- versalia.de
-- Sonstiges
--- Die Kunst, Recht zu behalten

Jasmin - 20.06.2005 um 16:49 Uhr

Eristische Dialektik

Eristische Dialektik1) ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas.2) Man kann nämlich in der Sache selbst objective Recht haben und doch in den Augen der Beisteher, ja bisweilen in seinen eignen, Unrecht behalten. Wann nämlich der Gegner meinen Beweis widerlegt, und dies als Widerlegung der Behauptung selbst gilt, für die es jedoch andre Beweise geben kann; in welchem Fall natürlich für den Gegner das Verhältnis umgekehrt ist: er behält Recht, bei objektivem Unrecht. Also die objektive Wahrheit eines Satzes und die Gültigkeit desselben in der Approbation der Streiter und Hörer sind zweierlei. (Auf letztere ist die Dialektik gerichtet.)

Woher kommt das? – Von der natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts. Wäre diese nicht, wären wir von Grund aus ehrlich, so würden wir bei jeder Debatte bloß darauf ausgehn, die Wahrheit zu Tage zu fördern, ganz unbekümmert ob solche unsrer zuerst aufgestellten Meinung oder der des Andern gemäß ausfiele: dies würde gleichgültig, oder wenigstens ganz und gar Nebensache sein. Aber jetzt ist es Hauptsache. Die angeborne Eitelkeit, die besonders hinsichtlich der Verstandeskräfte reizbar ist, will nicht haben, daß was wir zuerst aufgestellt, sich als falsch und das des Gegners als Recht ergebe. Hienach hätte nun zwar bloß jeder sich zu bemühen, nicht anders als richtig zu urteilen: wozu er erst denken und nachher sprechen müßte. Aber zur angebornen Eitelkeit gesellt sich bei den Meisten Geschwätzigkeit und angeborne Unredlichkeit. Sie reden, ehe sie gedacht haben, und wenn sie auch hinterher merken, daß ihre Behauptung falsch ist und sie Unrecht haben; so soll es doch scheinen, als wäre es umgekehrt. Das Interesse für die Wahrheit, welches wohl meistens bei Aufstellung des vermeintlich wahren Satzes das einzige Motiv gewesen, weicht jetzt ganz dem Interesse der Eitelkeit: wahr soll falsch und falsch soll wahr scheinen.


Arthur Schopenhauer

http://gutenberg.spiegel.de/schopenh/eristik/eristik.htm





Annemarie - 28.06.2005 um 12:26 Uhr

Liebe Jasmin,

die Kunst, Recht zu behalten, scheitert dort, wo der Ansatz zum Verstehenwollen da ist.
Wenn der andere es verbal versteht, Recht zu behalten, müssen wir uns nicht auf die gleiche Ebene mit ihm begeben. Wir können versuchen, das, was er sagt, zu verstehen, nicht nur akkustisch. So ist diese Art von Kommunikaton entwaffnend geworden. Recht behalten muß nur jemand, der sich in die Enge gedrängt fühlt. Geben wir ihm genug Raum, hat er das nicht mehr nötig.

Annemarie




Jasmin - 04.07.2005 um 18:29 Uhr

Liebe Annemarie,

ja, das stimmt. Da, wo der Wunsch existiert, die andere, fremde Gegenposition zu verstehen, da ist kein Bedürfnis, Recht zu behalten. Ich frage mich inzwischen auch, was es überhaupt für einen Sinn haben kann, Recht zu behalten. Das Wesentliche ist, sein Wissen und seine Kenntnisse zu erweitern, neue Perspektiven und Sichtweisen zu entdecken. Es ist auch wichtig, seinen eigenen Standpunkt zu verlassen und sich in die Position des Dialogpartners begeben zu können. Vor allem sollte man sich nicht allzu sehr mit seinen eigenen Meinungen und Ansichten identifizieren und auch Gegensätzliches gelten lassen.

Liebe Grüße
Jasmin




Kenon - 04.07.2005 um 20:10 Uhr

Mao meinte zu dieser Problematik:
Zitat:

Es kann nicht den geringsten Zweifel geben, daß wir falsche Ideen aller Art kritisieren müssen. Es geht natürlich nicht, sich der Kritik zu enthalten, untätig zuzuschauen, wie überall falsche Ansichten um sich greifen, und zu gestatten, daß sie das Feld beherrschen. Fehler müssen kritisiert und Giftpflanzen bekämpft werden, wo immer sie auftauchen. Aber eine solche Kritik soll nicht dogmatisch sein. [...] Was wir brauchen, ist eine wissenschaftliche Analyse, sind restlos überzeugende Argumente.




Jasmin - 04.07.2005 um 20:15 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 20:17:59 am 04.07.2005 editiert

Aber da fängt es ja schon an. Mao sagt damit, dass er weiß, was richtig und was falsch ist. Kann es das aber geben? Absolute Richtigkeit? Ich meine, nein. Die Einen glauben an die Mao-Fibel, die anderen an die Christen-Bibel. Wer hat Recht?

Die Antwort koennte heissen: Was wir brauchen, ist eine wissenschaftliche Analyse, sind restlos überzeugende Argumente. Wer also die besten Argumente hat, der hat Recht. Das grenzt natuerlich automatisch alles Metaphysische aus.




Kenon - 04.07.2005 um 20:25 Uhr

Jeder muss gemäß seiner Überzeugung handeln. Manchmal besteht dieses Handeln darin, nicht zu handeln. Mit einem faulen Frieden ist niemandem gedient.



Jasmin - 04.07.2005 um 20:33 Uhr

Ich bewundere Menschen, die eine feste Ueberzeugung haben. Diese absolute, dauerhafte Sicherheit kenne ich nicht.



