreuzte die Hände und lächelte mit einem zufriedenen Seufzer. „Schön, dass wir ungestört reden können.“ Dann machte er wieder ein Kompliment und lange versuchte er meinen Blick zu halten, versuchte ein Gespräch zu führen, doch ich antwortete nicht, dann stand er auf, rannte zu mir und warf sich energisch vor mir auf die Knie.
„Ich halte das nicht länger aus.“ Wild strich er über meinen Körper, heftig sein Atem. In diesem Augenblick konnte ich Frauen sehr gut verstehen. Er hatte zu mir gesagt, er wolle mit mir reden, in Wirklichkeit aber wollte er mit mir schlafen. Nicht dass mich das überraschte, aber es war von Reden die Rede. Obwohl ich vorher wusste, was seine Absicht war, kam ich mir dennoch verarscht vor. Ehrlicher wäre gewesen, er hätte schlafen statt reden gesagt. Aber im Grunde war es egal. Als wäre ich außerhalb meines Körpers, betrachtete ich die Situation ohne Emotion. Seine Hände, die kräftig meine Haut griffen, dann mein Shirt nach oben zogen. Sein wildes Atmen, sein schmächtiger Körper, versteckt unter einem Designeranzug. Sein Versuch, mit seinem Körper über mich zu kommen, unbeholfen. Sein Gesicht, sorgfältig gepflegt und selbst der Bart in stundenlanger Arbeit zurechtgestutzt, jedes Haar an seinem angestammten Platz, nicht eines, nicht ein einziges das aus der Reihe tanzte, wild die Fahne schwenkend, freudig brüllend: „Es lebe die Anarchie!“ Klinisch war er, wie der Raum, kein Platz für Freiheit.
„Du willst es doch auch,“ stöhnte er. „Sag, dass du es auch willst!“ Ich schwieg, abstrakt kam mir das vor, lächerlich sein Gehabe. Lauter wurde er, befehlender, bestimmender, kräftiger seine Bewegungen. Gelangweilt stand ich auf. Durch den Schwung wurde er zurückgeschleudert und starrte mich verdutzt vom Boden an. Ich ging zur Minibar, nahm eines dieser kleinen Fläschchen und trank und danach noch eines. Ich sah ihn da am Boden und er kam mir so erbärmlich vor, weil er gar nicht spüren konnte, wie hell, wie klar alles um uns war, wie sinnlos jedes Getue. Er konnte das nicht sehen, konnte die Begegnung nicht wahrnehmen, weil er zu beschäftigt war, seinem Trieb zu folgen. Mein Herz raste, weil alles im Geiste so klar, bewusst war, jedes kleine Bewegen des Kopfes bewusst gespürt und nichts war da, das bremste. Als lebte ich in der Perfektion des Augenblicks. Als würde ich nicht teilhaben am Leben, sondern bin das Leben selbst.
„Was ist los mit dir?“ fragte er. „Willst du es nicht?“
„Was ist los mit dir?“ sagte ich. „Siehst du es nicht?“
„Was?“
„Erkennst du mich denn nicht?“
Angst bekam er, zumindest schien ihm das alles zuwider. Er stand auf und ging zurück zur Wand, als wolle er den größtmöglichen Abstand zu mir schaffen.
„Was wird das für ne Nummer?“ sagte er unsicher. „Ich sag dir gleich, darauf hab ich keine Lust.“
"Hast du keine Ahnung, weshalb ich hier bin? Bist du so mit dir selbst beschäftigt, dass du dir keine Gedanken machst, wer ich bin und warum ich hier bin?“
„Was soll das!!!“ schrie er.
Seinen Körper an die Wand gedrückt mit Kraft. Seine Füße in Bewegung, wie das Scharren mit den Hufen. Ein Stier in der Arena, das sich zum Kampfe rüstet, den es gar nicht will. Als hätte ich ein rotes Tuch geschwenkt, dass in ihm die Wut zu kämpfen weckte. Mir kam das völlig überzogen vor und lächerlich die Angst, die er nicht verbergen konnte. Aber dann wurde mir klar, dass er mich schlicht und ergreifend nicht als Mensch wahrgenommen hatte, sondern als ein Statist, der sich in seinem Film zu bewegen hat. Und dieser Statist hatte plötzlich seinen Text verändert und alles durcheinander gebracht; die schön ausgedachte Pointe für den Müll. Er konnte offensichtlich nicht verstehen, weshalb ich nicht funktionierte und jetzt, da er mich mit seinen wütenden Augen ansah, schien er zu erkennen, dass er der Stier und ich der Torero war und dass schon einige Banderillas in seinem Körper steckten. Ich wollte ihn weder reizen, noch herausfordern, wir waren uns lediglich begegnet und auf eine sonderbare Weise schien es mir, als könne ich seine Gedanken fühlen, seine Gefühle wahrnehmen; nicht die oberflächlichen. Und seine Vorstellung, seine Wahrnehmung von dieser Situation, waren unfassbar begrenzt. Seine Gedanken nur auf primäre Ziele gerichtet, unfähig anders verlaufende Situationen überhaupt zu begreifen. Ich sah einen jungen Mann in einem edlen Anzug, der sich eine Suite in einem vornehmen Hotel leisten konnte, der erfolgreich im Beruf und selbstbewusst genug war, andere Menschen dominieren zu können. Doch dieser junge Mann war unter seiner Hülle längst besiegt, sein Handeln nur ein verzweifelter Schrei ums Überleben. Und alles wäre gut gewesen, ich wäre seine Medizin gewesen, hätte ich mich unterworfen. Ich sah ihn lediglich an, keine Worte, die Blicke reichten aus für die Gewissheit tief in ihm, dass er mich nicht unterwerfen kann, er nicht mit seiner Hülle vor mir stand und gerne hätte er sie wieder aufgebaut; ging nicht, wollte nicht gelingen, im Keim erstickt und das was aus ihm kam war… Angst.
