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-- Literaturgeschichte & -theorie
--- Sergej Jessenin

Kenon - 09.11.2005 um 00:04 Uhr

Sergej Jessenin wurde am 3. Oktober 1895 in Konstantinowo (Provinz Rjasan) als Bauernsohn geboren. Das Gedichteschreiben begann er mit 15, mit 17 verließ er die Provinz, um sich in Moskau, später St. Petersburg niederzulassen. 1916 berief man den Dichter zum Kriegsdienst ein, und als er sich weigerte, Verse zum Ruhm des Zaren zu verfassen, versetzte man ihn in ein Strafbataillon. 1917 heiratete Jessenin Sinaida Reich, trennte sich jedoch bereits 1918 wieder von ihr. 1922 heiratete Jessenin ein zweites Mal, und zwar die Ballettänzerin Isadora Duncan. Auch diese Ehe hielt nur für ein Jahr. Als einen der Gründe für das Scheitern dieser Ehe führt man Jessenins Alkoholismus, der sich auch in seinem Werk niedergeschlagen hat ("Bekenntnisse eines Trinkers"), an.

Jessenin starb am 28. Dezember 1925 - man fand ihn aufgehängt in seinem Leningrader Hotelzimmer, ein in Blut geschriebenes Gedicht als letztes Werk hinterlassen habend (ähnlich stilvoll verabschiedete sich der italienische Dichter Cesare Pavese ein Vierteljahrhundert später von dieser Welt).

Als naturverbundener, im Bauerntum verwurzelter Lyriker verfasste er die Gedichtbücher "Frühlings-Totenfeier", "Blau in Blau", "Verklärung", "Dorf-Brevier", "Dreireihige Harmonika", "Beichte eines Hooligans" und "Pugatschow".

Zitat:

Ich bin des Dorfes letzter Dichter,
mit hölzernen Brücken in meinem Lied.
Zur Abschiedsmette gab sie Lichter
und Weihrauch die Birke, als ich schied.

Bald wird die Flamme zu brennen sich weigern,
das Wachs meines Körpers schmilzt bis zum Grund,
und die Monduhr mit ihren hölzernen Zeigern
vollendet röchelnd um Zwölf ihr Rund.

Aus: Für Marienhof (Ü: Kay Borowsky)

Zitat:

Nichts läßt meine Trauer je schwinden,
auch kein Lachen, das über uns schwang.
Längst verblüht sind die weißen Linden,
der Nachtigallmorgen verklang.

Einst sprengten die neuen, heißen
Gefühle des Herzens Schlucht.
Selbst zärtliche Worte nun reißen
vom Mund sich als bittere Frucht.

[...]

Krank sind Natur und Gemäuer,
zerfallen, schmutzig und feucht.
Das alles ist mir so teuer,
darum weint es sich auch so leicht.

Aus: Nichts läßt meine Trauer...

Zitat:

In den stummen Dunkelheiten
aufzuliegen hieß man mich.
Niemand-nichts in Ewigkeiten
hinterließ beim Abschied ich.

Aus: Wo die Weltenrätsel träumen...

Zitat:

Ich fürchte nicht das Untergehen
nicht Regenpfeil noch -speer.
"Sergej läßt es geschehen",
so spricht und kündet er.

Aus: Inonien

Einige wenige Werke von Jessenin finden sich im russischen Original auf versalia im Archiv klassischer Werke.

Abschließend ein paar Worte Johannes R. Bechers auf Jessenin (bei ihm: Essenin):

Zitat:

Du hast gesungen das traumschwere Lied vom Sterben des Dorfes,
Wo schon die Brücke aus stählernem Draht die labyrinthische Schlucht überspannt,
Wo Horizonte sich nahen, von Zügen und Schloten durchrauchte,
Und der Traktor keuchend in den steinigen Acker sich rammt.

[...]

Bis dein eigener Leib im Sterben des Dorfes versank...
Mit Strophen, geknetet aus Lehm, hast du geschrieben
Dem versunkenen Dorf sein Gedicht. Geschrieben mit bäurischem Blut.
Und als du das Blut aus den Adern dir schnittest - fließendes Leben -:
Wie das feurige Wehen der Steppe erlosch deine Glut.

