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--- Maxim Gorki

Kenon - 10.05.2005 um 14:32 Uhr

Maxim Gorki, der Bittere, der Sturmvogel der Revolution, geboren am 28. März 1868 in Nishnij Nowgorod, gestorben am 18. Juni 1936, durch großmütterliche Erzählungen an die Volkspoesie herangeführt, unternimmt 1887 einen Selbstmordversuch, veröffentlicht 1892 seine erste Erzählung "Makar Tschudra" in der Zeitung "Kaukasus". Unzählige weitere Werke folgen, darunter das unvergessliche "Lied vom Falken" und "Die alte Isergil". Gorki arbeitet als Redakteur für verschiedene Zeitungen, bringt 1898 zum ersten Mal eine Sammlung seiner Erzählungen in zwei Bänden heraus, wird kurz darauf verhaftet, wieder freigelassen und unter Polizeiaufsicht gestellt. 1899 erscheint sein erster Roman "Foma Gordejew", er trifft mit Anton Tschechow zusammen, ein Jahr später mit Lew Tolstoi. 1901 wird Gorki erneut verhaftet und nach Arsamas verbannt, seine Theaterstücke "Die Kleinbürger" (1901) und "Nachtasyl" (1902) werden große Publikumserfolge; 1905 wird Gorki mit Lenin bekannt, 1906 geht er ins ausländische Exil, zuerst nach Helsinki, dann Berlin, später bereist er Frankreich und die USA, bis er sich schließlich in Capri niederlässt. 1913, als sein autobiographischer Roman "Meine Kindheit" erscheint, kehrt er aufgrund einer Amnestie ins zaristische Russland zurück. 1915 trifft Gorki den jungen Dichter Majakowski und hilft diesem bei der Veröffentlichung seiner Werke. In den folgenden Jahren organisiert Gorki verschiedene Zeitungen und einen Verlag, seine Skepsis gegenüber der Oktoberrevolution 1917 führt zu einer Auseinandersetzung mit Lenin, Gorkis Zeitung "Nowaja Schisn" wird, da sie sowjetische Misstände wie die Lynchjustiz und das Gift der Macht geisselt, 1918 verboten und 1921 legt ihm Lenin nahe, seine Tuberkulose im Ausland behandeln zu lassen, was zu Aufenthalten im Schwarzwald, Berlin, im Ostseebad Heringsdorf und italienischen Sorrent führt. 1927 wird Gorki von der Kommunistischen Akademie als proletarischer Schriftsteller anerkannt, kehrt 1931 in die Sowjetunion zurück und erhält dort 1932 den Lenin-Orden. Gorki distanziert sich, beeindruckt von ihren Erfolgen, von seiner früheren Skepsis gegenüber der Revolution und führt ein von KGB-Spitzeln überwachtes Leben in einer Villa nahe Moskau. 1934 eröffnet Gorki den "Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller" und wird Vorsitzender des Sowjetischen Schriftstellerverbandes. "Die Mutter" wird zum Vorzeigewerk des Sozialistischen Realismus erkoren.

"Nur mit der Kraft des Gedankens ausgerüstet - bald ist sie einem Blitze ähnlich, bald kühl und ruhig wie ein Schwert -, schreitet der freie, stolze Mensch weit vor der Menge und auf höherer Bahn als das Leben, allein inmitten der Rätsel des Seins, allein inmitten seiner zahlreichen Fehler . . .
[...] In seiner Brust tosen die Triebe: Widrig quält ihn die Stimme der Selbstsucht und fordert Gaben wie ein frecher Bettler; [...] Düsternis aller Art und Nichtigkeiten des Lebens sammeln sich auf seinem Wege an wie Schmutz und sind wie eine abscheuliche Kröte.
[...] Und nur der Gedanke ist des Menschen Freund und von ihm unzertrennlich, und allein die Flamme des Gedankens erleuchtet die auf seiner Bahn vor ihm liegenden Hindernisse, die Lebensrätsel, die dämmernden Geheimnisse der Natur und das finstere Chaos in seinem Herzen.
In Freiheit schaut der Gedanke als Freund des Menschen scharfsichtig und aufmerksam überall hin und beleuchtet alles schonungslos; die hinterlistigen und abgeschmackten Kniffe der Liebe, ihre Wünsche, das Geliebte zu beherrschen, ihre Anstrengung, es zu demütigen, und daß es sich demütigen läßt, und das schmutzige Antlitz der Sinnlichkeit hinter ihr; [...]
So zieht der Mensch im Aufruhr mitten durch das unheimliche Dunkel der Rätsel des Daseins, vorwärts und höher, immer mehr vorwärts und höher."


Aus: "Der Mensch"




LX.C - 10.05.2005 um 18:54 Uhr

Sehr interessant.

Wenn ich noch eine kleine Anmerkung machen darf.
Gorki hat den I. Allunionskongreß (offiziell der Gründungskongreß des sowjetischen Schriftstellerverbandes) nicht nur mit einer dreistündigen Rede eröffnet, sondern war auch maßgeblich an der Vorbereitung und Organisation des Kongresses beteiligt. Stalin veranlaßte die Durchführung des Kongresses, aus diesem Grund schöpften viele Schriftsteller unter Stalin zunächst auch große Hoffnungen, und Gorki war der Vorsitzende des Organisationskomitees. Das hat ihn zwei Jahre seines Lebens gekostet, 1932-1934, so lange dauerte die Vorbereitung. Vermutlich war dann Gorkis Auftritt auf dem Kongreß der größte seines Lebens.




Kenon - 10.05.2005 um 20:35 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 20:36:35 am 10.05.2005 editiert

Vielen Dank für Deine Anmerkungen, LX.C. Ich habe schon beim Recherchieren gemerkt, dass die verschiedenen Quellen zu den letzten Lebensjahren Gorkis recht schwammig sind. Interessant wäre, zu erfahren, was die genaue Motivation Gorkis war, doch in die SU zurückzukehren, nachdem ihn Lenin quasi hinausgebeten hatte. Vielleicht spielen ganz einfach auch monetäre Gründe eine große Rolle, zudem soll er im faschistischen Italien, das ihm zuletzt als Exil diente, kein besonders gern gesehener Gast gewesen sein.

Die Auseinandersetzungen Lenins mit Gorki habe ich gerade bei Lenin nachgelesen. Dort ist auch sehr gut ersichtlich, wie Gorki für die Partei instrumentalisiert worden ist, z.B. benutzte man ihn bewusst, um die Verkaufszahlen der Prawda zu steigern etc. Lenin kritisierte vor allem Gorkis ablehnende Haltung gegenüber dem Marxschen Materialismus, der, wie Gorki meinte, nur zu einem neuen Spießbürgertum führen würde. Da deckt er sich übrigens mit Majakowski, wobei Gorki das bereits schon vorausschauend erkannt hatte. Ein anderer großer Streitpunkt war die Gottesfrage, die Gorki nicht so radikal sehen wollte wie Lenin. Im Prinzip haben die beiden da immer noch über den Materialismus gestritten.

Im Anschluss an den Allunions-Kongress, so habe ich gelesen, sollen ca. 2000 Schriftsteller, die nicht zur offiziellen Linie passten, inhaftiert worden sein, viele davon haben die Haftzeit nicht überlebt.

Auch wenn seine ideologischen Verstrickungen auf manchen abschreckend wirken, so ist Gorki (viel mehr noch übrigens als Johannes R. Becher) kein Fall für den Komposthaufen der Geschichte. In seinen Werken steckt so viel Menschlichkeit, so viel Gutes - eine bald unbeschreibbar große Seele. So mancher heutige Schriftsteller sollte sich ein Beispiel an ihm nehmen, anstatt seinen kranken Hedonismus zu pflegen und der Gesellschaft genau das zu geben, was sie am einfachsten verwerten kann.




LX.C - 11.05.2005 um 15:42 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 15:46:37 am 11.05.2005 editiert

[Quote]Im Anschluss an den Allunions-Kongress, so habe ich gelesen, sollen ca. 2000 Schriftsteller, die nicht zur offiziellen Linie passten, inhaftiert worden sein, viele davon haben die Haftzeit nicht überlebt.[/Quote]
Ja, nicht gleich im Anschluß, sondern im Zuge Stalins bekannter "Aufräumaktion“, wobei überhaupt nicht mehr auszumachen war, was denn nun überhaupt noch die offizielle Linie war.
Es gab keine festen Regeln, die einen hätten schützen können, Denunziation wurde so zum Alltag.
Es muß eine schlimme Zeit gewesen sein, nicht nur für die Schriftsteller, doch vor allem die deutschen Schriftsteller, die sich vom Exil im Mutterland des Kommunismus großes erhofften, kamen vom Regen in die Traufe. Übrigens fanden Stalins Schauprozesse im selben Gebäude statt, wie der hoffnungsvolle Allunionskongreß.
[Quote]so ist Gorki (viel mehr noch übrigens als Johannes R. Becher) kein Fall für den Komposthaufen der Geschichte[/Quote]
Auf keinen Fall, weder für den Komposthaufen der Geschichte, noch für den der Literatur.

Zu den übrigen Punkten kann ich jetzt wenig sagen, außer, daß Stalin an Gorki einen Narren gefressen hatte. Vielleicht kam er deshalb zurück. Er lebte ja nun auch fern der sowjetisch kommunistischen Realität in einer Villa, und es fehlte ihm leiblich an nichts.