Kenon - 04.07.2005 um 20:43 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 20:43:55 am 04.07.2005 editiert

Eine Überzeugung muss sich entwickeln, darf nicht erstarren, sonst ist sie tot und hat demzufolge nichts mehr mit dem Leben gemein. Ein grundlegendes Argument gegen jede Bibel.




Jasmin - 04.07.2005 um 23:36 Uhr

Das ist sicher ein gutes Argument. Auf der anderen Seite gibt es vielleicht Wahrheiten, die die Zeit überdauern. Oder ist das ein Trugschluss?



Kenon - 05.07.2005 um 11:23 Uhr

Diese Bücherreligionen mit ihrem Absolutheitsanspruch führen zu einem oft sehr seltsamen menschlichen Verhalten. Ich habe mal eine Anekdote aus den 1930er Jahren in der Sowjetunion gelesen, da ging es um das Beheben eines wirtschaftlichen Problems. Man analysierte aber nicht die eigene Lage und suchte auf dieser Grundlage nach geeigneten Lösungen, sondern verfiel darauf, in Karl Marxs Nachlass zu wühlen, ob darin nicht eine Antwort zu finden sei. Was aber hätte Karl Marx von diesem speziellen Problem wissen können?

Der Fehler der Buchreligiösen ist, dass sie sich die Wirklichkeit nach ihren sogenannten Wahrheiten zurechtbiegen müssen, um den Glauben an ihre Bücher aufrecht erhalten zu können. Eine dogmatische Religion ist immer eine bewusste Lüge.




Jasmin - 05.07.2005 um 15:15 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 15:16:10 am 05.07.2005 editiert

Zitat:

Eine dogmatische Religion ist immer eine bewusste Lüge.

Dazu der Anfang eines Aufsatzes von Olivier Descloux , Theologiestudent an der Theologischen Akademie in Giessen:

Das Neue Testament - historisch unglaubwürdig?


Am Anfang waren die Fakten

Im apostolischen Glaubensbekenntnis steht u. a. Folgendes: "…geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus…"

Der Grund, daß der Name "Pilatus" erwähnt wird, liegt im Bestreben der ersten Christen, herauszustreichen, daß die Person, an die sie glauben – nämlich Jesus Christus – tatsächlich als Persönlichkeit in der Geschichte existiert hat. Sie wollten nicht als Schwärmer gelten, die von einer mythischen Gestalt reden, die es nie gegeben hat.

Daraus lernen wir eines: Der christliche Glaube ist ein faktischer Glaube, weil er auf historischen Begebenheiten wie Kreuzigung und Auferstehung beruht.


Quelle:

http://www.nikodemus.net/1433-Das_Neue_Testament_historisch_unglaubwuerdig.htm




Kenon - 05.07.2005 um 15:28 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 15:30:49 am 05.07.2005 editiert

Die Bibel ist ein Sagenbuch. Was ist eine Sage?

Zitat:

Die Sage (von althochdeutsch saga = Gesagtes) ist eine kurze Erzählung, die auf volkstümlicher, urspünglich mündlicher Überlieferung beruht. Sie erhebt Anspruch auf Wahrheitsgehalt, hat aber meist wunderbare, fantastische Ereignisse zum Inhalt.

Quelle: wissen.de

Von der Wahrheit bleibt meist nur ein verkrüppelter Rest. Das wunderbare, phantastische hat, weil es so gut mundet und die Herzen in Aufregung versetzt, alles andere überwuchert. Das hat schon der junge Gorki auf seinen langen Reisen bemerkt: Die Wahrheit ist den Menschen zu trist, sie lieben die abenteuerlichsten Lügengeschichten. Je abenteuerlicher, um so besser; und mit einer eisernen Beharrlichkeit wird behauptet, dass sie nichts als die reine Wahrheit wiedergäben.

An dieser Stelle sei auch noch einmal auf das Thema Weltgeschichte verwiesen.




Jasmin - 05.07.2005 um 15:37 Uhr

Was mich immer wieder stutzig macht, ist die Tatsache, dass eine Reihe von Menschen, die einen intelligenten Eindruck machen, die ein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen haben, an die Bibel glauben. Wie kann das sein? Auch diese Nikodemus-Seite macht keinen unseriösen Eindruck auf mich. Das hat mich bei meinen Zweifeln immer irritiert, sodass ich gedacht habe – und wenn doch alles stimmt? Es gibt viele Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass Jesus lebt, dass sein Geist lebt. Ich weiß, dass Du jetzt den Kopf schüttelst, mein Gedanke ist aber, dass es vielleicht Dinge gibt, die unseren Verstand übersteigen.



Kenon - 05.07.2005 um 15:43 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 15:48:22 am 05.07.2005 editiert

"Kluge" Menschen können sich genauso irren wie weniger kluge. Auch sie sind anfällig für religiösen Nebel.

Die schöne Anekdote aus dem MoE mit dem "Befehl weitersagen"-Spielchen sagt doch alles. Die Bibel ist durch genau so ein Spielchen entstanden. Das für bare Münze zu nehmen, ist nichts anderes als Irrsinn. Gefährlich ist es obendrein.




Jasmin - 07.07.2005 um 18:25 Uhr

Zitat:

Die Bibel ist durch genau so ein Spielchen entstanden. Das für bare Münze zu nehmen, ist nichts anderes als Irrsinn. Gefährlich ist es obendrein.

Du scheinst Recht zu haben. In der Online-Ausgabe des Spiegels habe ich grade Folgendes gelesen:

"Verfasser unbekannt", stellen moderne Theologen hinsichtlich aller vier Evangelien einmütig fest. Viele Worte wurden Jesus nachträglich in den Mund gelegt, viele Berichte erweisen sich als Legenden.

