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--- Wunsch wieder Kind zu sein

Shiningmind - 27.07.2006 um 12:57 Uhr

Diese Nachricht wurde von Shiningmind um 13:04:51 am 27.07.2006 editiert

Diese Nachricht wurde von Shiningmind um 13:01:20 am 27.07.2006 editiert

Wenn ich durch die Welt trotte oder mich die Arbeit durch die Strassen hetzt, ich kurz Zeit habe zu verschnaufen und meine Gedanken ganz automatisch durch meine Gehirnwindungen rattern, sich zu Sorgen bohren, die mich ausquetschen, vor denen ich mich selbst rechtfertigen, mich selbst unter Druck setzen muss, dann komme ich zu dem Schluss, dass es mitunter schwierig ist ein denkender, ein kreativer Mensch zu sein und dann fange ich an, die Leute zu beneiden, welche scheinbar locker und ohne erkennbaren Ballast in der Lage sind, ihr Leben zu leben. Besonders schlimm wird es aber wenn mir ein Kind begegnet, mich staunend anstarrt und lieb zu mir lacht, was mein Herz auch dankbar annimmt, meiner Schwermuetigkeit jedoch noch weitere Ambosse aufdrueckt, denn des Kindes Lachen erscheint mir jetzt wie ein Auslachen, so als wuerde es sagen: "Sieh mich an und bewundere mich um meine kindliche Freiheit! Ich kann spielen, meine Welt entdecken und dabei sogar Mist bauen, waehrend du aber fuer all deine Taten die Verantwortung traegst. Ich jedoch habe meine Eltern zu meinem Schutz. Wo ist dein Schutz? Er ist von deinem Alter abgetragen, während er sich vor meiner Jugend stellt. Wo ist deine Neugier? Im Gegensatz zu dir hoere ich nicht auf zu fragen und finde mich nicht einfach mit den Dingen ab. Den Forschergeist, das will ich dir gern eingestehen, besitzt du offensichtlich noch aber warum bedrueckt er dich so, während er mich antreibt? Warum sitzt du in deiner Kammer und bruetest ueber deine Gedanken, die dich mitunter vor enttaeuschenden Erkenntnissen stellen? Anstatt dessen solltest du rausgehen und spielen! Los komm! Geh raus und spiele dein Leben!"
Hach wie schoen waere es doch wieder Kind zu sein!

PS: Ich musste die Umlaute ausschreiben, da der PC diese nicht akzeptiert hat und mir stattdessen komische Zeichen anbot.




LeilahLilienruh - 27.07.2006 um 16:19 Uhr

Lieber Shiningmind,

ja, das kenne ich: Diese Stimmungslage, in der man euphorisch und unkritisch dazu tendiert, sich wieder in die verantwortungsfreie, umsorgte Situation früher Kinderjahre zurück zu begeben. Aber seien wir doch einmal ganz ehrlich und nüchtern - was zugegebenermaßen ein wenig schmerzt: Wenn man sich ernsthaft an die eigene Kindheit zurück erinnert, entglorifiziert sich alles sehr schnell. Waren da nicht diese vielen, diversen Ängste vor allem Möglichen? Gab es da nicht auch mobbende Schulkameraden, verpatzte Klassenarbeiten, schimpfende Erziehungsberechtigte, Strafen, Einschränkungen , Ohnmacht und ohnmächtige Wut?
Ich finde es auf jeden Fall rührend, dass gerade Du Dich schon nach den Kinderjahren zurücksehnst. Ist bei Dir doch noch gar nicht sooo furchtbar lange her, oder?
Viele Grüße
Leilah