Kenon - 11.05.2005 um 19:20 Uhr

Zitat:

Er lebte ja nun auch fern der sowjetisch kommunistischen Realität in einer Villa, und es fehlte ihm leiblich an nichts.

Allerdings durfte er die Sowjetunion aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Stalin auch nicht mehr verlassen.

Folgende Anekdote habe ich heute gefunden, es geht um das Solowezki-Kloster, das zum Teil eines Straflagers wurde:

"Die Erwartungen der Skrupellosen an das Straflager scheinen sogar überzogen worden zu sein, denn Stalin persönlich ordnete einen Besuch des Schriftstellers Maxim Gorki auf der Insel an. Doch trotz bester Vorbereitung gelang es nicht, den Besucher ganz von der Wirklichkeit abzuschirmen. Traurig und enttäuscht soll er auf das Schiff zurückgekehrt sein, nachdem ein heranwachsender Häftling bis zu ihm vordringen konnte und ihn die bittere Wahrheit wissen ließ. Die Wand der Potjomkinschen Dörfer war durchbrochen. Der Literat erkannte jedoch selbst, dass er ein Gefangener des Systems war und keinem der Unglücklichen helfen konnte. Die Grausamkeiten wurden fortgesetzt, nur noch besser abgeschirmt als zuvor."

Quelle: Moskauer Deutsche Zeitung

Ein Auszug aus Gorkis "Unzeitgemäßen Gedanken über Kultur und Revolution" findet sich übrigens hier: Maxim Gorki

Noch deutlicher ist ein Brief vom 06.09.1919 an Lenin:

„Ich weiß, Sie werden mir auch diesmal vorhalten, daß es ein ‚politischer Kampf‘ ist und daß derjenige, ‚der nicht für uns ist, gegen uns ist‘, daß ‚neutrale Menschen gefährlich sind‘. Wladimir Iljitsch. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich mich ganz auf die Seite dieser Menschen stelle. Ich will lieber verhaftet und eingesperrt werden, als an der Zerstörung der besten und wertvollsten Kräfte des russischen Volkes mitschuldig zu sein, wenn auch nur passiv. Denn eines ist mir jetzt klar, ‚die Roten‘ sind ebenso große Feinde des Volkes wie ‚die Weißen‘.“

Aus einem Bericht Gorkis über den Besuch seiner Heimatstadt in seinen letzten Lebensjahren:

„In Nishni werden die Leute weggejagt, wenn sie versuchen, mit dem Sohn ihrer Stadt Kontakt aufzunehmen ... Auf dem Deck wimmelt es von Polizeispitzeln. Wenn fotografiert wird, müssen einige weiße Jacken anziehen, es sind nicht genug Matrosenuniformen vorhanden.“ (aus: Geir Kjetsaa: Maxim Gorki. Eine Biographie.)


Heute ist Gorki selbst zum Unzeitgemäßen abgestempelt worden. Ausser seinen Theaterstücken "Nachtasyl", "Die Kleinbürger" und "Sommergäste" sowie ein paar kleinen Novellensammlungen ist derzeit nichts mehr von ihm im Druck. Da bleiben wieder nur die Antiquariate...




LX.C - 12.05.2005 um 16:11 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 16:13:09 am 12.05.2005 editiert

Ja, wie ich das raus lese, sind das alles Berichte über Gorki, nach Beginn der "großen Säuberung“. Sehe ich das richtig?

Mit Sicherheit war Gorki nicht blauäugig und natürlich auch bitterlich enttäuscht von den Machenschaften, was Stalin sicher nicht entging. Nun könnte man ihm vorwerfen, ein Volksheld wie Gorki hätte sich konsequent auflehnen müssen, aber was hätte er schon erreichen können.
Das Zitat: „Der Literat erkannte jedoch selbst, daß er ein Gefangener des Systems war und keinem der Unglücklichen helfen konnte“, zeigt denke ich ziemlich deutlich seine verständliche Hilflosigkeit.

Zum Zeitpunkt des Allunionskongresses aber erntete er von Stalin noch großes Lob.
Und ich bin mir nicht mehr sicher, ob er und wenn ja welche Rolle er 1935 auf dem "Kongreß zur Verteidigung der Kultur" in Paris spielte. Es scheint aber tatsächlich so, daß ab 1934/1935 auch für ihn die Sterne unter Stalin schlecht standen. Die ungeklärten Umstände seines Todes 1936 sprechen auch nicht gerade für ein friedliches Leben nach besagter Zeit.




Kenon - 12.05.2005 um 19:15 Uhr

Zitat:

Ja, wie ich das raus lese, sind das alles Berichte über Gorki, nach Beginn der "großen Säuberung“. Sehe ich das richtig?

Die sogenannte Große Säuberung fand meines Wissens nach erst in den Jahren 1937-1938 statt, also als Gorki schon gestorben war, den Anfang nahm die Tschistka aber 1934 mit der Ermordung Kirows und den darauf folgenden Prozessen, die sicherlich auch an Gorki nicht unbemerkt vorbeigegangen sind. Es ist alles in allem sehr undurchsichtig. Für die beiden Zitate habe ich auch keine Jahreszahlen, sie sind aber ganz sicher nach 1927 zu datieren. Ein Mensch wie Gorki hat für Stalin sicherlich auch eine große Gefahr dargestellt, man bedenke nur seine offenherzige Kritik an Lenin im Jahre 1919, die ich weiter oben zitiert habe. Sie zeigt, dass er sich selbst nicht geschont hätte, um sich für andere einzusetzen.

Man muss sich wohl letztlich an das halten, was von Gorki übriggeblieben ist: Seine Bücher, seine Worte.




LX.C - 12.05.2005 um 20:41 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 20:54:30 am 12.05.2005 editiert

[Quote]Für die beiden Zitate habe ich auch keine Jahreszahlen, sie sind aber ganz sicher nach 1927 zu datieren.[/Quote]

Wenn ich das noch mal anmerken darf, anhand meines Wissensstandes über Gorki, würde ich die Zitate nach 1934 einordnen.

Und mit "Großer Säuberung" (1934-1939) meinte ich natürlich auch die Anfänge, zu denen die von Dir angesprochenen Prozesse (die Schauprozesse) dazugehörten.




LX.C - 12.05.2005 um 21:37 Uhr

Um noch mal konkreter zu werden, die Schauprozesse waren 1935
und die Datierung der Säuberung will ich unter Vorbehalt genannt haben, da Trotzki ja beispielsweise noch 1940 in Mexiko von Stalins Geheimdienst ermordet wurde.
Um uns anzunähern, ich meinte mit "Großer Säuberung" umfassend die Auswirkungen Stalins Verfolgungswahns, welche Gorki eben durchaus vor 1936, beispielsweise durch die Schauprozesse, noch mitbekommen hat.




Kenon - 12.05.2005 um 22:17 Uhr

Es bleiben eine Menge Fragen offen.

Mein Gorki-Lesebuch aus dem Aufbau-Verlag von 1966 zeichnet die letzten Lebensjahre des Dichters wie folgt:

1928
Gorki kehrt in die UdSSR zurück. In der ganzen Sowjetunion wird sein sechzigster Geburtstag feierlich begangen. Er unternimmt eine Reise durch die UdSSR.

1929
Gorki bereist zum zweiten Mal die Sowjetunion. Er besucht die Stätten des sozialistischen Aufbaus, weilt an der Wolga, in der Ukraine, Murmansk usw.

1931
Gorki schreibt das Drama "Somow und andere"

1932
[...] Er [Gorki] feiert die vierzigjährige Tätigkeit als Schriftsteller und Revolutionär und wird mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet. Besuch der sozialistischen Großbauten ("Dneprostroi") und des Sowjetgutes "Gigant".

1934
Gorki eröffnet den "Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller". Er wird Vorsitzender des Sowjetischen Schriftstellerverbandes. Sein Sohn, Maxim Alexejewitsch Peschkow, stirbt.

1935
Treffen Gorkis mit Romain Rolland.

1936
Zum 50. Geburtstag des von den Nazis in den Kerker geworfenen deutschen Arbeiterführers Ernst Thälmann sendet Gorki eine Grußbotschaft. Am 18. Juni stirbt Gorki.




LX.C - 12.05.2005 um 22:54 Uhr

Denke, das widerspricht sich ja nicht mit dem, was wir bisher ergänzt haben.
Klingt allerdings tatsächlich ziemlich dürftig und lückenhaft.




Kenon - 12.05.2005 um 23:14 Uhr

Zitat:

Klingt allerdings tatsächlich ziemlich dürftig und lückenhaft.

Im Prinzip ist es sehr verwunderlich, dass überhaupt irgendetwas, das kein neues (Staats)Gesetz war, gedruckt werden konnte. 100%-ig konnte ja sowieso niemand die Linie treffen, selbst, wenn er sich die größte Mühe gab.

Die mir vorliegende Biographie ist optisch zweigeteilt gedruckt. Einem fetten schwarzen Absatz Welt/SU-Geschichte folgen immer ein paar rote Brocken über Gorkis Leben, damit man auch schön alles in den Kontext einordnen kann.

In meinem Lesebuch wird auch der "Kultautor" N. Ostrowski ("Als der Stahl gehärtet wurde") erwähnt, ebenfalls 1936 gestorben (Baujahr 1904). Leider habe ich keine Biographie zu ihm finden können. Das Todesjahr erscheint jedenfalls auf den ersten Blick verdächtig...