Auch die Bücher Mose sind eher als "Fiktionsliteratur" einzuordnen. Waren die Autoren der Heiligen Schrift gar vorsätzliche Geschichtsverdreher? Archäologische Befunde haben den historischen Gehalt des Alten Testaments schwer erschüttert.



Quelle:

http://www.spiegel.de/archiv/dossiers/0,1518,268754,00.html




Kenon - 07.07.2005 um 19:18 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 19:25:03 am 07.07.2005 editiert

Stille Post hat wahrscheinlich jeder bereits im Kindergarten gespielt. Da wurde nur ein Wort oder Satz weitergereicht. Was mit ganzen Geschichten, die so übermittelt werden, passiert, kann sich jeder denken.




Jakob - 08.07.2005 um 23:20 Uhr

Zitat:

Diese Nachricht wurde von Arne um 15:48:22 am 05.07.2005 editiert

"Kluge" Menschen können sich genauso irren wie weniger kluge. Auch sie sind anfällig für religiösen Nebel.

Die schöne Anekdote aus dem MoE mit dem "Befehl weitersagen"-Spielchen sagt doch alles. Die Bibel ist durch genau so ein Spielchen entstanden. Das für bare Münze zu nehmen, ist nichts anderes als Irrsinn. Gefährlich ist es obendrein.

Die ganze Angelegenheit ist, wenn ich das einmal so sagen darf, durchaus etwas komplexer. Zum einen kann man nicht jeden Theologen mit dem anderen vergleichen; Nikodemus.net kommt aus dem evangelikalen Umfeld, welches dazu neigt, die Bibel als fundamental und bisweilen auch wortwörtlich zu nehmen; sie stehen damit in der Tradition der reformatorischen Biblizisten. Dies sollte man bei Aussagen wie den oben genannten berücksichtigen.
Die anderen theologischen bzw. exegetischen Strömungen gehen an die Bibel in der Regel heran wie an jeden anderen Text auch; mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Methoden und im wesentlichen konzentriert auf die Frage: Was will der Verfasser uns damit sagen. Ein Geschichtsbuch ist die Bibel jedenfalls nur in Nuancen.

Wobei ich mir nun aber die Frage stelle, was das Thema der Eristrik mit der Bibel zu tun hat. Stammt das zitierte Werk nicht vom Schopenhauer, seligen Angedenkens?




Jasmin - 22.07.2005 um 11:27 Uhr

Zitat:

Nikodemus.net kommt aus dem evangelikalen Umfeld, welches dazu neigt, die Bibel als fundamental und bisweilen auch wortwörtlich zu nehmen; sie stehen damit in der Tradition der reformatorischen Biblizisten. Dies sollte man bei Aussagen wie den oben genannten berücksichtigen.

Es ist auf jeden Fall interessant und anregend, die einzelnen Stellungnahmen auf Nikodemus.net zu lesen. Um den theologisch-theoretischen Hintergrund habe ich mich nicht so sehr gekümmert, muss ich gestehen, insofern fand ich Deine Informationen überdies sehr förderlich. Nikodemus.net ist die einzige "Bibel-Seite", bei der ich hängen geblieben bin, weil ich den Eindruck hatte, dass hier keine religiösen Eiferer am Werk sind, sondern intelligente und gebildete Menschen, die sich durchaus intellektuell sowohl mit der Bibel, als auch mit ihrem eigenen Glauben kritisch auseinander setzen. Ich habe zumindest viele Denkanstöße und einige Fragen beantwortet bekommen.


[Quote] Wobei ich mir nun aber die Frage stelle, was das Thema der Eristrik mit der Bibel zu tun hat. Stammt das zitierte Werk nicht vom Schopenhauer, seligen Angedenkens?

Ja, das zitierte Werk stammt von Schopenhauer. Bei diesem Text von ihm geht es, wie der Titel besagt, um die Kunst des Rechtbehaltens. Arne schrieb an einer Stelle "Diese Bücherreligionen mit ihrem Absolutheitsanspruch führen zu einem oft sehr seltsamen menschlichen Verhalten."
Und so kamen wir zur Kunst des Rechtbehaltenwollens insbesondere bei den Bücherreligionen.;)





Jasmin - 27.08.2005 um 15:50 Uhr

"Wer gern Recht behält, den überhört man."

Laotse




bodhi - 03.09.2005 um 21:51 Uhr

Was für einen Grund sollte es auch geben, in einer Diskussion Recht "behalten" zu wollen, wo jeder sein eigenes "hat"?



Jakob - 05.09.2005 um 21:07 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jakob um 21:07:46 am 05.09.2005 editiert

Zitat:

Was für einen Grund sollte es auch geben, in einer Diskussion Recht "behalten" zu wollen, wo jeder sein eigenes "hat"?

Interesse an der Wahrheit? Eine schwierige Angelegenheit, wenn jeder seine eigene hat.




bodhi - 05.09.2005 um 21:20 Uhr

Ich stimme Dir zu. Man sieht es täglich in der Welt, wie schwierig es sein kann, wenn es
verschiedene "Wahrheiten" gibt.




Jasmin - 05.09.2005 um 21:31 Uhr

Ja, Interesse an der Wahrheit. Und wenn man glaubt oder überzeugt davon ist, dass man der Wahrheit am nächsten ist, vielleicht, weil man Erfahrungen gemacht hat auf dem entsprechenden Gebiet, die der Dialogpartner noch nicht gemacht hat, dann hat man das Bedürfnis, den anderen zu überzeugen. Und dieses Überzeugenwollen kann manchmal als Rechthaberei aufgefasst werden.



bodhi - 05.09.2005 um 21:34 Uhr

Richtig. Weil der andere selbst seine Erfahrungen machen muss. Und dann kommt er vielleicht zu einer ganz anderen Erkenntnis.