Aus: Essenin




Kenon - 23.11.2005 um 19:34 Uhr

Meinerseits eine kleine Hommage:

Jessenin

Niedergesunken an den weissen Stämmen
Russlands entblätterter Birken
hockt des Dorfes letzter Dichter,
einen winzigen Spatzen
am müden Herzen wärmend:

Jessenin, o, Jessenin,
wo ist die Seele die
je sich entwinden konnte
den Schlangenarmen der Weiber
und wieder auftauchte
aus den gierigen Strudeln
des Weins?

Ach, Tschilp! ruft der Spatz da;
auf dem Weg durch die Felder
versinkt weich im Schnee
irgendein schnaufendes Pferd.

Jessenin, o, Jessenin,
Tschilp! Tschilp!




Kenon - 01.12.2005 um 20:11 Uhr





bodhi - 02.12.2005 um 21:26 Uhr

Tja. So werden wir alle mal da liegen.



Kenon - 02.12.2005 um 23:27 Uhr

Keine neuen Tode kennt dies Leben,
wie dem Leben selbst an Neuheit es gebricht.


Sergej Jessenin (aus: "Der letzte Gruß" - des Dichters letztes Werk am Todestag [28.12.1925])




bodhi - 02.12.2005 um 23:34 Uhr

...na dann auf den Achtzigsten...



Kenon - 02.12.2005 um 23:48 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 23:52:04 am 02.12.2005 editiert

Ob sich die Massenmedien gehobeneren Niveaus dieses Datums erinnern werden?

Die Moskauer Deutsche Zeitung zum Thema:

Zitat:

Sein [Jessenins] Freitod macht ihn bei bürgerlichen und jungen Lesern zur Kultfigur. Im offiziellen Sprachgebrauch wird „Jessenintum“ zum Synonym für Rowdytum und Dekadenz, Jessenins Werk verschwindet für lange Zeit aus den sowjetischen Buchläden – und die sanfte Seite des Dichters aus den Köpfen. Erst der Tod Stalins macht eine Wiederveröffentlichung seiner Gedichte möglich. Seit dem Selbstmord des „zweiten Puschkin“, wie ihn seine Hörerschaft in den Moskauer Kneipen nannte, werden am 28. Dezember 80 Jahre vergangen sein.

Und noch ein Zitat von Ilja Ehrenburg:

Zitat:

Yesenin was always surrounded by satellites. The saddest thing of all was to see, next to Yesenin, a random group of men who had nothing to do with literature, but simply liked (as they still do) to drink somebody else´s vodka, bask in someone else´s fame, and hide behind someone else´s authority. It was not through this black swarm, however, that he perished, he drew them to himself. He knew what they were worth; but in his state he found it easier to be with people he despised.




bodhi - 02.12.2005 um 23:51 Uhr

Ja, stelle mir grad vor, wie ich einen Artikel an meine regionale Zeitung senden würde... Es wäre nicht der erste, der nicht erscheint.



bodhi - 03.12.2005 um 00:02 Uhr

Hab grad mal den Artikel zum Link gelesen. Heftig, heftig...



Kenon - 08.01.2006 um 21:17 Uhr

Jessenins 80. Todestag verging anscheinend unbemerkt. Das Schiller-Jahr ist nun auch vorbei, die Sonder-Editionen dazu gibt es bereits - als "Mängelexemplare" ausgewiesen - zum Ausverkaufspreis. Dieses Jahr soll hauptsächlich Mozart als Kultur verkauft werden, daher auch das günstige 20-CD-Jubiliäums-Paket im Supermarkt. Das schmeißt man sich in den Einkaufswagen wie die Bananenstaude, Ceylon-Tee und Klopapier.

Zerbrecht das schwarze Eis!




bodhi - 08.01.2006 um 22:12 Uhr

Zitat:

Jessenins 80. Todestag verging anscheinend unbemerkt.

...oder umso bewusster in Kenner-Kreisen, die kein großes Tamtam draus machten.