„Du bist der Teufel,“ schrie er und rannte aus dem Zimmer. Stille und wie auf Kommando setzte das Brummen der Klimaanlage wieder ein. Da war ich nun in seinem Zimmer. Das war ihm wohl auch aufgefallen, denn es klopfte heftig an der Türe. Ich öffnete.
„Das ist meine Suite!“
Ich nickte und ging. Er schrie mir irgendwelche Dinge nach. Das musste er auch, schließlich wollte sein Ego wenigstens die profanste aller Befriedigungen. So konnte er später sagen: „Dem hab ich es aber gegeben!“ Ein leichtes Lächeln, als mir ein Kellner mit einem Servierwagen entgegenkam. Darauf eine Flasche Prosecco und sorgfältig aufgestellte Gläser auf weißem Tuch. ‚Seltsam,’ dachte ich, ‚eine kleine Veränderung der Handlung und die Gläser werden nicht geschwenkt, kein Krachen des Korkens mit vorfreudigem Gelächter, kein Gesäusel, keine Berührung, kein Schwanz fickt [Zensiert].’ Stattdessen ein liebevoll aufbereiteter Servierwagen in einem klinisch toten Raum mit einem Menschen, der gar nicht lacht, wenn der Korken kracht und die Gläser scheinen sich zu fragen, weshalb sie sich so fein herausgeputzt haben und fühlen sich am falschen Platz, im völlig falschen Film. Sie würden gerne gehen, nicht sehen, wie ein Mann einen Kampf austrägt, den er längst verloren hat. Der wie ein Stier in der Arena torkelt, nicht aufgeben kann und will und jede Kraft mobilisiert, sich nicht einzugestehen, dass er im Grunde gar nichts hat und gar nicht lächeln kann. Der traurigste Moment eines Stierkampfes, im Leben, ist der Moment, wenn alle Kraft, jeglicher Wille nicht mehr ausreicht und die Beine einfach in sich zusammenbrechen. Dann kracht der Körper auf den Boden und die einzige Kraft die bleibt, ist ein Zucken in den Gliedern. Die Augen bewegen sich, noch ein kurzer unbändiger Wille, alles liegt in ihnen, bevor sie die Erkenntnis spiegeln, dass es nicht mehr geht. Dann werden die Augen müde und müde müssen sie sehen, wie der Torero brüllt vor freudiger Ekstase und die Menge jubelt. Das ist der traurigste Moment, wenn die Menge jubelt, während man langsam stirbt. Während man langsam stirbt, stirbt auch die Würde, weil die Menge jubelt und der Torero die Siegerpose zeigt.
Nebel hing über der Straße, ein leichter, kalter Wind der aufgesammelte Düfte mit sich trug, wild durcheinander gemischt. Eine bizarre Welt in einem grauen Schleier. Ich ging nur langsam, fühlte mich nicht in der Siegerpose, hatte lediglich einen Moment von enormer Intensität erlebt und konnte Leben schmecken, spüren, atmen hören. In diesem Augenblick war ich nicht mehr traurig, weil ich meine Familie verloren hatte, nicht verletzt, weil ein anderer mit meiner Frau war, ich war glücklich, weil ich leben durfte, weil ich fühlte, dass Leben nicht belanglos ist, dass es so vieles gab und gibt, dass in dem Streben nach Bequemlichkeit, nach Sicherheit, nicht gefühlt und nicht gelebt ist. Der Stier in der Arena war mir vertraut, weil ich mich selbst darin gesehen habe. Was wäre, wenn der Stier nicht kämpft, sich einfach denkt: „Leck mich! Ich renne nicht durch dieses Tuch, schaue lieber in den Abendhimmel und amüsiere mich über euer überhebliches Getue.“ Die Menge könnte dann nicht jubeln und der Torero wäre die ärmste Sau in der Arena. Sein glitzerndes Gewand, wie ein Clownskostüm. Sein gezogenes Schwert, zum Schwung bereit, wäre nicht die glorreiche Waffe eines Kampfes, sondern nur das Werkzeug eines feigen Mordes. Keine jubelnde Menge, keine Siegerpose; ein echter Stimmungskiller wäre dann der Stier. Mit einer kleinen Handlung, mit der Verweigerung zu funktionieren, nach den Vorstellungen anderer zu funktionieren, wird aus dem Schlachtgut Stier ein freies, lebendiges Wesen. „Kämpfe!“ würde die Menge brüllen; „Kämpf, du feiges Tier! Kämpfe! Kämpfe, Kämpfe!“ „Nein,“ würde es lächeln; „ich lebe.“
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