- versalia.de
-- Rezensionen
--- Andreas Maier - Kirillow

jule - 02.10.2005 um 15:44 Uhr

Der Russe Kirillow hat einen "Traktat über den Weltzustand"(S. 139) verfasst:
"Für solche Leute wie dich gibt es immer eine dunkle Macht, die im Hintergrund steht und alles Böse auf der Welt schafft, zm Beispiel die Wirtschaftscliquen oder den amerikanischen Präsidenten oder sonst etwas. Es gibt aber laut Kirillow diese dunkle Macht nicht. Es gibt nur die Menschen. " (S. 137 - 138)
Die Menschen aber streben schon seit Jahrhunderten nach ihrem persönlichen Wohlergehen. Für einen Menschen des 18. Jahrhunderts hatte dies einen ganz anderen Inhalt als für einen modernen Menschen, der dafür beispielsweise zweimal jährlich eine Urlaubsreise braucht, ein Bedürfnis, was wiederum ein ganzes System in Anspruch nimmt:
"... er benötigt riesige Flughäfen, er benötigt Tourismus in anderen ländern, dort Hotels, er braucht ein monströses Straßenverkehrsnetz (...).
(S. 137)
Auf diese Weise ist die Handlung eines Einzelnen, die für sich genommen doch eigentlich unschuldig erscheint und nur dem ganz individuellen Glück dienen sollte, mit dem Weltganzen verknüpft. Diesem Dilemma zu entkommen, ist unmöglich.
Andreas Maier schafft Szenen, die die Welt aus einer distanzierten Perspektive in den Blick nehmen und so Zusammenhänge deutlich machen. Julian und Jobst, zwei der Hauptfiguren, betrachten vom Fenster einer Wohnung aus die Menschen auf ihrem morgendlichen Weg zur Arbeit. Die beiden gehören zu einer Gruppe, die in der Nacht davor in der Straße geparkte Autos demoliert hatten. Diese Tat hat zur Folge, das der übliche Lauf der Ereignisse für einen Moment unterbrochen wird. Seine Selbstverständlichkeit wird in Frage gestellt.
In einer anderen Szene steigen Julian und Jobst auf einen Hügel und betrachten das Gesamtbild unter ihnen:
"(...) riesige Flächen der Landwirtschaftsbetriebe", Kirchen, die zu Touristenattraktionen mutiert sind, Städte und ein riesiges Straßennetz, auf dem Menschen und Waren ständig unterwegs sind, "und jede Ware war auf die vielfältigste Weise mit der gesamten Welt und allen möglichen Handels- und Verkehrswegen verknüpft" (S. 214).
Eines der Probleme, die der sogenannte Fortschritt mit sich bringt, ist ein ins Unendliche sich steigernder Eniergiebedarf mit allen bekannten Problemen. So gehören auch Julian und Jobst der Anti-Castor-Bewegung an. Sie fahren zu einer Demonstration ins Wendland. Unter dem Eindruck der Erkenntnisse Kirillows sieht Julian die einzig sinnvolle Handlung darin, ein Attentat auf einen Polizisten zu verüben, bei dem er selbst umkommt. Doch dieser Plan scheitert. Statt seiner stirbt bei dieser Aktion Frank Kober, der Freund von Julians Schwester.
Mit der Geschichte Julians ist nur ein Handlungsfaden des Romans wiedergegeben. Ebenso wichtig ist Frank Kober, der auch im Erzählrahmen eine zentrale Rolle spielt.
Diese Verflechtung verschiedener Erzählstränge macht das Buch beim ersten Lesen nicht eben leicht zugänglich. Der Erzähler vermeidet die personale Perspektive und bleibt bloßer Beobachter. Diese Beobachtung geht allerdings nie wirklich auf Distanz. Der Erzähler begleitet die Figuren und zeichnet detailliert alle ihre Bewegungen, Handlungen und Gespräche auf. So wird es nicht leicht, den erzählerischen Aufbau zu durchschauen. Gleichzeitig vermeidet der Erzähler auf diese Weise jegliche Wertung, allenfalls kommentiert oder erläutert er stellenweise.




URL: https://www.versalia.de/forum/beitrag.php?board=v_forum&thread=1565
© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz // versalia.de