Kenon - 14.05.2005 um 16:51 Uhr

Ich glaube, dass sich Gorki nach seiner Rückkehr doch mit den herrschenden Verhältnissen in der Sowjetunion arrangiert hat. Auch wenn ihm die vielen Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten nicht entgangen sein dürften, so wird er sich dennoch dafür entschieden haben, das beste daraus zu machen; gab es denn überhaupt Alternativen? Diese Einstellung wird jedenfalls in seinen Aufsätzen und Zeitungsartikeln der 30er Jahre deutlich.

Ich war zeit meines Lebens ein "Pazifist". [...] Aber nach dem heroischen Krieg, den unsere hungrigen, barfüßigen, halbnackten Arbeiter und Bauern siegreich zu Ende geführt haben, und nachdem die Arbeiterklasse sich beim Aufbau des neuen, des eigenen Staates unter unbeschreiblich schwierigen Verhältnissen als kluger und begabter Gebieter erwiesen hat und weiter erweist, habe auch ich mich überzeugt, daß ein Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich ist. (1929)

Im Innern unseres Landes organisieren die schlauen Feinde Lebensmittelmangel, die Kulaken terrorisieren die zu Kollektivwirtschaften zusammengeschlossenen Bauern durch Morde, Brandstiftungen und die verschiedenartigsten niederträchtigen Methoden. Gegen uns ist alles, was das ihm von der Geschichte beschiedene Zeitmaß bereits ausgelebt hat, und dies gibt uns das Recht, uns immer noch als im Bürgerkrieg stehend zu betrachten. Die natürliche Schlußfolgerung daraus ist: "Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er vernichtet" (1930)




LX.C - 14.05.2005 um 22:01 Uhr

Ich denke nicht, daß er sich einfach nur arrangiert hat.
In der Literatur run um den Allunionskongreß erfährt man eine Menge über die Stimmung um 1932-1934, darunter viele kleine Details über Gorki.
Kein Schriftsteller war beliebter als er in der UdSSR zu dieser Zeit.
Es gab eine wahnsinnige Literaturbegeisterung, da unter Stalin alle lesen lernen konnten/mußten, selbst Erwachsene. Der Analphabetismus wurde erfolgreich bekämpft und auch sonst herrschte eine wahnsinnige Aufbruchstimmung, die selbst Nichtkommunisten, wie beispielsweise Klaus Mann, faszinierten und begeisterten. Es ist heute kaum vorstellbar, aber ich glaube schon, daß der Kommunismus mitreißen konnte, ohne sich großartig arrangieren zu müssen.




Kenon - 14.05.2005 um 22:43 Uhr

Das Experiment "Sowjetunion" war ja auch die damals einzige Alternative des zum offenen Faschismus mutierten Kapitalismus. Interessant ist, was für quasireligiöse Züge das ganze trägt: Lenin, der verstorbene Gott, Stalin, sein lebender Vertreter auf Erden. Insgesamt, sehe ich aber, habe ich noch zu wenig Wissen über diese Periode.

"Es ist Stalin offenkundig lästig, in der Art vergöttert zu werden, wie es ihm geschieht, und ab und zu macht er sich darüber lustig ... Ich sprach mit ihm freimütig über den geschmacklosen und maßlosen Kult, der mit seiner Person getrieben wird, und er antwortete ebenso freimütig. Es sei ihm, sagte er, leid um die Zeit, die er auf Repräsentation verwenden müsse ... Über die Geschmacklosigkeit der übertriebenen Verehrung seiner Person zuckt er die Achsel. Er entschuldigt seine Bauern und Arbeiter, die zuviel zu tun gehabt hätten, um sich auch noch Geschmack beizulegen, und mokiert sich ein bißchen über die hunderttausend ungeheuerlich vergrößerten Bilder eines Mannes mit Schnurrbart, die ihm bei Demonstrationen vor Augen flirren ... Er vermutet, daß hinter solchen Übertreibungen die Beflissenheit von Männern stecke, die sich erst spät zum Regime bekannt hätten und nun ihre Treue durch doppelte Intensität zu beweisen suchten. Ja, er hält es für möglich, daß die Absicht von Schädlingen dahinter stecke, welche ihn auf solche Art zu diskreditieren suchten. ,Ein serviler Narr`, sagte er ärgerlich, ,schadet mehr als hundert Feinde`." (Lion Feuchtwanger, Moskau, 1937).

Kennst Du Henri Barbusses "Stalin. Eine neue Welt"?




Jasmin - 14.05.2005 um 23:34 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 23:44:47 am 14.05.2005 editiert

Man sollte an dieser Stelle auch daran erinnern, wofuer der Name Stalin steht. Das obige Zitat von Lion Feuchtwanger macht Stalin sympathisch und das darf nicht sein. Er hat Millionen Menschen auf dem Gewissen, sogar seinen eigenen Sohn hat er hinrichten lassen. Dissidenten wurden gnadenlos vernichtet.

Und nicht zulezt Stichwort Archipel Gulag. Während der über zwanzigjährigen Periode des Stalinismus wurden 18-20 Millionen Menschen in diesem grauenhaften Gefangenenlager inhaftiert, das verharmlosend als "Besserungsarbeitslager" und "Besserungsarbeitskolonie" bezeichnet wurde, hinter dem aber ein System der politischen Verfolgungen, Verhaftungen, Untersuchungsgefängnisse, der Verhöre, der Folter, der Verurteilungen und der Straflager selbst mit ihren unmenschlichen, durch Hunger, Kälte, Überanstrengung, unhygienische Zustände, Krankheiten und mangelnde medizinische Versorgung geprägten Lebensbedingungen stand.

http://de.wikipedia.org/wiki/Gulag




Kenon - 14.05.2005 um 23:46 Uhr

Das Buch "Moskau" hat man Feuchtwanger auch sehr übel genommen. Es zeigt aber exemplarisch sehr deutlich, wie selbst ein Intellektueller sich vom Sowjetkommunismus begeistern ließ - und um eben diese Begeisterung ging es hier schließlich gerade.

Stalin hat seinen Sohn nicht hinrichten lassen. Er hat sich "nur" geweigert, ihn, nachdem er in deutsche Gefangenschaft geraten war, gegen einen Faschisten auszutauschen. Er hat seinem Sohn also keine Sonderrechte gegenüber der "Normal"-Bevölkerung gewähren wollen. In der Gefangenschaft ist der Sohn dann verstorben.




Jasmin - 14.05.2005 um 23:51 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 23:52:38 am 14.05.2005 editiert

Zitat:

Das Buch "Moskau" hat man Feuchtwanger auch sehr übel genommen. Es zeigt aber exemplarisch sehr deutlich, wie selbst ein Intellektueller sich vom Sowjetkommunismus begeistern ließ - und um eben diese Begeisterung ging es hier schließlich gerade.

Ja, was hat Feuchtwanger denn so begeistert? Und was schreibt er zum Beispiel zum Archipel Gulag? Zu den Säuberungen? Waren das die zwangsläufigen Nebeneffekte, die man in Kauf nehmen musste, um die Herrschaft des Proletariats genießen zu können?




Kenon - 15.05.2005 um 00:00 Uhr

Zitat:

Ja, was hat Feuchtwanger denn so begeistert?

Nun, ich bin nicht der Fürsprecher Feuchtwangers.

Sie ist zwar in einer etwas kindlichen Sprache verfasst, aber vielleicht hilft uns diese Hausarbeit hier weiter:

Europäische Intellektuelle über die politische Regimes in der UdSSR und Nazi-Deutschland




Jasmin - 15.05.2005 um 00:05 Uhr

Zitat:

Nun, ich bin nicht der Fürsprecher Feuchtwangers.

Nicht?;)

Ich dachte, Du zitierst aus seinem Buch und nahm ergo an, dass Du es auch gelesen hast.

Die Hausarbeit werde ich heut Nacht wohl nicht mehr schaffen...




LX.C - 15.05.2005 um 02:12 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 02:13:15 am 15.05.2005 editiert

Stalins Machenschaften sind uns sehr bekannt, Jasmin.
Es ging hier auch nicht darum, diese auszudiskutieren.
Zudem gab es einen Kommunismus vor den Gulags,
z.B. in der Zeit als Gorki, um den es hier geht, lebte.

Und natürlich kann sich ein Intellektueller für den
Sowjetkommunismus begeistern, warum denn auch nicht?
Viele taten das.

Und trotzdem gab es eine andere Alternative zum Faschismus,
die Demokratie, viele Schriftsteller haben diese gewählt.

Das von Dir angesprochene Buch, Arne, kenne ich nicht.
Wenn Du aber in sehr unterhaltsamer Weise mehr
über die damalige Aufbruchstimmung und den
Allunionskongreß erfahren möchtest, dann
empfehle ich den Reisebericht und Roman:
"Reise in die Sowjetunion 1934", von Oskar Maria Graf.
Großartiger Roman, trotz des ernsten
Themas mit einer unterhaltsamen Portion Ironie.
Das Buch versetzt einen direkt zurück in das Jahr 1934,
beschreibt den Kongreß, die Beziehungen zwischen
den Schriftstellern, inklusive eines Ausfluges in Gorkis Villa ;-)
die Stimmung im Lande, die Begeisterung der Bevölkerung,
und den Aufbau des kommunistischen Rußlands.
Zusätzlich beinhaltet das Buch Briefe zwischen Graf
und Tretjakow, der ja ebenfalls im Gulag ums Leben kam.