Jakob - 05.09.2005 um 21:40 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jakob um 21:41:10 am 05.09.2005 editiert

Das gestrige "TV"-"Duell" war ein Musterbeispiel für angewandte Eristik. Es wurde auch deutlich, daß man hier weitestgehend ohne Wahrheit auskam.




bodhi - 05.09.2005 um 21:43 Uhr

Genau. Jeder "hatte" sein "Recht", und weiter hat´s uns nicht gebracht. Außer dass es unterhaltsam war...



Kenon - 07.09.2005 um 01:13 Uhr

Zitat:

Das gestrige "TV"-"Duell" war ein Musterbeispiel für angewandte Eristik. Es wurde auch deutlich, daß man hier weitestgehend ohne Wahrheit auskam.

Auf das Duell habe ich verzichtet. Was die Leute sagen, ist sowieso egal. Was hinterher geschieht, ist viel interessanter ---.

Duell oder nicht, wieviele kennen überhaupt die Wahlprogramme usw.?

Die meisten wählen aus emotionalen Gründen - oder ganz ohne Gründe.




Jakob - 07.09.2005 um 11:05 Uhr

Zitat:

Duell oder nicht, wieviele kennen überhaupt die Wahlprogramme usw.?

Die meisten wählen aus emotionalen Gründen - oder ganz ohne Gründe.

Ich habe den Eindruck, daß die andauernde und zähe Orientierungslosigkeit das ist, was die Wähler am allermeisten stört. Selbst jene, die neue Wege beschreiten wollen, zaudern und schämen sich, sie ducken und widersprechen sich.

Ein hektisches Getümmel auf dem politischen Schlachtfeld, in dem es längst nicht mehr um Inhalte, sondern um Präsenz und Darstellung geht.

Es scheint, als verteidige man ein gestaltloses höchstes Gut, mit Emphatie und Leidenschaft. Welches das sein soll, weiß hingegen niemand so genau. Gewiß gibt es Meinungen und Ansichten, aber Stringenz fehlt.

Dies sind die Zeiten, in denen der Nährboden für den Ruf nach starken Männern gut gedeihen kann.




bodhi - 08.09.2005 um 06:14 Uhr

Zitat:

Dies sind die Zeiten, in denen der Nährboden für den Ruf nach starken Männern gut gedeihen kann.

Gut gebrüllt, Löwe. Wenn ich Deinen Absatz den Menschen in meiner Nachbarschaft vorlesen würde, würden sie sagen: "Hä?"

Die Zeiten waren schon immer nährboden-präpariert für starke Männer (oder deren noch stärkere Frauen im Hintergrund), weil wir als Masse träge sind. Das ist einfach so. Solange alle fett und faul vor der Glotze liegen können, genug Bier im Kühlschrank ist und die Schwenkbraten zahlreich auf den Grillen brutzeln, weil Fleisch so billig ist, ist alles in Ordnung. Wenn aber das Bier teurer wird und die GEZ-Gebühren steigen und sich die Fleischpreise verdoppeln, dann schreien wir alle: "So geht´s doch nicht! Da muss doch einer was machen!"

Und dann kommt einer und sagt: "Wenn Ihr mich wählt, dann zahlt Ihr weniger Steuern, das Fleisch kostet nur noch die Hälfte, und es gibt Freibier für alle! Ich verspreche es Euch bei der Ehre meiner Mama! Ich bin der starke Mann/die starke Frau!", dann denken wir: Hm, Grillen für 50 Euro anstatt für 100 Euro", das macht mal 52 Wochen eine Ersparnis von...hm...wo war doch gleich der Taschenrechner... ich glaube beim Sperrmüll...

So geht das mit den Starken. Sie sprechen in einer einfachen Sprache den Pans an, wedeln mit den Armen, und schon haben wir eine Gefahr.




Jakob - 08.09.2005 um 16:47 Uhr

Es gibt für jeden Geschmack etwas



bodhi - 09.09.2005 um 05:57 Uhr

Oje, es ist schon schlimmer, als ich dachte...



Kenon - 09.09.2005 um 18:40 Uhr

Die APPD hat sich 1998 schon einmal bei den Bundestagswahlen versucht (oder wie man es nennen mag) und ist auf immerhin 35.347 Stimmen gekommen. Vorhin habe ich ein Wahlplakat von ihr gesehen: Meine Stimme für den Müll. Wenigstens ist die APPD schonungslos ehrlich - das hat sie anderen Parteien voraus. Außerdem kultiviert sie in ihrer Propaganda den Gebrauch der geliebten Madame Fraktur.



bodhi - 09.09.2005 um 19:15 Uhr

Wen würde ich wohl wählen, wenn sie alle schonungslos ehrlich wären? "Wir wollen nur Euer Bestes, nämlich Euer Geld". Oder so.



Kroni - 03.09.2006 um 17:31 Uhr

Schopenhauers "Eristrische Dialektik" ist eine ironische Einführung in die Rhetorik. Rhetorik bedeutet den Einsatz der Sprache als Machtmittel. Der Rhetor ist stets bestrebt, sein Auditorium zu einem Verhalten zu bewegen, daß es freiwillig nicht an den Tag legen würde. Das Auditorium kann übrigens auch aus einer einzigen Person bestehen, deren Widerstand es zu überwinden gilt. Überzeugen, Wahrheit finden, eines anderen Geist berühren - das sind Ziele, die dem Rhetor fremd sind. Es genügt völlig, wenn das Auditorium willfährig gemacht worden ist. Zusammengefasst: zwischen der Rhetorik und einer 344er Magnum besteht nur ein rein gradueller Unterschied.



bodhi - 03.09.2006 um 20:09 Uhr

Zitat:

Zusammengefasst: zwischen der Rhetorik und einer 344er Magnum besteht nur ein rein gradueller Unterschied.