Shiningmind - 27.07.2006 um 18:22 Uhr

Liebe Leilah,

es ist schoen mal wieder einen Beitrag von dir zu lesen. Deine Verwunderung ist durchaus berechtigt. Wie kann sich ein 23 jaehriger nach der Kindheit sehnen, die er selbst vor gerade mal 10 Jahren hinter sich gelassen hat? Ich sass gerade auf der Arbeit als mir ploetzlich diese Betrachtung durch den Kopf schoss und der Gedanke verfolgte mich solange, bis ich mir die Zeit nahm,ihn aufzuschreiben. Ein Signal des Unterbewussten? Vielleicht liegt es daran, dass auf unserer Gesellschaft heutzutage ein unheimlicher Druck lastet. Der Weg und die Liebe sollen gefunden (und manchmal auch bezwungen) werden, Geld sollen wir verdienen und auch erfolgreich sollen wir sein und das immer mit dem Wissen, dass nichts sicher ist. All diese Sorgen muessen sich Kinder nicht machen, vorrausgesetzt sie haben eine schoene Kindheit und ich konnte mit diesem Text nur einen subjektiv empfundenden Vergleich zu meiner Kindheit stellen, die uebrigens hervorragend war. Die Probleme, die du ansprochen hast, hatte ich damals noch nicht, da ich ein guter Schueler war und ebenso liebe Eltern hatte und habe. Bei mir war eher die Jugend das Problem, denn da war ich ploetzlich Aussenseiter und hatte auch meine berechtigten Aengste verpruegelt zu werden, dann kam die erste grosse gescheiterte Liebe usw. Vielleicht ist es gerade die Sehnsucht nach der Unbeschwertheit meiner Kindheit, die ich dann in laechelnden und spielenden Kindern wi(e)dergespiegelt sehe.




LeilahLilienruh - 27.07.2006 um 19:01 Uhr

Wow, was für ein wunderbares Kompliment an Deine Eltern! Ich wünsche mir, dass meine Kinder irgendwann etwas annähernd Liebes über mich äußern werden. Glückwunsch zu solch einer Familie.
Du hast schon recht: Selbst, wenn die Kindheit schön und unbesorgt war - spätestens ab der Jugend überrollt einen dann die eckige, kantige Realität und lässt wenig Raum für Idealismus.
Vielleicht fangen Menschen wie wir gerade deshalb an, zu schreiben?! Da kann man sich Alternativrealitäten konstruieren und träumen so viel man mag.
Dabei fällt mir der schöne alte Sponti-Spruch ein, wie war das noch gleich: Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum Fliegen!
In dem Sinne: Ruhig mal mutig träumen und wenn´s von den guten alten Kindertagen ist. Nur nicht in Wehmut versinken.




Shiningmind - 27.07.2006 um 19:20 Uhr

Diese Nachricht wurde von Shiningmind um 19:36:03 am 27.07.2006 editiert

Zitat: "Du hast schon recht: Selbst, wenn die Kindheit schoen und unbesorgt war - spaetstens ab der Jugend ueberrollt einen dann die eckige, kantige Realitaet und laesst wenig Raum fuer Idealismus.
Vielleicht fangen Menschen wie wir gerade deshalb an, zu schreiben?!"

Mir faellt da etwas von Thomas Mann ein. Ich weiss nicht mehr in welcher Geschichte aber er war der Ansicht, dass ein Kuenstler erst gestorben sein muss, um mit Hilfe seiner Kunst wiedergeboren zu werden.
Da das aber ein wenig uebertrieben ist, will ich die Sache abmildern und sagen, dass uns unsere Niederlagen durchaus zum Schreiben verleiten koennen, um sie einfach auszudruecken, was dem Schreiber dann entlastet oder er begibt sich ins Reich der Fiktion, um eine Art Gerechtigkeit in einer Gegenwelt wiederherzustellen....auch wenn es nur auf ein paar Blaettern Papier ist.

Hast du eigentlich soviele Sorgen mit deinen Kindern? Wie alt sind denn die Racker?




LeilahLilienruh - 27.07.2006 um 20:16 Uhr

Nö, die Sprösslinge sind prima (15, 13 und neun Jahre), genauso, wie Kinder sein sollten: übermütig, kompliziert, geraderaus, fantasievoll, drollig...
Die Kinder selbst haben leider manchmal Kummer mit ihrer Umwelt. Vielleicht liegt´s dran, dass sie eben aus einer Künstlerfamilie stammen und nicht so perfekt ins (ländliche) Umfeld passen, was ihren Look, ihre Hobbys und ihre Ansichten angeht. Besonders der Mittlere wird wahnsinnig von Mitschülern gemobbt, da er statt Fußball im Verein zu spielen lieber Gedichte schreibt oder mit seiner Schwester Tanzkurse besucht. Beim Kleinen fängt das schon ähnlich an. Er liest und singt für sein Leben gern, mag aber nicht so gern Sport und andere "Männersachen".
Für die Jungs ist es zur Zeit wohl noch wenig tröstlich, wenn man sie ermutigt, ruhig ihren eigenen Weg zu gehen. Junge sein, ist heutzutage nicht einfach, wenn man nicht so mit dem Strom schwimmt, glaube ich.
Aber nur so können unsere sensiblen Literaten von morgen gedeihen.
Die in meinem ersten Beitrag angedeuteten negativen Kindheitserinnerungen bezogen sich allerdings mehr auf meine eigene Kindheit, die ich mir nicht zurückwünschen würde (rigide, autoritär, eingeengt).