Abschließend noch ein Zitat von Klaus Mann,
der ja bekanntlich kein Kommunist war, nach seinem Besuch auf dem Kongreß:
"Moskau hat die Kraft, all unsere Gedanken auf die Zukunft zu konzentrieren – so zukunftsträchtig ist diese Stadt. Ja, auf die europäische Zukunft, auf unsere Zukunft konzentrieren sich meine Gedanken. Ich spüre wie noch nie, ihren furchtbaren Ernst, die Größe der Entscheidungen, die sie bringen wird. [...] Diese Beunruhigung ist tief und quälend; sie enthält aber auch Glück. Denn ich spüre doch wieder, daß es eine Zukunft gibt." (Gregor-Dellin, Martin: Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes, Aufsätze)




LX.C - 15.05.2005 um 02:27 Uhr

Ach ja, dazu möchte ich noch kurz etwas sagen:
[Quote]Jasmin: Ja, was hat Feuchtwanger denn so begeistert?[/Quote]
Du scheinst Dich in diese Zeit nicht hineinversetzen zu können, es gab viele Neuerungen,
die als sehr fortschrittlich galten und die Menschen begeistert haben.
Ein Beispiel: Vor der Oktoberrevolution waren 75 Prozent der Bevölkerung Analphabeten,
bis 1939 wurde der Analphabetismus zu 89 Prozent beseitigt, unter anderem durch die Einführung der Schulpflicht. Das Proletariat hatte erstmals in der Geschichte Rußlands die Chance, Bildung zu genießen.




Kenon - 15.05.2005 um 10:48 Uhr

Zitat:

Und trotzdem gab es eine andere Alternative zum Faschismus, die Demokratie, viele Schriftsteller haben diese gewählt.

Dabei sollte man aber auch bedenken, wie es in der damaligen Zeit um das, was Demokratie genannt wird, bestellt war: Sie erschien nur noch als Zwischenstadium auf dem Weg zum Faschismus. Einen sehr lebhaften Eindruck hiervon vermittelt dieses Kapitel aus Barbusses Werk.

Zitat:

empfehle ich den Reisebericht und Roman:
"Reise in die Sowjetunion 1934", von Oskar Maria Graf.

Der Name ist mir im Zusammenhang mit der Bücherverbrennung schon einmal aufgefallen. Da die Nazis ihn "übersehen" hatten, verfasste er die um die Welt gegangene Polemik "Verbrennt mich!". Wenn ich das Buch irgendwo finden sollte, werde ich es mir zulegen. Es scheint aber auch ein wenig problematisch zu sein: "Der autobiographische Bericht Oskar Maria Grafs von seiner Reise in die Sowjetunion 1934 ist unvollendet und vom Autor nicht zur Veröffentlichung freigegeben." (Quelle: edlbauer.de, die Seite bietet übrigens einige ganz nette Literaturhinweise)




Jasmin - 15.05.2005 um 13:02 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 13:03:29 am 15.05.2005 editiert

Zitat:

Stalins Machenschaften sind uns sehr bekannt, Jasmin.
Es ging hier auch nicht darum, diese auszudiskutieren.

[…]

Und natürlich kann sich ein Intellektueller für den
Sowjetkommunismus begeistern, warum denn auch nicht?

[…]

Du scheinst Dich in diese Zeit nicht hineinversetzen zu können, es gab viele Neuerungen,
die als sehr fortschrittlich galten und die Menschen begeistert haben.


Alex, meiner Ansicht nach sollte man immer versuchen, Einseitigkeit zu vermeiden. Wenn es also um die Begeisterung eines Intellektuellen für den Sowjetkommunismus geht, dann sollte man in der Diskussion zumindest in einem Nebensatz an die Begleiterscheinungen des Kommunismus erinnern. Das habe ich mit meinem Hinweis auf das Zwangsarbeitslager Archipel Gulag versucht zu tun. Auch lag es mir am Herzen, Stalin nicht sympathisch erscheinen zu lassen.

Wenn man über blutige Geschichte schreibt, dann sollte man auch über das verflossene Blut schreiben. Interessant in diesem Zusammenhang ist das umstrittene Schwarzbuch des Kommunismus:

In den kommunistischen Ländern weitete sich nach der im Schwarzbuch vertretenen Ansicht die Gewalt über Klassen hinaus gegen all die Menschen aus, die als konterrevolutionäre Elemente galten und nicht die kommunistische Ideologie vetraten. So wurden während der Kulturrevolution in China und in Kambodscha vorzugsweise gebildete und intelligente Menschen der Oberschicht, wie z. B. Ärzte oder Lehrer, getötet oder unterworfen, aber auch politische Gegner aus allen anderen Schichten. Zwar habe es in kommunistischen Regimen keine industrielle Vernichtung, wie im Dritten Reich gegeben, dennoch überschreiten die Opferzahlen der auf kommunismustischer Ideologie aufbauenden Staatensysteme weltweit um ein Vielfaches die des Faschismus, da oft ganze Länder durch die Revolution ins Chaos gestürzt wurden, in Begleitung mit großen politischen Säuberungen und gezielt herbeigeführten oder durch gravierende Organisationsfehler verursachten Hungersnöten. Der Grund für die höhere Opferzahl liegt in erster Linie darin, dass der räumliche und zeitliche Wirkungsgrad des Kommunismus, insbesondere im 20. Jahrhundert mit der Volksrepublik China, der UdSSR und den übrigen Ostblock-Staaten um ein vielfaches den des Faschismus übertraf.

[...]

In Russland wurde eine Debatte und Auseinandersetzung dieser Art von vornherein abgebrochen. In Deutschland führte sie zu großer Kontroverse aufgrund der eigenen Geschichte und des Nationalsozialismus. Dabei stieß insbesondere die Darstellung des "Schwarzbuch des Kommunismus", welches die Verbrechen der Kommunisten mit 80 Millionen Toten schlimmer als die des Faschismus mit 25 Millionen Toten darstellte, auf Kritik in Roter Holocaust? Kritik zum Schwarzbuch des Kommunismus.


http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzbuch_des_Kommunismus

Die Vorstellung herrschaftsfreien Zusammenlebens gleicher Menschen ist eine sehr angenehme Vorstellung. Die Idee einer Gesellschaft in der alle Produktionsmittel und Güter das gemeinsame Eigentum aller Bürger und alle sozialen Gegensätze aufgehoben sind, ist eine sehr edle Idee.

Es handelt sich dabei aber um eine Utopie, weil sie an der menschlichen Schwäche, dem Hunger nach Macht, scheitert.




Jasmin - 15.05.2005 um 13:15 Uhr

Postscriptum

Eine besonders grauenhafte Bilddokumentation der Opfer des Kommunismus ist hier zu sehen:

http://libreopinion.com/members/memoriapamiat/holocausto2.htm




Kenon - 15.05.2005 um 13:29 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 13:31:47 am 15.05.2005 editiert

Zitat:

Postscriptum

Eine besonders grauenhafte Bilddokumentation der Opfer des Kommunismus ist hier zu sehen:

http://libreopinion.com

Du kannst wahrscheinlich kein Spanisch, sonst hättest Du sicher nicht auf eine internationale Faschistenseite verwiesen?




Jasmin - 15.05.2005 um 13:32 Uhr

Zitat:

Du kannst wahrscheinlich kein Spanisch, sonst hättest Du sicher nicht auf eine internationale Faschistenseite verwiesen?

Ja, ich kann kein Spanisch. Aber ich habe Augen im Kopf und kann Bilder sehen.




Kenon - 15.05.2005 um 13:38 Uhr

Zitat:

Aber ich habe Augen im Kopf und kann Bilder sehen.

Dann hast Du sicherlich auch die Werbung auf der Startseite mit dem Hakenkreuzfahnenimitat und der Inschrift "Argentinien erwache!" gesehen...

"Willkommen in der Stadt des Nationalismus im Internet". "Kämpfe gegen den Kommunismus und seine kapitalistischen Komplizen und Finanziers". "Ein Volk, ein Reich, ein Führer - Partei des Nationalen Triumphs".

War die Rede nicht gerade von Einseitigkeit?




Jasmin - 15.05.2005 um 13:42 Uhr

Zitat:

Dann hast Du sicherlich auch die Werbung auf der Startseite mit dem Hakenkreuzfahnenimitat und der Inschrift "Argentinien erwache!" gesehen...

Nein, hab ich nicht. Weil ich nicht auf die Startseite gegangen bin. Bin dem Link auf Wikipedia gefolgt, habe die Bilder gesehen, war schockiert und habe die Seite wieder geschlossen.

Es tut mir Leid, wenn ich aus Versehen auf eine Faschistenseite verwiesen habe.

Fest steht, dass diese Bilder grauenhaft sind.




Kenon - 15.05.2005 um 14:29 Uhr

Zitat:

Fest steht, dass diese Bilder grauenhaft sind.

Natürlich sind sie das, aber es wäre falsch, den Kommunismus auf diese Bilder zu reduzieren (z.B. sollte man sich auch über die Hintergründe der Hungersnöte in der Ukraine / Sowjetunion informieren, als da schlicht draufzustempeln: Holocaust) und genauso falsch ist es, den Kommunismus durch ein tendenziöses Geschichtswerk erklären zu wollen. Man muss differenzierter vorgehen. Ich glaube, selbst dieser Seite, die aus marxistischer Sicht eine "Kritik der politischen Ökonomie der Sowjetunion" zu üben versucht, gelingt das einigermaßen.




Jasmin - 15.05.2005 um 14:47 Uhr

Zitat:

Natürlich sind sie das, aber es wäre falsch, den Kommunismus auf diese Bilder zu reduzieren...

