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-- Rezensionen
--- Jurij Nagibin - Steh auf und wandle
Kenon - 06.07.2005 um 12:57 Uhr
Die Sowjetunion 1928. Da fängt noch ein fröhliches Kind Schmetterlinge für seine Sammlung, bald schon aber schickt man seinen Vater in die Verbannung nach Irkutsk. Der Grund: Er war ein mäßig erfolgreicher Börsenmakler während der Zeit von Lenins Neuer Ökonomischer Politik, der NÖP (NEP). Das bringt ihn in den Ruf eines Volksverräters, offiziell verurteilt man ihn jedoch wegen rechtstrotzkistischer Neigungen, der Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation. Ein Beispiel von vielen, wie Stalins politische Maßnahmen die Reihen des Volkes rücksichtslos lichten, erzählt vom Sohn des Verbannten, der ein erfolgreicher sowjetischer Schriftsteller wurde.
"Er war angetan von mir, war stolz auf mich, aber er glaubte nicht an mich. Glaubte nicht, wenn er meine Bücher mit Erzählungen und sogar die seltenen lobenden Rezensionen über sie las; glaubte nicht, wenn ich ihn bestens gekleidet am Steuer meines ´Pobeda´ durch Moskau fuhr."
Das Verbannungssystem ist perfid und lässt den Vater Zeit seines Lebens nicht mehr los, obwohl er sich zu einem Enthusiasten des Sowjetsystems entwickelt, der all seine Kraft in den zweiten Fünf-Jahres-Plan steckt. Wer einmal ein Volksverräter ist, der ist es immer. Und so wird der Vater schon bald nach der Freilassung wieder vor Gericht gestellt. Das Vergehen? "[...] alle wußten in gleicher Weise, daß es keinerlei Schuld gab. Das wußten die, die die Inhaftierten bewachten, ebenso wie die, die sie verhafteten, und die, die sie der nicht begangenen Verbrechen beschuldigten; das wußten auch die, die über sie zu Gericht saßen und sie verurteilten, ebenso wie die, die sie von einem Gefängnis zum anderen trieben, und die, die mit dem Gewehr in der Hand um den Stacheldraht der Lager marschierten. Das wußten alle, vom Kleinsten bis zum Größten, vom Kind bis zum Greis, aber es war, als ob sie sich verabredet hätten, dieses verhängnisvolle Spiel immer weiter zu spielen." - und das Spiel geht immer weiter.
"Ich gehörte zu der glücklichen und unreinen Generation, die nach der Revolution geboren ist: ordentlich – so weit die Kräfte reichen, standhaft – soweit die Kräfte reichen, gut – so weit die Kräfte reichen, mit anderen Worten: gerade noch in der Lage, zwischen dem eigenen Untergang und dem Verrat zu wählen" - gesteht sich Nagibin ein und so muss sich auch er für den Verrat entscheiden, um sich selbst zu retten. Fortan verschweigt er seinen leiblichen Vater in den offiziellen Formularen, sogar vor seiner Frau, denn auf den Sohn eines Volksverräters ist kein Verlass, er dürfte keine Karriere machen. Und so funktionieren alle menschenunwürdigen Systeme: Jeder möchte nur seine eigene Haut retten, weil er sich ohnmächtig glaubt und jeder Widerstand nur zu seiner eigenen Vernichtung führen würde. Zu echten Opfern sind die wenigsten bereit.
Wann "Steh auf und wandle" geschrieben worden ist, ist nicht bekannt. Es erschien 1987 im Zuge der Perestroika - um ein wenig Licht in das Dunkel der sowjetischen Geschichte zu bringen.
LX.C - 27.08.2006 um 17:37 Uhr
Erschütternd.
Man hat zwar Ahnungen von den Grausamkeiten der Verbannungen, doch begreift man erst nach diesem Buch so richtig, wie unsinnig systematisch und sinnlos Menschen kaputt gespielt wurden, weil sie zwanzig Minuten zu spät zur Arbeit kamen oder lieber die Buchhaltung eines Volkseigenen Betriebes ordnungsgemäß abschließen wollten, anstatt sich an der Ausschmückung des Maifeiertages zu beteiligen.
Dennoch, das Eintauchen fällt schwer, ich wurde das Gefühl nicht los, auf Distanz gehalten zu werden. Dazu bewegt sich der Anfang des Buches auf einem schmalen Grad zur Langeweile. Die ausführlichen Beschreibungen der Hobbys des Jungen sind schon ziemlich ermüdend. Hat man das jedoch überwunden, lässt einen das Buch nicht mehr los.
LX.C - 02.12.2006 um 04:01 Uhr
Also ich sitze noch auf einem sehr guten Exemplar (habs doppelt, da an mich genommen, bevor es, ausgesondert aus unserer Bibliothek, im Müll landet). Wer das Buch mal lesenm möchte, dem lasse ichs gerne zukommen. Einfach bei mir melden.
LX.C - 11.03.2007 um 17:41 Uhr
Sitze immer noch auf dem Exemplar, wer Bock drauf hat, soll sich mal melden.
LX.C - 12.09.2007 um 22:04 Uhr
Hab ich immer noch doppelt. Will das denn keiner lesen? Es lohnt sich doch. Mensch ich brauch Platz :-) Und schade ist es doch um das Buch. Wie neu ist es.
Gast873 - 24.09.2007 um 23:12 Uhr
Diese Nachricht wurde von Hyperion um 23:15:32 am 24.09.2007 editiert
Das Buch von Jurij Nagibin ist ein echter Geheimtipp, zumal es in einer sehr poetisch angehauchten Sprache geschrieben worden ist. Es hängt auch kein fader Nachgeschmack der Rotstift-Zensurliteratur-Ära des sowjetischen, sozialistischen Realismus (was für ein Unding dieses Wörtchenungeheur doch ist) in der Luft. Man hat das Gefühl der künstlerischen Freiheit beim Lesen.
Nur an einer Stelle irrt sich der kühne Suhrkamp-Übersetzer, wenn er meint das Wort BCA würden die Russen mit "Beßa" aussprechen; ich bin der Meinung sie würden es mit "Weßa" schon eher aussprechen und treffen.
Gruß
Hyperion
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