Hermes - 28.07.2006 um 09:31 Uhr

Diese Nachricht wurde von Hermes um 09:32:23 am 28.07.2006 editiert

Euer Thema mit grossem Interesse gelesen.
Erinnerung an die eigene Kindheit, und an das, was ich in der Vergangenheit darüber (für mich selbst) verfasst habe.

Spontan kommen mir folgende Zeilen in den Sinn (von dem österreichischen Sänger Peter Cornelius), die ich regelrecht verinnerlicht habe, und die sich auch mit dem Thema "Loslassen" auseinandersetzen

"Du warst lang, lang bei mir,
heute gehst durch die Tür,
durch die Tür aus mein´m Leb´n heraus.
Dreh di um, no einmal,
tu mir den letzten G´fall´n,
du i dank dir, du warst gut zu mir.

I werd´ di nie vergess´n Kindheit,
die Zeit vergeht so furchtbar g´schwind.
Du sagst du mußt mi heut verlass´n,
i wein´ dir nach, leb wohl mei Kind.

Es is kalt in mir drin,
es verliert alles sein´n Sinn,
und i steh irgendwo und bin fremd.
Und i schau dir no´ nach,
du springst grad über´n Bach,
und a Träne versickert im Hemd.

I werd´ di nie vergess´n Kindheit,
die Zeit vergeht so furchtbar g´schwind.
Du sagst du mußt mi heut verlass´n,
i wein´ dir nach, leb wohl mei Kind.

I dank dir tausend mal mei Kindheit,
i weiß du kannst net länger bleib´n.
I dank dir für die schönen Jahre,
schau irgendwann bei mir vorbei."




LeilahLilienruh - 28.07.2006 um 18:29 Uhr

Lieber Hermes

das sind wirklich wunderschöne Zeilen, sehr intensiv, zugleich melancholisch und heiter.

Schon eigenartig, wie nah einem die eigene Kindheit ein Leben lang bleibt, auch wenn sie schon lange vorüber ist und ganz gleich ob sie glücklich oder schlimm war. Einmal die Augen geschlossen, und man ist wieder mitten drin.
Kein Wunder, dass sie durch alle unsere Lyrik- und Prosaarbeiten durchschimmert.
Manche Menschen behaupten ja, man würde sich nach der Kindheit vom Wesen her kaum noch verändern. Was meint Ihr?




bodhi - 28.07.2006 um 18:41 Uhr

Zitat:

Seit meiner Kindheit spürte ich das Verfließen der Stunden, unabhängig von jedem Bezug, jeder Tätigkeit, jedem Ereignis; die Ablösung der Zeit von dem, was nicht sie war, ihre selbstständige Existenz, ihren besonderen Status, ihre Tyrannei. Nichts ist mir deutlicher als die Erinnerung an jenen Nachmittag, an dem ich zum ersten Mal angesichts des leeren Weltalls selber nichts anderes mehr war als eine Flucht von Augenblicken, die sich weigerten, noch ihre Funktion zu erfüllen. Die Zeit löste sich vom Sein auf meine Kosten.

Aus E. M. Cioran - Vom Nachteil, geboren zu sein. Suhrkamp Taschenbuch, 1981.




Shiningmind - 29.07.2006 um 22:38 Uhr

An Hermes: Es ist ungewohnt einen solch dialektvollen Text zu lesen. Dann aber erschloss sich mir die ganze wehmutsvolle Wahrheitsfrische der Sprache. Ein Text der wohl noch lange aktuell sein wird, wenn man ihn kennt. Gehört hab ich das Lied nie aber das wird sich bald ändern.