Es geht nicht um das Reduzieren, sondern um das Differenzieren und Relativieren. Wenn Du von Gorki und Stalin schreibst, dann liest sich das für mich ein wenig wehmütig-idealisierend. Was bis zu einem gewissen Punkt auch verständlich ist, weil die Ideen und die Ziele, die für den Kommunismus standen, natürlich sehr edel waren. Alle Menschen sind gleich. Alle Menschen sind Brüder. Auf der ganzen Welt. Alle haben genug, sind versorgt. Wer wollte dagegen etwas einwenden?

Als ich zum ersten Mal auf das Kommunistische Manifest stieß im Bücherregal meiner Tante, war ich zehn Jahre alt und total fasziniert. Die dahinter stehende Idee der Gerechtigkeit, erschien mir so märchenhaft wundervoll.

Später während meines Anglistikstudiums verliebte ich mich in George Orwell, der mir geistig näher erschien, als jeder andere je zuvor.

Orwell setzte den Kommunismus mit dem Stalinismus gleich und zeigte in "1984" und "Farm der Tiere" sehr eindringlich und anschaulich, was es bedeuten kann, in einem totalitären System zu leben. Er zeigte, was es heißt, dass alle Menschen gleich sind - nur einige gleicher.

Nach der Lektüre dieser Bücher revidierte ich meine Einstellung zum Kommunismus.

If you want a vision of the future, imagine a boot stamping on a human face. Forever. George Orwell




Kenon - 15.05.2005 um 15:54 Uhr

Zitat:

Wenn Du von Gorki und Stalin schreibst, dann liest sich das für mich ein wenig wehmütig-idealisierend.

Das ist dann wohl nicht genau genug gelesen. Am Anfang dieser Diskussion steht eine kurze Biographie Gorkis und ein meiner Meinung nach beachtliches Zitat, welches den Gedanken als Freund des Menschen kennzeichnet. Es ist eine Biographie, die ja auch die anfängliche, ganz entschiedene Ablehnung der Oktoberrevolution, die Lenin Gorki aus der Sowjetunion freundlich hinausbeten ließ, beinhaltet. Durch seine spätere Rückkehr und vor allem auch sein großes Engagement für den Sowjetstaat kam hier die Frage auf: Warum hat sich Gorki so verhalten, was ist aus seinem tief in ihm verwurzelten Humanismus, der sein schriftstellerisches Schaffen durchzieht, geworden? Dies wurde im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten versucht zu beleuchten. Dass Gorki die Misstände des Systems nicht vollkommen verborgen blieben, darf als gesicherte Erkenntnis gelten. Auch dies wurde hier besprochen. Es wurde weiterhin aufgezeigt, dass sich führende Intellektuelle der sogenannten Freien Welt vom Sowjetstaat blenden ließen, also seine Errungenschaften höher bewerteten als die unangenehmen Nebeneffekte und Begleiterscheinungen, die man natürlich auch vor ihnen zu verbergen suchte.

Stalins Verbrechen wurden in dieser Diskussion zu keiner Zeit geleugnet, es ging in ihr aber primär darum, die Einstellung Gorkis nachzuvollziehen und ich glaube, dass dies auch in bescheidenem Umfang geglückt ist. Dein Bilderbeitrag hat uns diesem Ziel nicht wirklich nähergebracht.

Gorki ist wohl, wenn er nicht doch ermordet worden sein sollte, wie Orwell an Tuberkulose gestorben.




Jasmin - 15.05.2005 um 16:16 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 16:18:25 am 15.05.2005 editiert

Zitat:

Dein Bilderbeitrag hat uns diesem Ziel nicht wirklich nähergebracht.



Meinen Bilderbeitrag bereue ich nicht. Er ist entsetzlich und grauenhaft, aber ich stehe dennoch dafür ein, weil er sein muss. Er muss sein, weil man einen Baum an seinen Früchten erkennen kann. Ein guter Baum bringt keine schlechten Früchte hervor und wenn man ins Schleudern gerät bei der Beurteilung einer Sache, sind solch drastische „Hilfsmittel“ manchmal angebracht – der Zweck heiligt die Mittel.

Es geht mir auch darum aufzuzeigen, dass es keinen Sinn hat, insgeheim einem System nachzutrauern, das eklatant versagt hat.

Arne, Du verteufelst den Kapitalismus und das Christentum – der Kommunismus ist aber keine Alternative, daran möchte ich Dich nur erinnern.

Du magst einwenden, dass es Dir nur um Gorki geht, ja, aber warum beschäftigst Du Dich gerade mit Gorki? Und Majakowski? Und Becher? Ist es nicht ein verzweifeltes Festhaltenwollen an einer Struktur, die längst brüchig, porös, ja hinfällig geworden ist? Die ausgedient hat?

Du stemmst Dich gegen das Christentum und führst als zugkräftigstes Argument die Toten, die es Deiner Ansicht nach produziert hat, an. Führe ich aber die Toten, die der Kommunismus produziert hat, an, dann entferne ich die Diskussion von ihrem Ziel.

Ist das aber nicht Messen mit zweierlei Maß?




Kenon - 15.05.2005 um 16:56 Uhr

Zitat:

Arne, Du verteufelst den Kapitalismus und das Christentum – der Kommunismus ist aber keine Alternative, daran möchte ich Dich nur erinnern.

Oh, danke, das habe ich gar nicht gewusst.

Wenn es Dir genügt, eine Sache aufgrund schockierender Bilder und zweier Bücher von Orwell zu verteufeln, mag das für Dich persönlich in Ordnung sein, mir genügt das aber nicht, ich mag mich tiefgehender damit beschäftigen, nach Motiven und Gründen suchen und Du wirst mich sicherlich nicht davon abhalten können. Zu dieser Auseinandersetzung gehört für mich selbstverständlich auch das, was die totalitären Regimes des letzten Jahrhunderts an ästhetischem Ausdruck fabriziert haben. Die Geschichte hat das alles zur Genüge verurteilt, ich aber möchte verstehen, möchte verstehen, wie ein Walter Flex zu seinem romantischen Militarismus gekommen ist, wieso sich ein Johannes Robert Becher nach der "Zucht der Partei" gesehnt hat, wie der Bürgerschreck Majakowski zum Staatsdichter werden konnte usw. usf.. Mit auf ewig zugeschlagenen Buchdeckeln kann ich mich nicht begnügen. Historische Perioden, die sich als bösartig herausgestellt haben, kann man nicht wie einen Abszess aus der Gesamtgeschichte herausschneiden. Man muss mit ihnen leben und wenn man mit ihnen leben muss, dann sollte man sie sich auch genauer anschauen dürfen.

Wer meine Werke kennt, wird wissen, dass ich jegliche Ideologien und Religionen ablehne, aber ein geschichtliches Interesse an ihnen lasse ich mir nicht verbieten. Es kann nur gesund sein, sich seine historische Wahrnehmung nicht von simplen Abwehrreflexen diktieren zu lassen.

Wenn alle Utopie immer scheitert, bleibt letztlich doch nur die Resignation, der kleinbürgerliche Weltschmerz, der allein auf sein eigenes Elend schielt und nichts bewirkt; dann hat Cioran, der das Scheitern der letzten großen Menschheitshoffnungen beobachten konnte, recht:

"Das Ende des geschichtlichen Prozesses ist von jetzt an unerbittlich, ohne daß man deswegen sagen kann, ob es schleppend oder rasant sein wird. Alles weist darauf hin, daß es mit der Menschheit bergab geht, trotz oder vielmehr wegen ihrer Erfolge." (Aus: Gevierteilt, E.M. Cioran, 1979)




Jasmin - 15.05.2005 um 17:23 Uhr

Die großartigen Bücher von Orwell haben mich damals zu tiefgehenderen Recherchen bewegt. Orwells Romane dokumentieren nur die Spitze des Eisbergs. Natürlich.

Ich stimme Dir darin zu, dass man trotz allem – oder gerade deswegen – auch und vor allem als Schriftsteller ein historisches Interesse daran haben sollte und haben kann, wenn es um die Motive einzelner Menschen, einzelner Künstler geht, die offensichtlich sowohl intelligent, als auch begabt und sensibel waren. Was hat sie dazu bewogen, einem System, das erkennbar faul war, die Treue zu halten? War es Loyalität? War es der Durst nach Veränderung?

Bist Du bei Flex, Majakowski und Becher zu einem Schluss gekommen? Könntest Du diesen Schluss zu deiner Auffassung von Gorki in Bezug setzen?

Mich würde vor allem interessieren, wie diese Dichter zu den negativen Seiten des Kommunismus standen. Beziehen sie in ihren Büchern Stellung dazu?




Kenon - 15.05.2005 um 19:26 Uhr

Ich glaube, es kommt ein immer gleiches Prinzip zum Tragen: Der junge Mensch rebelliert gegen die Welt, er sagt Nein!, lehnt ab, sucht nach einem Platz, an dem er glücklich sein kann, den es aber (noch) nicht gibt; irgendwann kann er diese Attitüde nicht mehr aufrechterhalten, er wird müde oder schlimmer noch: wahnsinnig, also einigt er sich auf einen Ausweg, einen Schwindel, will Erlösung. Aus Bewegung wird Erstarrung, aus Klarsicht Stumpfsinn. Dieser Prozess ist bei nahezu jedem, der "erwachsen" wird, zu beobachten. Die meisten arrangieren sich mit den herrschenden Zuständen – das ist ja auch das, was wir heutzutage beobachten können, obwohl in jedem eine große Grundunzufriedenheit steckt –, andere haben sich einer Heilslehre verschrieben (oder mehreren, aus denen sie sich aufs Geratewohl herauspicken, was ihnen gefällt), in die ihre gesamte Lebensenergie regelrecht ausfließt.