Genau. Macht bleibt Macht, die Gewänder sind gar bunt.




LX.C - 06.09.2006 um 12:15 Uhr

[Quote]Schopenhauers "Eristrische Dialektik" ist eine ironische Einführung ...[/Quote]

Wieso eine ironische? Schopenhauers "Eristische Dialektik" ist doch ein ernsthafter Versuch, sich dem Thema anzunehmen, auch wenn die Abhandlung ein unausgearbeitetes Fragment blieb.




Gast873 - 06.09.2006 um 14:19 Uhr

Die "Eristische Dialektik" ist Schopenhauers Ernst, vor allem jedoch eine zweideutige Spitze gegen Hegel gewesen, dem er Spiegelfechterei, Windbeutelei und "Sophisterei" vorwirft, obwohl die "E.D." genau das proklamiert hat. Und zwar eben auch dem Platon zum Trotz, der ein für allemal mit den Sophisten abgerechnet hat, den er aber ansonsten immer vergötterte.

Gruß
Hyperion




Kroni - 06.09.2006 um 23:34 Uhr

Wer sich etwas intensiver mit "Logik und Argumentation" auseinandersetzen möchte, dem sei hier wärmstens das gleichnamige Büchlein von Chaim Perelman anempfohlen.

Perelman ist, wie der Name schon vermuten lässt, ein polnischer Jude, der in Brüssel einen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie innehatte. Sein mehrbändiges Hauptwerk, die "Nouvelle Rhetorique" ist leider nie ins Deutsche übertragen worden, hat aber auch in Deutschland einer neueren Rechtstheoretischen Schule den Namen geliehen. Der andere große Mann dieser Schule ist Theodor Viehweg, dessen "Topik und Jurisprudenz" ebenfalls empfehlenswert ist.

In der antiken Rhetorik, auf die auch Schopenhauer rekuriert, finden diese Rechtsdenker wesentlich bessere Entsprechungen zum tatsächlichen Funktionieren juristischer Argumentation, als in den Leerformeln der systematischen Jurisprudenz der Neuhegelianer (Larenz) oder der Logiker (Neumann, Alexy).

Rhetorik heute immer noch ein Arkanum geblieben - verständlicherweise. Denn Wissen um Rhetorik decouvriert einen Gutteil dessen, was als abendländische Wissenschaft daherkömmt, als ziemlich beliebiges Geschwätz.




LX.C - 07.09.2006 um 12:00 Uhr

[Quote]Wer sich etwas intensiver mit "Logik und Argumentation" auseinandersetzen möchte, dem sei hier wärmstens das gleichnamige Büchlein von Chaim Perelman anempfohlen.[/Quote]

Verstehe nicht, warum du an dieser Stelle ausgerechnet fremdsprachige Literatur der Rechtsphilosophie empfiehlst. Die Thematik ist zäh genug. Um philosophische Logik und Argumentation zu erlernen, sollte man sich lieber an Standartwerke halten, man versteht sie ja schon in deutsch kaum. Empfehlen würde ich das sowieso keinem. Man kann seine Freizeit mit angenehmeren Dingen gestallten.

In Schopenhauers Eristischer Dialektik geht es um Streitkunst, die voraussetzt, dass man weiß, wie Argumente zu bilden und Argumentationen zu führen sind. Man spricht ja generell immer von Argumenten, dabei wissen viele nicht mal, wie ein Argument aufgebaut ist. Es geht bei der Eristischen Dialektik also nicht darum, die Theorie der Logik und Argumentation an sich zu vermitteln, sondern eben um die Kunst, mittels verschiedener dialektischer Tricks, Recht zu behalten, auch wenn man unrecht hat.
Bei der philosophischen Logik und Argumentation steht ja eine korrekte Beweisführung im Vordergrund, um formallogisch die Wahrheit ans Licht zu bringen. Bei der Eristische Dialektik aber geht es nicht um eine Wahrheit, sondern darum, als Sieger einer Diskussion hervorzugehen, dabei ist es egal, ob man die Wahrheit spricht oder wissentlich/unwissentlich nicht. Schopenhauer verwirft dafür die Notwendigkeit einer korrekten Beweisführung, die in der Logik und Argumentation selbst ja zwingend ist.

Dass es für Logik und Argumentation sehr ausführliche Werke gibt, bedeutet also nicht, dass Schopenhauers Abhandlung als ironisch zu bezeichnen ist. Das sind zwei unterschiedliche Schuhe, auch wenn der eine in den anderen hineinpasst.




Kroni - 07.09.2006 um 13:12 Uhr

Zunächst einmal: "Logik und Argumentation" ist von Perleman selbst in Deutsch geschrieben bzw. übertragen worden. Es ist ein erstaunlich gut lesbares Büchlein von ca. 200 Seiten.

Meine versaubeutelte Dissertation "Zur Sicherungszession des GmbH-Anteils" hat mir eine wundervolle Zeit rechtsphilosophischer Studien im weitesten Sinne des Wortes beschert. Mein guter Professor hat dies sehenden Auges geduldet - meine förmliche Resignation haben wir großartig befeiert. Ich achte und verehre in ihm einen Lehrer, dem der materielle Lernerfolg wichtiger war, als die Erlangung irgendeines Titels. Für diese Studien standen mir seinerzeit die Möglichkeiten eines Lehrstuhls voll zur Verfügung, einschließlich des Zugangs zu Titeln, die von den diversen Bibliotheken normalerweise nicht verliehen werden ... ich wiederhole: eine der schönsten Zeiten meines Lebens.

Warum ich hier einen spezielleren Titel empfehle ?