An Leilah: Ob sich der Mensch nach seiner Kindheit von seinem Wesen her noch ändert? Ich denke das schon, denn der Mensch entwickelt sich mit der Zeit. Der Grundcharakter wird davon vielleicht nicht zu stark beeinflusst aber insbesondere Lebenseinstellungen, Ansichten und manche Verhaltensmuster ändern sich. Ich denke da an den Gegensatz zwischen Jugend und Alter. In der Jugend (von Ausnahmen, die es ja immer gibt, abgesehen) stehen wahrscheinlich noch eher Dinge in den Vordergrund wie zum Beispiel die Erreichung eines gewissen Lebensstandartes, Geld, Spass usw. Im Alter jedoch wird man selbskritischer, beobachtet seine Umwelt genauer, achtet sehr viel mehr auf die Gesundheit und bezieht Position zu seinem eigenem Leben.

An Bodhi: Es ist seltsam, was die Zeit mit uns anrichtet. Das Einzige, was der Mensch vermochte , ist sie zu messen. Ist sie eine von uns unabhängige Größe? Kein Genie auf Erden hat es je geschafft sie zu beeinflussen, sie zu manipulieren, sie in eine Absolutheit zu zwängen. Sie läuft und läuft schon seit der Ewigkeit aber für unser knappes Leben ist sie nur ein kurzer Pfiff. Da ist die Kindheit nur eine Sekunde und der Rest unser Werkstoff das Beste aus ihr zu machen.

Mit herzlichen Grüßen an euch!
Shiningmind




Hermes - 30.07.2006 um 08:50 Uhr

Diese Nachricht wurde von Hermes um 08:55:19 am 30.07.2006 editiert

Diese Nachricht wurde von Hermes um 08:54:53 am 30.07.2006 editiert

Zitat:

Lieber Hermes

das sind wirklich wunderschöne Zeilen, sehr intensiv, zugleich melancholisch und heiter.

Vielen Dank. Wenn Du die Worte dann noch durch Peter Cornelius´ raue und dialektvolle Stimme gesungen und in seine Musik gepackt hörst, ist die Wirkung noch stärker. Mir gefällt es...

Zitat:

Manche Menschen behaupten ja, man würde sich nach der Kindheit vom Wesen her kaum noch verändern. Was meint Ihr?

Es ist doch so, dass einen diejenige Erfahrungen am meisten prägen, die man am intensivsten erfährt. Zu welchem Zeitpunkt wäre dies eher vorstellbar als zur Zeit der Kindheit und Jugend?
Zu Zeiten von extremen Stimmungsschwankungen, ausgelöst vielleicht durch Umstände, die "uns der Kindheit Entwachsenen" kaum mehr "aus dem gemütlichen Sessel" hervorlocken könnten, weil wir im Lauf der Jahre doch ach so abgeklärt und auch abgestumpft sind. Weil der "erwachsene Mensch" im Laufe seines bereits seit langer Zeit währenden Lebens Erfahrungen gemacht hat.. - Erfahrungen, die ihm vorgaukeln wollen, alles das, worüber seine Seele sich regen will, sei doch bereits mindestens einmal dagewesen, und daher besondere Gefühlsregungen ungerechtfertigt...Ja, ich glaube auch, dass sich unser Wesen ab einem bestimmten Alter/ab einer bestimmten Reife nur noch in Nuancen verändert.
Was sich verändern kann, sind meines Erachtens Ansichten / Einstellungen / Präferenzen / Werte.




Hermes - 30.07.2006 um 09:03 Uhr

Zitat:

An Hermes: Es ist ungewohnt einen solch dialektvollen Text zu lesen. Dann aber erschloss sich mir die ganze wehmutsvolle Wahrheitsfrische der Sprache. Ein Text der wohl noch lange aktuell sein wird, wenn man ihn kennt. Gehört hab ich das Lied nie aber das wird sich bald ändern.

Hallo Shiningmind,

vielleicht magst Du Deinen Eindruck in ein paar Worte fassen, nachdem Du es gehört hast...

Gruss
Hermes




Shiningmind - 30.07.2006 um 11:19 Uhr

Hey Hermes!

Wenn du mir noch den Titel des Liedes nennst, dann find ich es schneller. Ich such hier schon unter "kindheit", "I werd di nie vergessen" usw. Es ist wie Ostern aber leider find ich das Ei nicht. Hilf mir!




