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-- Prosa
--- Meine Stadt in der Wüste

gnisierf - 30.09.2002 um 20:18 Uhr

"Ich habe immer wieder den gleichen Traum von dieser Stadt in der Wüste", bemerkte ich, während ich einen tiefen Schluck des
köstlichen Rotweins zu mir nahm. Mein Freund schaute mich perplex an. "Was für ´ne Stadt?"
"Ja", sagte ich, "mindestens einmal pro Woche träume ich von dieser Stadt mit den weißen Lehmhäusern, die sich an die rauhen
Felswände schmiegen als wären sie ein Teil des Bergmassivs."
"Moment", fiel mir mein Freund ins Wort. "Eben sprachst du noch von einer Stadt in der Wüste. Jetzt sind da auf einmal Felsen.
Seit wann gibt es denn Felsen in der Wüste?"
"Laß mich das doch mal erklären. Wenn du mich nicht laufend unterbrechen würdest, wäre dir das alles schon längst klar."
Mein Freund grunzte nur und nahm nun seinerseits einen kräftigen Schluck vom Wein. Aber danach lehnte er sich entspannt im
Sessel zurück. Ein Zeichen für mich, daß ich nun - hoffentlich ungestört - weitererzählen durfte.
"Der Traum fängt immer gleich an. Ich reite auf einem Kamel durch eine enge Schlucht. Sand wirbelt durch die Luft. Es ist trocken
und stechend heiß. Der Stand der Sonne zeigt mir, daß es später Nachmittag sein muß. Aber obwohl ich heftig schwitze, ist mir das
Klima nicht unangenehm. Auch verspüre ich keinen Durst. Nein, es ist kein Alptraum. Ich fühle mich wohl. Und ich freue mich auf
die Stadt. Die Stadt, die wie ich aus all den vorherigen Träumen weiß, gleich hinter der nächsten Biegung liegt. Und kaum habe ich
die Kurve halb durchquert, da erscheint mein Traumort auch schon zwischen den schroffen Felsen. Majestätisch erhebt sich vor mir
das Nordtor. Es besteht aus zwei leuchtend weißen, glatten Säulen und einem Bogen, in den abertausende von kunstvollen, bizarren
Ornamenten eingemeißelt sind."
"Halt, Halt!", unterbrach mich da mein Freund erneut - sehr zu meinem Ärger. "Woher weißt du, daß es das Nordtor ist?"
"Ganz einfach", fahre ich ihn barsch an, "ich habe eine Karte bei mir. Die Karte ist abgenutzt und teilweise eingerissen an den
Rändern. Aber meine Stadt ist klar darauf zu finden. Sie liegt am Südrand eines mächtigen Gebirgszugs, der die ganze Breite der
Karte einnimmt. Die Stadt wird im Osten und im Westen von hohen Bergen begrenzt. Dort gibt es keine Tore. Es existieren nur zwei
Zugänge zur Stadt. Das Nord- und das Südtor. Im Süden der Stadt aber fällt die Schlucht steil zur Ebene hin ab. Wüste breitet sich
hier bis zum Horizont aus. Nichts als Sand. Kein Strauch, keine Oase, nichts. Ich aber komme ja immer aus dem Gebirge auf die
Stadt zugeritten. Also ist das Tor, welches ich vor mir sehe, das Nordtor."
Mein Erklärungseifer hatte mich durstig gemacht, und so mußte ich erst einen großen Schluck Wein zu mir nehmen, bevor ich
weiterreden konnte.