Weil er besser verständlich ist, und eine (rhetorische) Argumentation besser gegen einen logischen Beweis abschichtet, als dies Schopenhauer gelungen ist - meo arbitrio.

Und ich empfehle dies guten Gewissens: ich lebe seit ca. 15 Jahren recht gut davon, Recht zu haben.

Gruß

Kroni




Gast873 - 07.09.2006 um 13:21 Uhr

Lieber Kroni,

aus dem Beitrag von LX.C geht deutlich hervor, dass es sich dabei um philosophische Logik handelt, während du die Juristerei und schiere Rabulistik in den Vordergrund rückst. Ich glaube du bist mehr zu bedauern, als du es weißt.

Gruß
Hyperion




Wolff - 07.09.2006 um 15:24 Uhr

Ewiges Recht-haben-Wollen (wie schreibt man das?) tötet jegliche Konversation (und macht einsam). Aber Konversation ist wohl auch nicht das Ziel von Rechthabern, dann wohl eher die Selbstdarstellung.

Übrigens waren/sind die großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts alle hervorragende Rhetoriker, aber auch riesengroße Charakterschweine.




Kroni - 07.09.2006 um 17:06 Uhr

Diese Nachricht wurde von Kroni um 17:09:09 am 07.09.2006 editiert

Lieber Hyperion !

So gerne ich - unter Umständen auch heftig - diskutiere, so möchte ich keinen Streit entfachen - indessen kann ich mich kaum entschlagen, Dir entgegenzuhalten, daß ich in diesem thread ... äh ... wie heißt das auf Deutsch ? Faden ? ... bislang über Rhetorik gesprochen habe, während Du Sie zumindest in Deinem letzten Beitrag praktiziert hast.

Tu quoque !

Gruß

Kroni (der sich schon seit seiner Kindheit regelmässig selbst bedauert hat)




LX.C - 07.09.2006 um 20:05 Uhr

Es ist schön, dass du um das Thema herum so viel aus deinem Lebenslauf erzählst, doch solltest du auch bei differenzierten Fakten bleiben. Die Schwammigkeit deiner Ausführung zum Thema folgt wohl doch eher Schopenhauers Eristischer Dialektik?

Ansonsten ist es natürlich löblich und spricht für dich, einen Lehrstuhl gehabt zu haben (ich nehme einfach mal zu deinem Vorteil an, dass du ihn ausschließlich durch Fachwissen erhalten hast), was mich in diesem Forum ganz sicher weder hindern noch einschüchtern wird, meine eigene Meinung nach bestem Wissen zu äußern und zu vertreten.

Deinen Literaturtipp (ob in englisch oder nicht) kann ich nach deiner zusätzlichen Erläuterung nun besser nachvollziehen, und es kann durchaus sein, dass er ein guter ist, was inhaltlich dennoch nichts an meinem Beitrag ändert.




Gast873 - 07.09.2006 um 23:10 Uhr

An Kroni,

das mit dem Vermeiden eines (möglichen)Streites geht in Ordnung, weil ich erstens auch nicht darauf erpicht bin, und zweitens ich den Ausgang eines solchen vor meinem geistigen Auge sehe: Es ist ein aporetischer. Da stehen sich gegenüber apriorische Wissenschaft (Philosophie) auf Diskussionshöhe mit empirischer Wissenschaft (Jurisprudenz).

Vielleicht können wir dennoch gerne darüber eines Tages bei einer Tasse Kaffee weiter reden. Der Beitrag von mir ganz oben war nicht böse gemeint.

Schönen Gruß
Hyperion




Kroni - 08.09.2006 um 22:40 Uhr

Lieber Tibor !

Jurisprudenz ist keine empirische Wissenschaft - sie ist noch nicht einmal Wissenschaft, wenngleich sie sich das Gewand der Rechtswissenschaft zugelegt hat, daß ihr indessen garnicht gut steht.

Jurisprudenz ist eine Kunst - ars, techne; die Auffassung der "Nouvelle rhetorique", der ich folge ist die, daß es sich bei der Jurisprudenz um eine spezielle Rhetorik handelt: Die Kunst, aus einem (heute großenteils informell vermittelten) Katalog von Topoi zu überzeugenden Entscheidungen von Rechtsfragen zu kommen. Zur Topik des Aristoteles (Organon V) gibt es hier auf dieser Seite übrigens eine recht gute Einführung.

Als Rhetorik ist Jurisprudenz älter als jede Wissenschaft, und meiner Meinung nach ist die Rhetorik auch ein Bestandteil von Philosophie, da ein überzeugendes Argumentieren jenseits der Rhetorik nur in Form des logischen Beweises denkbar ist. In konsequenter Verfolgung dieser These hat sich die abendländische Philosophie teilweise selbst kastriert, indem sie sich völlig auf das Gebiet der formalen Logik verweisen lies. Ich erwähne hier nur einmal Schlaglichtartig Kamlah/Lorenzen´s "Logische Propädeutik" und Ludwig Wittgenstein.

Aus diesen ätherischen Gefilden in die Niederungen der praktischen Rhetorik zurück:

Die Erkenntnis ist erschütternd, in wieweit Sprache in einer entwickelten Gesellschaft Machtmittel ist - ich würde sogar sagen: primär Machtmittel und erst sekundär Kommunikationsmedium.

Man muß sehr konsequent Umdenken in der Folge diese Erkenntnis.