Selbst Autoren, die nicht irgendeiner konkreten Ideologie verfallen sind, z.B. Herman Hesse, können in dieses Schema eingeordnet werden. Man muss nur vergleichen, wie sich seine frühen Kurzgeschichten, die in "Unterm Rad" gipfelten, zum fast esoterisch zu nennenden Geplätscher des Glasperlenspiels verhalten.

Becher hatte ganz persönliche Gründe, sich an den Kommunismus zu binden:

Was wär ich, ohne daß mich die Partei
In ihre Zucht genommen, ihre strenge?!
Ein wilder Spießer, der mit Wutgeschrei
Sich selbst zerfetzt, und dabei eine Menge

Von Alkohol vertilgt. Vielleicht, es sei
Euch zugestanden, dichtete ich Klänge
Voll üppiger Pracht, wie eine Schlemmerei
Und säng voll Schwermut Weltenuntergänge.

Bis eines Tags ich merkte: Überflüssig
Bin ich und mein Gedicht, und überdrüssig
Des Überflusses hing ich an dem Strick.


(Aus: Die Partei)

Das Leben kocht einen weich, es wächst der Wille zur Lüge, man möchte einen Halt finden, etwas, das ewig "wahr" sein wird, ein Ruhebett. An einer Kritik des gefassten Weltbildes, das die erstrebte Ruhe mit sich bringt, besteht kein Interesse mehr, weil sie die vollständige Kapitulation zur Folge hätte: siehe Majakowskis Selbstmord. Auch Bechers rasches Ableben ist auf vollkommene Desillusionierung zurückzuführen. Er hatte dem Tod nichts mehr entgegenzusetzen, nachdem er das Scheitern seiner Ideale erkennen musste. Und Gorki? Er hat sein Leben lang für soziale Gerechtigkeit gekämpft, seine Motivation lässt sich aus den autobiographischen Romanen, die ich mir gerade erst noch erschließe, herauslesen: Es sind die untragbar gewordenen Zustände des zaristischen Russlands; die Oktoberrevolution aber hat ihn enttäuscht, weil sich das Neue als genauso schlimm wie das Alte herausstellte und dann muss er sich das ganze doch so lange zurechtgelogen haben, bis er wieder damit leben konnte, denn auch hier wäre nur der menschliche Zusammenbruch ein Ausweg gewesen. Von einem alten Mann sind keine außerordentlichen Kehrtwenden mehr zu erwarten, sondern viel eher eine schleichende Annäherung an immer konservativere Werte; was man im Leben erreicht hat, möchte man bewahren. Gorki war seinerzeit der beliebteste Schriftsteller in der UdSSR, bestand da nicht Gefahr, sich geschmeichelt zu fühlen, sich korrumpieren zu lassen, störendes auszublenden?

Von den Werken der Schriftsteller diesen Schlages geht eine große Faszination aus, da sie selbst von den Ideen, denen sie sich opferten, über alle Maßen fasziniert waren. Ich glaube, dass man ihre ästhetischen Leistungen, auch wenn sie im Dienst einer "falschen" Sache standen, nicht gänzlich verschmähen muss, sondern sich mit einem genügend kritischen Blick sogar an ihnen erfreuen kann. Menschliche Irrwege und Schwächen werden sichtbar, daraus kann man für sich selber lernen und wenn es um Gorki geht: Die Idee von sozialer Gerechtigkeit ist trotz allem nicht überholt, auch wenn sich das Sowjetexperiment in vielem als ungeheure Katastrophe erwies.

Welche Wege bleiben einem Schriftsteller, wenn er seinen Lesern keine Heilslehren, die immer nur falsch sein können, andrehen möchte? Er kann versuchen, ihnen ein Spiegel zu sein, durch den sie lernen, sich selbst zu erkennen, ein Spiegel, der sie Zeit ihres Lebens motiviert, an sich selbst zu arbeiten, sich nicht aufzugeben, das Ruhebett der Lügen zu verabscheuen – trotz allem zu versuchen, ein guter Mensch zu sein.




LX.C - 15.05.2005 um 23:39 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 23:44:40 am 15.05.2005 editiert

@Jasmin
Man muß doch aber auch mal auf dem Boden bleiben.
Hier ging es nicht darum, den Kommunismus allgemein auszudiskutieren.
Das würde wohl zu sehr ausufern und eine Endlosdiskussion bedeuten.
Mir sind die Begleiterscheinungen des Kommunismus durchaus bekannt
und ich bin mir ganz sicher, Arne ebenso, auf dieser Grundlage wurde hier diskutiert.
Zudem sind uns die Begleiterscheinungen im nachhinein bekannt,
es ging mir aber darum, daß man sich auch mal in die Lage der damaligen
Menschen hineinversetzen muß, und nicht hochnäsig, allwissend, aus heutigem
Wissensstandpunkt alles aburteilen und in Frage stellen kann.

@Arne
Das ist alles richtig, was Du über Oskar-Maria Graf weißt.
Der Roman ist dennoch absolut empfehlenswert und authentisch,
wie ich aus Fachkreisen weiß.

Dabei sollte man aber auch bedenken, wie es in der damaligen Zeit um das, was Demokratie genannt wird, bestellt war: Sie erschien nur noch als Zwischenstadium auf dem Weg zum Faschismus.

Da bin ich nicht Deiner Meinung.
Die Kommunistische Propaganda behauptete das gerne, das ist mir bekannt, aber wie auch immer, die Alternative bestand trotzdem.




Kenon - 16.05.2005 um 10:03 Uhr

Zitat:

Zitat:

Dabei sollte man aber auch bedenken, wie es in der damaligen Zeit um das, was Demokratie genannt wird, bestellt war: Sie erschien nur noch als Zwischenstadium auf dem Weg zum Faschismus.

Da bin ich nicht Deiner Meinung.
Die Kommunistische Propaganda behauptete das gerne, das ist mir bekannt, aber wie auch immer, die Alternative bestand trotzdem.

Die Demokratie war damals vollkommen bankrott, und bald ist sie es wieder.




Jasmin - 16.05.2005 um 23:39 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 23:40:05 am 16.05.2005 editiert

Zitat:

@Jasmin
Man muß doch aber auch mal auf dem Boden bleiben.
Hier ging es nicht darum, den Kommunismus allgemein auszudiskutieren.

Alex, Du hast Recht. Natuerlich war eine Grundsatzdiksussion nicht geplant, aber ich finde, dass es bei Personen, an deren Haenden so viel Blut klebt, wie im Falle Stalin, nicht passieren darf, dass man ein verharmlosendes Zitat bringt, ohne dass ein Gegengewicht dazu existiert. Auch wenn Du Bescheid weisst und auch Arne - das bedeutet nicht, dass man in solchen Diskussionen die Schreckensseiten komplett ausklammern darf.

Man kann gar nicht genug daran erinnern.




LX.C - 16.05.2005 um 23:53 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 23:54:26 am 16.05.2005 editiert

Jasmin, wir haben aber versucht, einen Schriftsteller in seine Zeit einzuordnen.
Die meisten Untaten, die im Namen des Kommunismus geschahen, geschahen nach Gorkis Tod.

Arne, der Kapitalismus war bankrott, daraus konnte der Faschismus als extremste Form des Kapitalismus hervorgehen. Die UdSSR gingen selbstherrlich davon aus, das dies weltweit geschehen werde.
Die Demokratie hatte genügend Fürsprecher, allen voran die USA.




Jasmin - 17.05.2005 um 00:02 Uhr

Alex, Gorki starb 1936. Diese schlimmen Zwangsarbeitslager gab es schon seit 1920. Mit diesen hat Stalin sich einen wirtschaftlichen Aufschwung erhofft.

Ja, ihr habt versucht, einen Schriftsteller in seine Zeit einzuordnen und ich habe auf das schoenfaerbende Feuchtwanger-Zitat reagiert, das Arne gebracht hat. Da ging es nicht um den Schriftsteller Gorki, sondern um den Diktator Stalin.





LX.C - 17.05.2005 um 00:24 Uhr

Zu dem von mir gewählten Wörtchen "selbstherrlich" sollte ich vielleicht erklären, daß die UdSSR den Faschismus als letzten Versuch sahen, den Kapitalismus zu retten, und auch diesen als dem Untergang geweiht ansahen.





Jasmin - 17.05.2005 um 00:58 Uhr

Bisweilen macht es Freude, einen Menschen dadurch in Erstaunen zu setzen, daß man ihm nicht ähnelt und anders denkt als er.

Maxim Gorki




Kenon - 17.05.2005 um 01:07 Uhr

@Jasmin:

Bei dem Feuchtwanger-Zitat ging es darum, die (vielleicht ähnliche?) Sichtweise eines anderen bekannten Schriftstellers aus ungefähr dieser Zeit zu betrachten, natürlich nur ausschnittsweise. Gorki konnte solche Reflektionen nicht verfassen, weil er direkt im System steckte und nicht nur auf Reisen in der Sowjetunion war. Er durfte das Land ja auch nicht mehr verlassen.


@LX.C:

Zitat:

Die Demokratie hatte genügend Fürsprecher, allen voran die USA.