"Ich reite also auf dem Kamel durch dieses phantastische Tor", nahm ich den Faden der Erzählung wieder auf, nachdem ich das Glas
auf den Tisch zurückgestellt hatte. "Gekleidet bin ich wie ein Araber. Allerdings hat sich der Sand überall in meine Kleidung gesetzt
und der Baumwollstoff ist nun eher braun als weiß. Auch kann ich mein Gesicht im Traum nicht erkennen. Der Sand, der sich mit
meinem Schweiß vermischt hat, hat eine braune Maske geschaffen unter der sich meine Geschichtszüge verbergen. Ach ja, und
einen Turban trage ich als Kopfbedeckung. Aber auch der ist verdreckt vom umherwirbelten Sand. Aber ich schweife ab. Ich reite
also in diese Stadt ein auf einer breiten, aber nicht asphaltierten Straße. Rechts und links klammern sich kleine Lehmhütten
aneinander. Ja, sie scheinen in bizarren, den Gesetzen der Natur trotzenden Formationen übereinander gestapelt zu sein. Bis hoch in
die Felswände reicht die Bebauung. An unmöglichen Stellen noch kleben die Hütten am Fels. Zwischen den Häusern gibt es kleine,
verwinkelte Gassen, die den Geruch von Wundern und Magie ausströmen. Aber nie betrete ich eine solche Gasse. Ich folge vielmehr
der breiten Straße ins Zentrum des Ortes. Je näher ich dem Mittelpunkt der Stadt komme, um so größer und prachtvoller werden die
Gebäude. Die Lehmhütten machen steinernen Villen mit Marmorbögen und - treppen Platz.
Dann stehe ich plötzlich auf einem großen Platz. Inmitten dieses kreisrunden Zentrum des Ortes ragt ein Turm aus glatten,
glänzenden schwarzem Stein empor. Keine Spuren der Verwitterung und der Abnutzung sind hier zu sehen. Ah ja, das vergaß ich zu
erwähnen: die Stadt scheint verlassen zu sein. Nie begegne ich auf der Straße einem anderen Menschen. Auch liegt der Ort in tiefster
Stille. Außer dem Pfeifen des Windes zwischen den Lehmbauten ist nichts zu hören. Kein Vogel singt hier, kein Bach sprudelt; nur
der Sand wirbelt unaufhörlich durch die Straßen und Gassen.
Hier an dem Turm jedenfalls steige ich jedes Mal ab. Ich lasse das Kamel am Fuße der Treppe, die sich außen am Turm nach oben
schlängelt zurück und beginne den Aufstieg. Vorher aber - das ist ein festes Ritual - streichele ich mit meiner Hand über den
schwarzen Stein des Turms. Inmitten der Hitze des Tages fühlt er sich eiskalt an. Und glatt als wäre er eben erst poliert worden. Nach
einem schier endlosen Emporsteigen erreiche ich die Plattform. Grandios ist der Blick von dort oben. Die komplette Stadt liegt mir
zu Füßen. Übrigens scheint es im ganzen Ort keine Gotteshäuser zu geben. Zumindest erkenne ich nichts, was für mich wie eine
Kirche oder ein Minarett aussieht. Allein der Turm auf dem ich stehe, ragt aus der Masse der Gebäude heraus. Im Süden sieht man
wie die Straße hinter der Stadt steil abfällt in die Ebene. Und die Ebene! Eindrucksvoll! Bis zum Horizont nichts als Sand.