LX.C - 08.01.2006 um 23:06 Uhr

Nun ja, aber vielleicht gab oder gibt es ja noch irgendwo in Russland für ihn eine Ehrung. Dort würde man schließlich auch kein Schiller-Jahr veranstalten. Man muss ja alles in der richtigen Relation sehen. Auch viele andere bedeutende deutsche Autoren finden zu ihren Todestagen keine angemessene Ehrung. Noch nicht. Und andererseits, so kannst du dich wenigstens nicht über einen Ausverkauf von Jessenin aufregen ;-)



Kenon - 08.01.2006 um 23:31 Uhr

Eigentlich wollte ich ja nur das schöne Thema noch einmal hervorholen ;)

Zitat:

Und andererseits, so kannst du dich wenigstens nicht über einen Ausverkauf von Jessenin aufregen.

Irgendetwas findet sich immer, über das man sich aufregen kann.

Ein weiterer lyrischer Aus-Schnitt:

Zitat:

Wo die Weltenrätsel träumen,
ist des Jenseits ferne Flur.
Welt, in deinen Erden-Räumen
bin durch Zufall Gast ich nur.

und noch einer:

Zitat:

Abendrot gib mir zum Schlitten,
Weide schon den Zügel schwenkt,
ich möcht um die Gnade bitten,
daß er mich zum Himmel lenkt.




Kenon - 12.01.2006 um 23:58 Uhr

Karl Dedicius, der auch Majakowskij übersetzt hat, in einem Nachwort zu "Sergej Jessenin. Gedichte":

Zitat:

«Jessenin hatte aus der Quelle des Volkssturms geschöpft und Bilder von bisher unbekannten Farbtönen in die Sprache gezaubert. Er hatte seine Zeit an ihrer großen Wende erlebt. Er war zwischen Dorf und Stadt, zwischen Kirche und Kneipe, zwischen Rot und Weiß vagabundiert, ohne seinen Platz zu finden. Von einem Extrem war er ins andere geschlittert, haltlos und ohne Glück.»

Quelle: Verlag Langewiesche-Brandt




Jasmin - 13.01.2006 um 03:01 Uhr

Zitat:

Von einem Extrem war er ins andere geschlittert, haltlos und ohne Glück.

Heute würde die Diagnose Borderline lauten.

Zitat:

Der Dichter Sergej Jessenin und die Tänzerin Isadora Duncan galten als exzentrisches Künstlerpaar, dem die Lust an der zur Schau gestellten Provokation gemeinsam war. Während die Duncan gegen den drohenden Verfall ihres Ruhmes antanzt, rebelliert Jessenin, betäubt sich mit Alkohol, prügelt seine Frau und schlägt einige Hotelrestaurants kurz und klein.

Quelle




Kenon - 13.01.2006 um 09:43 Uhr

Zitat:

Zitat:

Von einem Extrem war er ins andere geschlittert, haltlos und ohne Glück.

Heute würde die Diagnose Borderline lauten.

In unserer heutigen Zeit zu leben, blieb Jessenin zum Glück erspart. Diese leichtfertigen und schließlich saudummen "Diagnosen" sind also der Nachwelt vorbehalten.




bodhi - 13.01.2006 um 10:12 Uhr

Diese Nachricht wurde von Tom um 10:12:50 am 13.01.2006 editiert

Es geht doch nichts über einen richtig gesunden künstlerischen Flug zwischen allen Polen.

Texte einstellen, Texte löschen, ...




Kenon - 10.07.2022 um 09:18 Uhr

«Heimatland von weißem Leichentuch verhüllt» – Über Leben und Werk des tragischen russischen Dichters Sergej Jessenin und der Versuch, die Frage zu beantworten, warum ich mich gerade in diesen unpassenden Zeiten noch einmal mit ihm beschäftigt habe:

Sergej Jesessin: Leben und Werk (anti-literatur.de)




Kenon - 23.07.2022 um 22:58 Uhr

Ein böser Witz über den Dichter, vielleicht erstmals auf Deutsch:

Zitat:

Jessenins größtes Werk war sein Selbstmord. Seine ganze Poesie hat darauf hingearbeitet.




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