Lieben Gruß

Kroni




Gast873 - 12.09.2006 um 13:36 Uhr

Diese Nachricht wurde von Hyperion um 13:49:48 am 12.09.2006 editiert

Lieber Kroni,

vielen Dank für die interessanten Thesen Deinerseits, wobei hier schon mal auf den philosophisch-wissenschaftlichen Unterschied zwischen Thesen, Glauben und Meinungen( doxa) und Erkenntnis (episteme) angespielt sei. Dass die Jurisprudenz eine empirische Wissenschaft IST, steht überhaupt nicht zur Debatte, nicht mal im Prä-Reflexiven, im vortheoretischen Bewusstsein. Denn wenn das das entscheidende Kriterium ist, dass die Sprache das gemeinsame Glied beider Wissenschaften ist, dann kann ja jede (Natur-)Wissenschaft den Anspruch für sich erheben sich im sprachlich-logischen Raum zu bewegen und somit apriorisch zu sein. Dies bleibt aber genuin-explizit der Philosophie vorbehalten, dass sie sich selbst zu erklären vermag, d.h. mit begrifflich-logischen Argumenten vermag sie sich selbst zu begründen, Jurisprudenz nicht, das ist auch nicht ihre Aufgabe und übersteigt, die Frage nach dem Warum, nach dem Schönen und Guten derselben, stellt sich dabei nicht, ihre Kompetenzen.

Auch hier, ich hätte es als Germanist für natürlich befunden, den Ausdruck „Juristerei“ als Stück Dichtung aus dem „Faust“ anzusehen, verweise ich auf die versöhnlichen Worte Schillers, der sich nach kleineren Meinungsverschiedenheiten Fichte nähern wollte:

„die Maxime der gesunden Vernunft zu adoptieren, welche lehrt, dass man Dinge, die einander nicht gleichzusetzen sind, einander auch nicht entgegen setzen müsse“.

Mit dir stimme ich übrigens vollkommen darin überein, dass die formale Logik mit ihrer rudimentären Rhetorik aus „X“ und „Y,“ „p“ und „q“, eher eine syllogistische Abwertung der Philosophie als deren glückszuträgliche wahrheitsstiftende Liebe zur Weisheit darstellt und in den Bereich der Mathematik getrost verwiesen werden kann. Auf die Sprachtradition eines Frege, Wittgenstein, Russel, Quine und Co. werden wir also beide nicht rekurrieren müssen. Für mich tut sich zwischen uns qua Wissenschaftler ein Universum, eine Diskrepanz vielmehr im ethischen Dissens auf. Ich kann dir gerne in einer persönlichen Mail erklären, was ich unter dem Begriff eines Sophisten verstehe, und warum ich solche als ruchlose Menschen bezeichne, mit allen gefährlichen Risiken, die mit einer bestimmten Berufsgruppe damit verknüpft sind.

Fürderhin, wissen wir seit Aristoteles, dass der Mensch ein zoon politikon (ein politisches Wesen) ist, und dass niemand für sich alleine auf einer einsamen Insel lebt, deshalb steht die Sprache niemals als ein Mittel zum Zweck (sophistisches nomos) in der Philosophie da, sondern dient der gemeinsamen Wahrheitssuche und Erkenntnisgewinn (Epistemologie) letztendlich im Dienste der Menschheit. Die von dir beschriebene Rhetorik halte ich für eine gefährliche Hydra, die nur egoistisches Unheil stiftet und nicht zum Wohle der Menschheit die Kräfte verbindet.

Schönen Gruß
Hyperion




Kroni - 12.09.2006 um 14:44 Uhr

Diese Nachricht wurde von Kroni um 14:45:45 am 12.09.2006 editiert

Lieber Tibor !

Über die systematische Einordnung von Jurisprudenz, Wissenschaften und Philosophie kann man ebenfalls trefflich streiten - indessen kann man hier auch vieles dahingestellt lassen: das Wesentliche dürfte klar geworden sein, und eine sehenden Auges in Kauf genommene Unschärfte nützt oft mehr als das Beharren auf dem Postulat der absoluten Präzision, das eh kaum wirklich einzulösen ist.

Gerne kannst Du mir persönlich schreiben, wenn Du das möchtest - aber auch das ist m.E. nicht notwendig für die Fortsetzung unserer öffentlichen Diskussion. Auch hier meine ich durchaus die Grundzüge zu erahnen von dem, was Du mir schreiben würdest.

Das Vermutete im Hinterkopf mit einbeziehend, antworte ich dem letzten Teil Deines letzten hiesigen Schreibens wie folgt:

Durch die Diffamierung der Rhetorik und ihrer Jünger schafft man sie nicht aus der Welt. Das wird versucht, seit Rhetorik professionell - und das heißt vor allem: zum Erwerb von Geld und anderen Machtmitteln - betrieben wird, und seither ist diesen Bemühungen wenig Erfolg beschieden. Die Karawane zieht weiter, auch wenn die Schakale bellen.

Mein guter Professor hat dies mal so schön in die simplen Worte gefasst:

"Es ist mir wurscht, daß mich die Leute ´Rechtsverdreher´ schimpfen, solange sie kommen, und meine Honorare zahlen!"

Rhetorik mit ihren Voraussetzungen und Annahmen, wie auch in ihren Mitteln und Zielen widerspricht völlig dem Menschenbild, daß wir Abendländer in uns tragen vom Vernunftbegabten Wesen, das zum Edelen, Guten und Schönen strebe. Das "Menschenbild" der Rhetorik dagegen sieht den Menschen als in Leidenschaften und Trieben gefangenes Tier, dessen Beherrschung zu grundsätzlich beliebigem Zweck erstrebt wird - was mit erstaunlicher Effizienz auch immer wieder gelingt.

Man kann das nicht wegdiskutieren - nur sich in einen Elfenbeinturm einmauern mit einigen anderen Gutmenschen, und dem Rest der Welt den Fedehandschuh hinwerfen - nur metaphorisch freilich, und in der theoretischen Diskussion, so wie der Ethiklehrer sich vormittags im philosophischen Hauptseminar ganz anders verhält, als in der Gremiensitzung am Nachmittag, in der es um die Verteilung von "Mitteln" geht.