Wir müssten uns wohl erst darüber einigen, was wir als Demokratie verstehen wollen, aber wir sind durch diese Stalinismusdebatte sowieso schon sehr weit vom Thema abgekommen.

"Ich schuf den Gedanken, um alles Veraltete, Enge und Schmutzige, alles Böse niederzutreten und Neues zu schaffen, das auf den vom Gedanken geschmiedeten, unerschütterlichen Pfeilern der Freiheit, der Schönheit und der Achtung vor dem Mitmenschen ruht. Als unversöhnlicher Feind der schändlichen Dürftigkeit aller Wünsche der Menge begehre ich, daß jeder ein Mensch werde." - Maxim Gorki




Jasmin - 17.05.2005 um 01:14 Uhr

Zitat:

Als unversöhnlicher Feind der schändlichen Dürftigkeit aller Wünsche der Menge begehre ich, daß jeder ein Mensch werde." - Maxim Gorki

Das ist es wohl, was Dich so an Gorki fasziniert. Dieser Wunsch, dieses brennende Verlangen, die Welt zu verbessern. Dem Menschen zu seiner Menschwerdung zu verhelfen.

Und dafuer, nur dafuer, muss man Gorki lieben.

Welcher Schriftsteller hat heute noch solche Ambitionen? Die meisten wollen nur sich selbst darstellen, verkaufen, profilieren.

Wer will heute noch die Welt verbessern?

Wer?




Kenon - 17.05.2005 um 01:23 Uhr

Zitat:

Wer will heute noch die Welt verbessern?

Wer kann denn die Welt "verbessern"? Welche Wertmaßstäbe legt er an?

Zitat:

Als unversöhnlicher Feind der schändlichen Dürftigkeit aller Wünsche der Menge begehre ich, daß jeder ein Mensch werde.

Auch wenn man die Menge auf ein "höheres" Niveau hebt, es wird immer eine Minderheit geben, die auf sie hinabschauen kann und dann die schändliche Dürftigkeit ihrer Wünsche bemängelt. Das hat Gorki, zumindest in dieser Textstelle, nicht erkannt.




Jasmin - 17.05.2005 um 01:28 Uhr

Zitat:

Wer kann denn die Welt "verbessern"? Welche Wertmaßstäbe legt er an?

Ein Wert ist sicher die Erhaltung und Foerderung von Leben. Linderung von Leid. Das Schaffen von besseren Lebensbedingungen.

Zitat:

Auch wenn man die Menge auf ein "höheres" Niveau hebt, es wird immer eine Minderheit geben, die auf sie hinabschauen kann und dann die schändliche Dürftigkeit ihrer Wünsche bemängelt. Das hat Gorki, zumindest in dieser Textstelle, nicht erkannt.

Aber das Ende ist nach oben nicht offen.

Zumindest aus menschlicher Sicht.




Kenon - 17.05.2005 um 01:41 Uhr

Zitat:

Zitat:

Wer kann denn die Welt "verbessern"? Welche Wertmaßstäbe legt er an?

Ein Wert ist sicher die Erhaltung und Foerderung von Leben. Linderung von Leid. Das Schaffen von besseren Lebensbedingungen.

Förderung von Leben und Linderung von Leid könnten schon unvereinbare Widersprüche sein, da das Leid schließlich am Leben klebt.

Zitat:

Zitat:

Auch wenn man die Menge auf ein "höheres" Niveau hebt, es wird immer eine Minderheit geben, die auf sie hinabschauen kann und dann die schändliche Dürftigkeit ihrer Wünsche bemängelt. Das hat Gorki, zumindest in dieser Textstelle, nicht erkannt.

Aber das Ende ist nach oben nicht offen.

Zumindest aus menschlicher Sicht.

Das Ende ist der Moment, in dem sich der Mensch überflüssig gemacht hat. Dahin strebt alles.




Jasmin - 17.05.2005 um 01:48 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 01:50:24 am 17.05.2005 editiert

Zitat:

Förderung von Leben und Linderung von Leid könnten schon unvereinbare Widersprüche sein, da das Leid schließlich am Leben klebt.

Ja, gewiss. Aber es gibt schlimmes und schlimmstes Leid. Es gilt meiner Ansicht nach Verfolgung, Folter, Unterdrueckung zu verhindern. Das Recht auf Freiheit foerdern.

Faschismus, Kommunismus, Demokratie.

Demokratie ist bei weitem das kleinste Uebel. Sie ist ein Segen, auch wenn Du das vielleicht nicht fuehlen kannst.

Zitat:

Das Ende ist der Moment, in dem sich der Mensch überflüssig gemacht hat. Dahin strebt alles.

Vielleicht.

Vielleicht ist der Uebergang aus einem materiellen Zustand in einen geistigen, koerperlosen das Ende.

Die Rueckkehr zur Quelle.




Kenon - 17.05.2005 um 02:18 Uhr

Zitat:

Demokratie ist bei weitem das kleinste Uebel.

Ich mag hier keine Demokratiediskussion führen, weise nur kurz auf die USA hin, die sich auch eine Demokratie nennt. So viel Phantasie, in ihr ein kleinstes Übel zu sehen, kann ich auch unter größter Anstrengung nicht aufbringen.

Noch das beste System gerät mit der Zeit auf immer bedenklichere Abwege, Machtcliquen beißen sich fest und saugen es aus. Geschichte ist immer Aufstieg und Niedergang. Davon wird auch kein heute noch bestehendes System verschont bleiben. Es gibt keinen Stillstand.




Jasmin - 17.05.2005 um 02:35 Uhr

Zitat:

Ich mag hier keine Demokratiediskussion führen, weise nur kurz auf die USA hin, die sich auch eine Demokratie nennt. So viel Phantasie, in ihr ein kleinstes Übel zu sehen, kann ich auch unter größter Anstrengung nicht aufbringen.

Es kommt auf den Blickwinkel an.
So makaber es auch klingen mag - fuer einen US-Buerger ist es sicher das kleinere Uebel, in der USA zu leben - wenn man es mit faschistoiden und kommunistischen Herrschaftssystemen der Vergangenheit vergleicht. Fuer die Opfer des Amerikanismus ist es makaber.

Fuer die Amerikaner selbst ist ihre Demokratie ganz sicher das kleinere Uebel.




Kenon - 17.05.2005 um 02:38 Uhr

Zitat:

Es kommt auf den Blickwinkel an.

Richtig, wer auf dem Baum im warmen Nest sitzt, kann auf die am Boden Frierenden herunterscheissen.




Jasmin - 17.05.2005 um 02:40 Uhr

Zitat:

Zitat:

Es kommt auf den Blickwinkel an.

Richtig, wer auf dem Baum im warmen Nest sitzt, kann auf die am Boden Frierenden herunterscheissen.

Du hast das Wesen der Demokratie erkannt.




Kenon - 18.05.2005 um 00:42 Uhr

Zitat:

Du hast das Wesen der Demokratie erkannt.

"Alles, was bei der ganzen Wählerei herauskommen kann, ist da und dort ein Scheinerfolg. Man vertröstet sich dann immer auf `das nächste Mal´ , bis man die Geschichte endlich satt bekommt und unter die Pessimisten geht." (Johann Most, 1892).




Jasmin - 19.05.2005 um 01:38 Uhr

Aristoteles sprach von einer Herrschaft des Pöbels.



Kenon - 19.05.2005 um 01:48 Uhr

Zitat:

Aristoteles sprach von einer Herrschaft des Pöbels.

Aber der herrscht ja gar nicht, sondern glaubt es nur. Dazu veranstaltet man Wahlen.




Jasmin - 19.05.2005 um 01:54 Uhr

Zitat:

Zitat:

Aristoteles sprach von einer Herrschaft des Pöbels.

Aber der herrscht ja gar nicht, sondern glaubt es nur. Dazu veranstaltet man Wahlen.

Ja, aber aufgrund des Ergebnisses dieser Wahlen herrscht er ja...




Kenon - 19.05.2005 um 02:11 Uhr

Zitat:

Ja, aber aufgrund des Ergebnisses dieser Wahlen herrscht er ja...

Nein, das sagt man ihm bloß. Es herrschen die Herrscher. Der Pöbel gibt nur alle paar Jahre seine Stimme ab.

"Ich bin nicht frei und ich kann nur wählen
Welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen."
- Rio Reiser




Jasmin - 19.05.2005 um 02:18 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 02:18:32 am 19.05.2005 editiert

Zitat:

"Ich bin nicht frei und ich kann nur wählen
Welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen."
- Rio Reiser

Das ist ein bemerkenswertes Zitat. Dennoch verwundert es mich, dass Du Rio Reiser zitierst.




Kenon - 19.05.2005 um 02:48 Uhr

Zitat:

Dennoch verwundert es mich, dass Du Rio Reiser zitierst.

Warum? Er hat viele gute Lieder geschrieben und sich um die deutsche Sprache in der Rockmusik sehr verdient gemacht.




Jasmin - 19.05.2005 um 13:55 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 13:57:25 am 19.05.2005 editiert

Zitat:

Zitat:

Dennoch verwundert es mich, dass Du Rio Reiser zitierst.

Warum? Er hat viele gute Lieder geschrieben und sich um die deutsche Sprache in der Rockmusik sehr verdient gemacht.

Weil ich mich wieder einmal voreilig geäußert habe, ohne eine Ahnung zu haben.

Ich bin noch beim Rio Reiser der Achtziger Jahre stehen geblieben und damals hatte ich eine Aversion gegen deutschsprachigen Rock. Es musste alles auf Englisch sein.

