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-- Prosa
--- Das Licht am Ende des Tunnels - ein (Alp-)Traum

Hermes - 08.07.2006 um 01:11 Uhr

(...) Plötzlich sah er sich auf dem Bahnsteig des Klever Bahnhofes stehen, völlig zerlumpt, stinkend, verwildert, nur mit einem kleinen Bündel auf dem Rücken, sein armseliges Hab und Gut. Die Menschen eilten geschäftig an ihm vorüber; nein - : sie schienen einen Bogen um ihn zu machen, entgeistert wie auf einen bekannten Stadtstreicher starrend, verständnislos die Köpfe schüttelnd. Von Krieg keine Spur; er fand Kleve vor, so wie er es verlassen hatte, vereinzelte Bombenschäden von fleißigen Menschenhänden beinahe beseitigt, alles schien seinen normalen Gang zu gehen. Auf seinem Gang durch die Innenstadt in Richtung dessen, was einmal sein zu Hause gewesen war, erblickte er bekannte Gesichter: Einige, die ihm etwas bedeuteten, andere, die er nur vom flüchtigen Sehen her kannte.
Man schien ihn jedoch gar nicht wahrzunehmen, drängte an ihm vorüber, sich beeilend, um nur nicht mit ihm sprechen zu müssen offenbar, aber auch diese Mühe wäre ohnehin vergebens gewesen, denn er konnte sie nicht ansprechen. Er versuchte einen Morgengruß, redete einige mit ihrem Namen an, aber sie schienen ihn nicht hören zu wollen, niemand drehte sich zu ihm um… hörten sie ihn vielleicht überhaupt nicht?
Er lief weiter durch die Straßen, die ihm immer unbekannter vorkamen, ein nicht enden wollender Heimweg. Er hörte nicht auf zu grüßen – jedenfalls bildete er es sich ein -, die Hetzenden anzusprechen, mit immer größerer Verzweiflung – nichts, keine Reaktion, es war hoffnungslos…
Es hungerte ihn, also betrat er ein Geschäft, um etwas Brot zu bitten: vielleicht eine Schale warmer Suppe, aber niemand bediente ihn, man schien durch ihn hindurch zu sehen wie durch einen Geist, schien seine Not nicht zu erkennen.
Und wieder hinaus ins Freie, stürzte er sich ins Getümmel der Straße, sich nur noch auf den Heimweg konzentrierend, alle Kraft zusammen nehmend, und eine furchtbare Angst beschlich ihn…
Nach Stunden des Umherirrens, Laufens, Suchens, fand er endlich eine ihm bekannte Straße. Sich hinein stürzend, so als wolle er die verlorene Zeit einholen, gab er seine letzte Kraft, seine letzte Hoffnung, warf alles in die Waagschale, schon Licht am Ende des langen, nicht enden wollenden Tunnels erblickend: ja, das war die Horst-Wessel-Straße, er war ganz sicher, sie trug nun einen anderen Namen; er aber stürzte weiter, erblickte in der Ferne sein Haus, als die Kraft ihn verließ. Er brach zusammen, fiel rücklings auf den von Menschenmassen wimmelnden Bürgersteig, blickte panisch in die sich plötzlich über ihn beugenden Augenpaare, die fragend und mit einem Mal interessiert dreinschauten. Er erkannte Gesichter, deren Namen ihm entfallen waren, blinzelte weiter und erstarrte: Maria!
Sie starrte wie die anderen auf ihn, von einem schnauzbärtigen Mephisto mit bösen Augen an den Hüften umfasst… „Kennst Du den?“ bellte die Teufelsgestalt, und Maria, die ihm verstört und irritiert in die Augen gesehen hatte, zögerte lange. Er war unfähig zu sprechen, unfähig, ihr die Augen zu öffnen, unfähig, sie des furchtbaren Verrates an ihn anzuklagen, er konnte nur noch starren in ihr vertrautes, fremdes Gesicht.
„Nein“, hörte er sie sagen und es war, als bohre sich ihr ‚Nein‘ wie eine Lanze in seinen Leib.
„Dann komm endlich“, befahl die Stimme und versuchte, Maria fortzuziehen, sie, die sich seinen Blicken nicht entziehen konnte, aber dennoch für ihn unerreichbar war.
„Der Mann ist tot!“ rief jemand und verlangte nach Arzt und Leichenbestatter. Die Welt schien für ihn unterzugehen, er versuchte zu schreien, um sich der auseinander stiebenden Menge mitzuteilen, aber sein von ihm selbst als unendlich laut empfundener Ruf nach Maria verhallte ungehört…

„Maria!“ brüllte er in den schlaftrunkenen Waggon und schreckte hoch, schweißüberströmt, die Realität kaum fassen könnend (...).




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