Ich meine, daß hier allenfalls Aufklärung und Bewußtmachung der Prinzipien dem Zwecke dienlich sein könnte, vielleicht in der Zukunft etwas menschlicher miteinander umzugehen, als es in den vergangenen Jahrtausenden und derzeit der Fall ist.

Lieben Gruß

Peter Kronenberger




Gast873 - 12.09.2006 um 16:52 Uhr

Zitat:

Diese Nachricht wurde von Kroni um 14:45:45 am 12.09.2006 editiert

Aufklärung und Bewußtmachung der Prinzipien dem Zwecke dienlich sein könnte, vielleicht in der Zukunft etwas menschlicher miteinander umzugehen, als es in den vergangenen Jahrtausenden und derzeit der Fall ist.

Lieben Gruß

Peter Kronenberger

Quod erat demonstrandum.

Genau meine Rede, denn ich bin weder blauäugig genug, noch heiße ich Platon oder Agathon, um zu glauben, dass man mit einem jugendlichen Idealismus die Welt schlagartig verbessern kann. Aber man fängt im Kleinen an. Übrigens bin ich nicht nur darüber hinaus, sondern auch vernünftig genug die egoisische, solipsistische Welt als durchaus realistisch präsent einschätzen zu können, allein die Vernunft gebietet mir nach dem Rechten (nach normativen statt nach deskriptiven Werten) zu schauen. Und hier hat niemand im Forum gebellt, sondern ich habe versucht begrifflich-argumentativ zu denken, was sich offenbar bei nicht-philosophisch geschulten Köpfen als durchaus schwierig erweisen kann. Doch habe ich nicht darauf schon aufmerksam gemacht, dass es nur eine rhetorische Überbietung mittels der Sprache, denn der Argumentationsgang hat auf der diskursiven Ebene gerade begonnen, auf dem Weg zur Aporie sich selbst nur aus dem Tautologischen, aus der Negation dessen, was man beweisen will, generieren und subtrahieren kann.

Sind die Nomoi wirklich nur ein Spielball der menschlichen Schwäche oder unterschätzt du den Verstand des Menschen zu sehr, um ihn auf die animalische Ebene zu reduzieren und degradieren und als desto sicherer für mundtot erklären zu wollen?

Gruß
Hyperion

Gruß
Hyperion




Kroni - 13.09.2006 um 22:20 Uhr

Lieber Tibor !

Die Frage krass beantwortet: ich halte vom Verstand nicht mehr sehr viel, jedenfalls weniger, als es die meisten wohl tun.

Indessen bin ich der Meinung, daß die Geistigkeit des Menschen noch so einiges Potential birgt, wenn es gelingt, diese aus der im Abendland selbst auferlegten Beschränkung auf die Vernunft zu befreien.

Ich vermute, daß sich der menschliche Geist in früheren Zeiten, in denen die Vernunft nicht das unbedingte Maß aller Dinge sein sollte, freier entfalten konnte, als heutezutage.

Topik, Rhetorik, Strategie - alldies wird schon seit langem nicht mehr gelehrt und studiert. Sie gelten als unvernünftig - immer noch oder schon wieder. Man beschränkt sich auf Wissenschaft. Carl Popper hat´s möglich gemacht, einfach so weiterzuwurschteln, als ob nichts gewesen wäre, als ob es Heissenberg und Gödel nie gegeben hätte.

Nicht nur finanzwirtschaftlich ist unsere Gesellschaft wiederrum in einer Zeit vor 1789 angekommen - fragt sich nur noch, wieviel Zeit noch bleibt.

Lieben Gruß zum Abend

Peter K.




LX.C - 26.05.2007 um 18:32 Uhr

[Quote]Daß du allzu gewissenhaft bist mit Wortwahl und Satzbau, mein Lucilius, will ich nicht: ich kenne wichtigere Dinge, um die du dich kümmern kannst. Frage was du schreiben kannst, nicht, wie; und eben das nicht, damit du schreibst, sondern nachdenkst, damit du deine Gedanken dir zu eigen machst und sie gleichsam siegelst. Wessen Redeweise immer du für besorgt und gefeilt hältst, bei dem ist auch die Seele – sollst du wissen – ebenso von Belanglosigkeit in Anspruch genommen. Ein bedeutender Mensch formuliert entspannter und selbstsicherer; was immer er sagt, es enthält mehr Selbstvertrauen als Sorgfalt. […] Die Sprache ist das Kleid der Seele; wenn sie wohlfrisiert, geschminkt und künstlich hergerichtet ist, zeigt sie, dass auch die Seele ihrer nicht sicher ist und etwas gebrochenes an sich hat […] Daher wird die Philosophie für dich durch das förderlich sein, was meine ich, das Beste von allem ist: niemals wirst du Reue über dich selbst empfinden. Zu diesem fest gegründeten Glück, das kein Sturm erschüttern kann, werden dir nicht verhelfen sorgsam formulierte Worte und eine sanft dahinfließende Redeweise: sie mögen daherkommen, wie sie wollen, wenn nur die harmonische Verfassung der Seele Beatand hat, wenn sie nur groß und erhaben über Meinungen bleibt und sie wegen eben der Dinge, die anderen mißfallen, mit sich selbst einverstanden ist […]

Seneca: Ad Lucilium eoistolae. An Lucilius Briefe über Ethik, Hg. von M. Rosenbach, Darmstadt 1980, 115,1-2 und 18.
[/Quote]




URL: https://www.versalia.de/forum/beitrag.php?board=v_forum&thread=1373
© 2001-2024 by Arne-Wigand Baganz // versalia.de