Dort oben verweile ich immer ein paar Minuten, dann steige ich wieder herab. Mein treues Kamel wartet schon auf mich. Aber ich
steige nicht mehr auf, sondern ich führe das Tier an der Leine weiter durch die Stadt nach Süden. Eine Weile marschieren wir so an
den stillen Häusern vorbei, bis die Gebäude wieder kleiner und weniger prunkvoll werden und die Schlucht sich verengt. Hier in der
südlichen Stadt bleibe ich dann plötzlich stehen, binde das Kamel an einen Posten und betrete eines der Lehmhäuser auf der rechten
Straßenseite. Das Haus ist äußerst karg eingerichtet. Im vorderen Raum steht ein glänzender, gut gepflegter Holztisch und ein Stuhl
aus dem gleichen Material. Ich tauche ein in das Halbdunkel des kühlen Raums. Da sehe ich sie. Eine schlanke Frau, Mitte Zwanzig,
die höchstens einsfünfzig vom Scheitel bis zur Sohle mißt. Sie trägt ein wallendes, weißes Kleid, das fast durchsichtig ist und ihren
mageren, aber makellos schönen Körper mehr zur Schau stellt als verhüllt. Denn unter dem Kleid trägt sie nichts. Auch ist sie
barfuß. Sie hat pechschwarze Haare, die ihr bis zur Hüfte reichen und rehbraune, sanfte Augen. Ein freundliches Lächeln spielt um
ihren Mund. Sie ist nicht erstaunt, als ich eintrete. Ich bin es auch nicht. Sie sagt nichts. Ich bleibe auch stumm. Statt dessen
durchquere ich den Raum und gelange durch eine offene in einen winziges Zimmerchen. Dort steht eine riesige Zinkwanne, die fast
den kompletten Raum ausfüllt. Die Wanne ist gefüllt mit lauwarmen, sauberem Wasser. Ich beginne sofort meine staubigen Kleider
auszuziehen. Die Frau wendet nun keineswegs schamhaft ihren Blick ab. Nein, interessiert schaut sie mir zu. Ich lasse mir zeit beim
Entkleiden, denn ich bin stolz auf meinen Körper. Und die neugierigen Blicke der Frau erregen mich. Schließlich steige ich doch in
die Wanne. Gemütlich wasche ich mir den Schmutz und Sand herunter. All die Zeit steht die geheimnisvolle Schöne starr am selben
Fleck. Sie läßt mich keinen Moment aus den Augen. Aber ihr Blick ist wohlwollend und freundlich. Noch immer lächelt sie sanft.
Aber sie kommt nicht näher. Wenn ich nun sauber und ausgeruht genug bin, steige ich wieder aus dem Bottich. Wieder lasse ich mir
viel Zeit beim Abtrocknen und anziehen. Ich achte darauf, daß sie meinen Körper auch in seiner Gesamtheit zu Gesicht bekommt.
Ich sonne mich in den intensiven Blicken der Frau. Schließlich bin ich wieder angezogen und ich betrete erneut den vorderen Raum.
Obwohl meine stumme Gastgeberin sich die ganze Zeit nicht bewegt hat, steht nun ein opulentes Mahl auf dem Tisch. Ich lange
kräftig zu. Dampfend liegt die Speise - ich weiß nicht, was es ist - vor mir auf dem Teller und ein betörender Geruch steigt in meine
Nase. Die Schöne nähert sich nun mit einem Tonkrug und gießt Wein in meinen Becher. Ich trinke - der Wein ist süß und schwer
und gleitet wie Öl die Kehle hinunter. Es ist übrigens immer Weißwein - gut gekühlt. Sie lächelt mich an, als sie sieht, wie sehr mir
Speis und Trank munden. Schließlich trägt sie das leere Geschirr weg. Ich breite meinen Schlafsack für die Nacht auf dem Boden aus.
Sie kommt zurück und füllt meinen Becher erneut aus dem Tonkrug. Immer wenn ich ausgetrunken habe, ist sie sofort zur Stelle und
gießt nach. Der Krug muß bodenlos sein. Becher für Becher lasse ich meine Kehle hinunterlaufen. Sie steht stumm neben mir und
betrachtet mich mit ihren lächelnden Augen. Schließlich zeigt der Wein seine Wirkung. Ich kann gerade noch in den Schlafsack
kriechen, dann fallen mir auch schon die Augen zu.
Ich pausierte einen Moment lang, um einen Schluck von meinem Wein zu trinken, dann fuhr ich fort: "Normalerweise wache ich an
dem Moment auf, in dem ich im Traum einschlafe. Gestern aber habe ich weiter geträumt. Ich wachte auf in meinem Schlafsack auf,
die Sonne stand schon hoch am Himmel. Sofort fiel mir wieder diese vollkommene Stille auf. Kein Vogelgesang, kein Quietschen
eines
rostigen Scharniers, kein Fensterladen, der vom Wind geschüttelt wurde. Nur der Sand war überall. Selbst in dem bis zum
Kragen verschlossenen Schlafsack knirschte der Wüstensand. Der Fußboden des sonst so blitzblanken Hauses war mit einer feinen
Sandschicht bedeckt. Ich krabbelte aus dem Schlafsack und richtete mich auf. Die Sandkörner klebten sich an meine bloßen Füße.