Hermes - 30.07.2006 um 11:27 Uhr

Hallo,

der Titel lautet tatsächlich "Kindheit".




Fuchsfrass - 08.10.2006 um 21:58 Uhr


LeilahLilienruh,

ich möchte ganz kurz auf diese eine Textstelle von dir eingehen:

Aber seien wir doch einmal ganz ehrlich und nüchtern - was zugegebenermaßen ein wenig schmerzt: Wenn man sich ernsthaft an die eigene Kindheit zurück erinnert, entglorifiziert sich alles sehr schnell. Waren da nicht diese vielen, diversen Ängste vor allem Möglichen? Gab es da nicht auch mobbende Schulkameraden, verpatzte Klassenarbeiten, schimpfende Erziehungsberechtigte, Strafen, Einschränkungen , Ohnmacht und ohnmächtige Wut?


Ich bin jetzt 16, komme aus einer Familie mit einer sehr guten finanziellen Lage und das einzige, was ich vermisse, ist das, was du als „Entglorifizierung“ der Kindheit betrachtest: die Angst davor, eine Klassenarbeit versaut zu haben, das Wissen, dass meine ältere Schwester in den Film ab 16 darf, während ich zu Hause sitzen muss. Das Gefühl dass sich unter dem Bett ein schleimiger Wurm windet, die Tatsache, dass man sich nicht das kaufen kann, was man gerne hätte. Kurz: die Ängste, die Strafen und die Einschränkungen.
Bin ich der einzige den es stört, dass er nicht weiss, was er sich zum Geburtstag wünschen soll, weil er es sich sowieso selber kaufen könnte? Bin ich der einzige, der es vermisst nicht alles tun zu dürfen? Was hilft es mir tun zu können was ich will, wenn ich jegliche Spannung und Herausforderung in meinem Leben dadurch verliere? Bin ich als einziger der Meinung, dass die Tatsache, dass die Eltern die Verantwortung für dich übernehmen, kein gutes Gefühl sondern eine einschläfernde Langeweile verursacht?

Ich trauere genau wie ihr meiner Kindheit nach, allerdings anscheinend aus etwas anderen Gründen…

Von der Jugend kann ich nur ähnliches berichten wie ihr: sie ist grauenhaft! Nein, ich werde nie verprügelt, nein, ich werde nie gemobbt, ja, ich habe ein paar sehr gute Freunde, und ja, ich kann mir wirklich alles kaufen was ich will. Aber das Grauenhafte ist, dass man anfängt sich mit Problemen anderer zu beschäftigen. Als Kind ist man egoistisch und sieht kaum über den Eigennutz hinaus, doch mit 15 fängt man sich Gedanken darüber zu machen, ob es wirklich so lustig ist einen Aussenseiter fertig zu machen, Mitleid entwickelt sich, und das ist in einer solchen Welt nichts gutes. Und nur um es erwähnt zu haben: Das ist EURE Schuld. Die Schuld von euch Eltern. Der Wertezerfall, die Oberflächlichkeit, die Ziellosigkeit usw. Alles eure Schuld!

Sieht denn niemand, dass ihr so, wie ihr eure Kinder behandelt, sie nicht zu einem unbeschwerten Leben führt, sondern zu einem einzigen riesigen grossen NICHTS? Es reicht nicht ihnen Geld in die Hand zu drücken, ein Kind BRAUCHT Regeln und Strafen, und auch Prinzipien, aber alles was wir von euch bekommen sind teilnahmslose „Jaja tu das“, ohne dass ihr von der Zeitung aufblickt.
Ihr meckert doch immer über die rauchenden Jugendlichen, über die Baby-Killer, über die Schlaffheit und Ziellosigkeit eurer Kinder, über ihren Kleiderstil und ihren Durst nach Alkohol, über ihre Dummheit und wie sie nicht zur Schule gehen, wie sie sich ihre Arme aufritzen und sich einen Schuss nach dem andern Setzen, glaubt ihr etwa das kommt davon dass uns die Gehirnbalken fehlen oder dass unser Fronthirn nicht existiert? Verdammt noch mal NEIN, das kommt von euch! Ihr habt aus uns das gemacht was wir sind, wenn ihr die Schuld sucht, dann sucht sie gefälligst bei euch selber als aller erstes!

Wenn ich die Zeit hätte würde ich nun als erstes auf die Probleme die der Kapitalismus verursacht abschweifen, dann über kurz oder lang beim zur derzeit herrschenden Dritten Weltkrieg landen, später noch die „Hilfsleistungen“ die wir der Dritten Welt bieten kritisieren und dann wäre wohl die Einstellung gegenüber dem Geld an der Reihe, und als allerletztes dann die Politiker und deren Abhängigkeit von den wirklich grossen Konzernen. Aber ihr habt Glück. Ich muss jetzt ins Bett, ich brauche viel Schlaf um diese Welt zu verkraften…


Gute Nacht,

Fuchsfrass (eines der letzten existierenden Exemplare des "denkenden Jugendlichen")




Sophie - 09.10.2006 um 02:10 Uhr

Hallo Fuchsfrass,

Dein Beitrag würde ganz gut zu unserem Thema von neulich "Unsere Kinder schießen zurück" passen. Vielleicht magst Du Dir das ja mal durchlesen. Da wirst Du feststellen, dass gerade Leilah kritisch nach der Schuld der Erwachsenen an all diesen Missständen fragt.

Was mir persönlich bei Deinen Zeilen durch den Kopf gegangen ist, war einerseits: interessant, einmal alles von der anderen Seite zu sehen. Und andererseits: schwer nachvollziehbar.

(Bei all Deinen Vorwürfen in "Ihr"-Form lässt Du nebenbei erwähnt außer Acht, dass kaum einer der aktiven Forums-Schreiber selbst Kinder hat.)

Ich finde Deine Äußerungen sehr problematisch, denn bei allem Verständnis für Deine Empörung über eine Vielzahl gesellschaftlicher Missstände bleibt bei mir auch das schale Gefühl, es mit einem absolut verwöhnten, übersättigten, überbehüteten Konsumkind zu tun zu haben. Meines Erachtens romantisierst Du Dir die unerfreuliche Realität eines Durchschnittsjugendlichen (Geldnot, Ärger mit Schule und Eltern, Frust, Strafen etc.) so lange zurecht, wie Du selbst nicht damit konfrontiert wirst. Dass sich Eltern in gewissen Kreisen mit Geld von jeglichen Erziehungsaufgaben freikaufen, ist ja unbestritten, aber ich garantiere Dir auch, dass Du Dich nach drei Tagen in einer gegenteiligen Familie nach Deinen Privilegien zurück sehen würdest. Du redest immerzu von Schuld. Jede Medaille hat bekanntlich zwei Seiten: Kein Mensch zwingt "Euch" Kinder gutverdienender Eltern, ständig das Händchen aufzuhalten, den Eltern die Verantwortung für alles zu überlassen und dabei satt und bequem über die Not in der Welt zu philosophieren.

Zitat:

Bin ich der einzige den es stört, dass er nicht weiss, was er sich zum Geburtstag wünschen soll, weil er es sich sowieso selber kaufen könnte? Bin ich der einzige, der es vermisst nicht alles tun zu dürfen? Was hilft es mir tun zu können was ich will, wenn ich jegliche Spannung und Herausforderung in meinem Leben dadurch verliere? Bin ich als einziger der Meinung, dass die Tatsache, dass die Eltern die Verantwortung für dich übernehmen, kein gutes Gefühl sondern eine einschläfernde Langeweile verursacht?
Sorry, aber das klingt in der Tat sehr nach Überfluss und blasiertem Überdruss und ist insofern für einen normalen jungen Menschen beinah ein Schlag ins Gesicht.

Und glaub´ mir: Denkende Jugendliche gibt es trotz Schicki-Micki-Kindern noch genug.

Zitat:

Aber das Grauenhafte ist, dass man anfängt sich mit Problemen anderer zu beschäftigen.
Ich hoffe, dass ich diese Passage falsch verstehe, denn ansonsten müsste ich Dich für einen ganz fiesen Egozentriker halten.

Im Prinzip ist Dein Beitrag in meinen Augen ein verzweifelter Schrei nach elterlicher Zuwendung, denn nach "Ängsten, Strafen und Einschränkungen" wird sich ein vernunftbegabter Mensch wohl kaum sehnen.




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