Ich zog mich dennoch gutgelaunt an und machte mich auf die Suche nach meiner Gastgeberin. Ich hoffte auf ein üppiges Frühstück
und vielleicht noch etwas mehr. Aber ich wurde enttäuscht. Das Haus schien völlig verlassen zu sein. Es besaß ja nur zwei Zimmer
und die Küche; meine Suche war also bald beendet. Der Tisch, an dem ich am Abend zuvor so fürstlich bewirtet worden war, war
abgeräumt. Nun, das konnte man bei einer fleißigen Hausfrau erwarten, aber was mich erschreckte war die Leere in der Küche. Der
Ofen war aus. Er sah aus, als hätte schon seit Jahren kein Feuer mehr in ihm gebrannt. Die Schränke beherbergten nur das totale
Nichts. Keine Lebensmittel, nirgendwo das kleinste Zeichen von Leben. Es war unfaßbar. Ich taumelte in den kleinen Raum mit der
Zinkwanne, um mir meinen erhitzten Schädel mit kaltem Wasser abzuspülen. Als ich eintrat, stockte mein Herz. Quer über dem
Rand der Wanne lag ein fremder Mann mit dem Gesicht nach unten - regungslos. Ich stürzte zu ihm hin. Ich drehte den Körper
etwas zur Seite. Der Mann war mausetot. Und das war nicht weiter verwunderlich, denn ein großes Messer stak bis zum Schaft in
seiner Brust. Seine starren Augen blickten mich überrascht an. Ein dünnes Blutrinnsal hatte sich seinen Weg den Rand der Wanne
hinab gesucht, war aber jetzt bereits angetrocknet. Ich ließ den Körper wieder in seine Ursprungslage zurückrollen. Mit
Riesenschritten rannte ich auf die Straße. Beinahe hätte ich gar mein treues Kamel vergessen. Es sah mich erstaunt an, als ich
kreidebleich an ihm vorbeilief. Sein Blick war tadelnd, als ich schließlich zurückkam, um es loszubinden. Aber das war mir im
Moment egal. Ungeduldig zog ich es hinter mir her. Erst als ich das südliche Stadttor vor mir sah, ward mir leichter ums Herz. Ich
bemerkte sogar wieder die Umgebung. So sah ich auf der rechten Seite, nur ein paar Schritte vom Tor entfernt, einen Brunnen.
Natürlich ist der längst versiegt, sagte ich mir, doch wollte ich es trotzdem probieren. Und zu meiner Verwunderung schoß klares,
kaltes Wasser aus dem Hahn, nachdem ich ein paar mal den Pumpenschlegel niedergedrückt hatte. Ich wusch mein staubiges
Gesicht. Das Wasser sammelte sich im Brunnenbecken, da der Abfluß verstopft war. Aber das war mir egal, der Brunnenrand war
hoch genug. Das Wasser würde hier in dieser staubigen, trockenen Wüste keinen Schaden anrichten. Ich fühlte mich gleich viel
besser. Ich wagte sogar von dem kühlen Naß zu trinken, da ich auf einmal einen heftigen Durst verspürte. Das Kamel kam neugierig
näher. Es steckte seine Schnauze in das stehende Wasser. In der aufgestörten Wasseroberfläche verzerrte sich mein Spiegelbild. Da
stockte mein Herz erneut. Das Gesicht, das mich da anblickte, war nicht das meinige. Es war das ihre."
Ich sah meinen Freund erwartungsvoll an. Einen Moment lang war es still im Zimmer. Dann richtete er sich im Sessel auf. "Ach",
meinte er, "und ich dachte du magst keinen süßen Wein."
Wir nahmen beide einen tiefen Schluck von dem schweren, herben Rotwein.




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