Ich wusste nicht einmal, dass er mit 46 Jahren an den Folgen seiner Sucht gestorben ist. Was ich eben gelesen habe, ist sehr erschütternd. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt hier so zitieren darf, wenn nicht, dann lösche es bitte:

Selbst die, die ihn gut kannten und sich Sorgen machten, wagten trotz besseren Wissens nicht daran zu denken, wie nah Rio Reiser Himmel und Hölle schon damals war. Bedingt durch Alkohol, Psycho-Terror von Rechtsradikalen und der Sekte "Kinder Gottes", von der er sich verfolgt fühlte, wurde er immer depressiver, und langsam verlor er den Kampf gegen den Terror aus der Psyche seiner selbst.
Noch nie ganz frei von Todessehnsüchten, wirkten viele seiner letzten Lieder wie Todesahnungen oder Visionen, als ob er wußte, was kommen würde und wie falsch Freunde sein können.
Rios Leber war kaputt, jedes Glas konnte das letzte sein, denn Jahre zuvor fiel er schon mal in ein unheilvolles Koma - hatte ihm ein Barkeeper in Florida K.O.-Tropfen in den einen Tequila getan? (oder war´s ein Räuber in New York?) - , doch Rio hörte nicht auf die Ärzte, sondern flüchtete und schaute weiterhin zu oft zu tief ins Glas. "Ich habe alles ausprobiert, aber die beste Wirkung habe ich noch mit Alkohol", sagte er einmal einem Freund.

[...]

Wer weiß, mit welcher Energie und Leidenschaft Rio Reiser auf der Bühne arbeitete, der mag nachvollziehen können, daß so ein Feuer irgendwann ausgebrannt ist. "Irgendwann" war ein heißer Augusttag, der 20. August 1996 - Kreislaufzusammenbruch, innere Blutungen. Ende. "Unser Verlust ist Gottes Gewinn" heißt es, aber mußte es verdammt noch mal so früh sein und gleich so endgültig?

[...]

...und einer schrieb hinterher in einem Leserbrief, für ihn sei Rio Reiser "der sensibelste, zerrissenste, menschlichste, eigensinnigste, inspirierendste und konsequenteste Poet unserer Gegenwart".

[...]

An seinem letzten Tag auf dieser Erde war seine Bibel auf der Seite Sirach 37 aufgeschlagen: "Die Wurzel der Pläne ist das Herz. Vier Reiser wachsen daraus hervor: Gutes und Böses, Leben und Tod. Doch die Zunge hat Gewalt über sie alle."


Quelle: http://www.rio-raum.de/b/biografie.html




Kenon - 19.05.2005 um 14:48 Uhr

Zitat:

Die Wurzel der Pläne ist das Herz. Vier Reiser wachsen daraus hervor: Gutes und Böses, Leben und Tod. Doch die Zunge hat Gewalt über sie alle."

Diese Bibelworte bringen uns zurück zu Gorki und dem Eingangszitat: Der Gedanke, die Vernunft (die Zunge) ist der verläßlichste und kräftigste Freund des Menschen, aber er kann auch sein schlimmster Feind sein. Er hilft ihm gütig, Leid zu ertragen und kann ihn doch erst grausam in dieses hineinstürzen.




Jasmin - 19.05.2005 um 20:55 Uhr

Das griechische Wort Glossa bedeutet sowohl Zunge, als auch Sprache. Aber Deine Entsprechungen Gedanke und Vernunft machen in diesem Kontext ebenfalls Sinn, wobei Vernunft wohl am besten passt.

Nun muss man sich fragen, woher unsere Gedanken kommen. „Machen“ wir sie selber? Oder fliegen sie uns zu? Und wie kommt es, dass sich die Zunge manchmal doch nicht durchsetzen kann?

Aber vielleicht sind das nur kurze Etappen, während derer die Vernunft sich nicht behaupten kann.

Gorki sagt dazu:

So zieht der Mensch im Aufruhr mitten durch das unheimliche Dunkel der Rätsel des Daseins, vorwärts und höher, immer mehr vorwärts und höher.

Und die Bibel: Doch die Zunge hat Gewalt über sie alle.

Es ist vielleicht alles nur eine Frage der Zeit.




Kenon - 19.05.2005 um 21:55 Uhr

Ja, das mit der Zunge habe ich ein bisschen freizügig interpretiert, sonst macht es für mich auch keinen Sinn. Ursprünglich hiess es vielleicht sowieso mal etwas ganz anderes, haben ja genug Übersetzer daran herumgepf...ähm...arbeitet.

Zitat:

„Machen“ wir sie selber? Oder fliegen sie uns zu?

Die Gedanken entstehen im Kopf. Wo sonst?

Zu der Demokratiesache:

Zitat:

So hält jeder zweite Ostdeutsche die deutsche Staatsform nicht für die beste. 76 Prozent der Ostdeutschen halten den Sozialismus für eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde. Diese Einschätzung teilen selbst im Westen noch 51 Prozent der Befragten.

Quelle: WAZ, 24.08.04 (beruft sich auf den ´Datenreport 2004´ des Statistischen Bundesamtes)

Im schönen Nachbarland Polen sieht es übrigens ganz ähnlich aus.




Jasmin - 19.05.2005 um 22:03 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 22:06:18 am 19.05.2005 editiert

Zitat:

Die Gedanken entstehen im Kopf. Wo sonst?

Für die Herkunft unserer Gedanken gibt es auch andere Erklärungsmodelle, nur sind diese von der Wissenschaft nicht anerkannt.

Zitat:

Zu der Demokratiesache:

Das ist etwas, das ich als Westdeutsche nicht wirklich begreifen kann, auch wenn ich seit langem nicht mehr in der BRD lebe.

Für mich ist Freiheit eines der höchsten Güter. Wie kann ich aus einem Staat kommen, in dem meine Freiheit massiv beschnitten wurde und dann in einem anderen System leben, in dem ich endlich frei bin und dann so unzufrieden sein. Ich kann das wirklich nicht verstehen.




Jasmin - 19.05.2005 um 23:22 Uhr

Freiheit

Gerade läuft hier auf einem griechischen Fernsehsender eine Dokumentarsendung. Thema: Entführungen von Menschen, die von der CIA als Terroristen verdächtigt werden. Sie werden auf offener Strasse überfallen, abgeschleppt. Verhört, gefoltert. In Staaten, in denen das Foltern erlaubt ist.




Kenon - 19.05.2005 um 23:23 Uhr

Zitat:

Für die Herkunft unserer Gedanken gibt es auch andere Erklärungsmodelle, nur sind diese von der Wissenschaft nicht anerkannt.

Ich mag mich an die Wissenschaft halten. Sie versucht zumindest, sich auf die Vernunft zu gründen.

Zitat:

Wie kann ich aus einem Staat kommen, in dem meine Freiheit massiv beschnitten wurde und dann in einem anderen System leben, in dem ich endlich frei bin und dann so unzufrieden sein.

Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

Die größte Freiheit hat heute, wer das meiste Geld besitzt. Wer das meiste Geld besitzt, hat anderen Menschen zwangsläufig auch am meisten geschadet (= Prinzip des Kapitalismus). Er kann anderen durch seine Rechtsanwälte den Mund verbieten und sie für ihre Meinungsäußerung bluten lassen. Seine eigene Meinung hingegen kann er dank seiner finanziellen Mittel durch die ganze Welt blasen. Das Kapital kann relativ weitgehende politische Meinungsfreiheit dulden, weil es weiss, dass sich die Meinung erst mit dem Kapital verbünden muss, um gehört zu werden. Wenn sie das tut, ist sie schon nicht mehr gefährlich, weil gekauft.

Einem Arbeitslosen, der jeden Tag in die Fresse geschleudert bekommt, dass er ohne Wert ist, hilft die ganze potentielle Freiheit nicht viel und jeder weiß, dass es Millionen von ihnen gibt. Dieser grenzenlose Individualismus: Wohin führt er? Doch nur zur zwischenmenschlichen Katastrophe. Alle sind Ken und Barbie und scheinen sich an wie falsche Sonnen, einen Kern gibt es nicht, nur Persil-Blasen, Klingelton-Seifenschaum. Trotz der schwierigen politischen Lage waren die Menschen im Osten aufrichtiger und wärmer zueinander, da verzichtet man gern auf blankgeleckte Häuserfassaden, die neueste Mode aus Paris-London-New York, diese perversen Glitzerschaufensterläden. Im Osten waren sogar Mütter und Kinder menschlich noch etwas wert, jedem wurde zumindest die Illusion gegeben, dass ihn die Gesellschaft braucht.

Kapitalismus ist ein Schafskäfig, in dem alle versuchen, Wolf zu werden, weil es in ihm außer Schafen nichts zu fressen gibt.




Jasmin - 19.05.2005 um 23:51 Uhr


Zitat:

Ich mag mich an die Wissenschaft halten. Sie versucht zumindest, sich auf die Vernunft zu gründen.

Wenn man sich zu intensiv mit Dingen, die man wissenschaftlich nicht beweisen kann, beschäftigt, kann man leicht in Situationen kommen, in denen man nahe daran ist, den Verstand zu verlieren. Auch ich versuche immer wieder meine Vernunft einzuschalten, wenn meine Vorstellungskraft sich in Bereiche vorwagt, die den Verstand überfordern.


Zitat:

Einem Arbeitslosen, der jeden Tag in die Fresse geschleudert bekommt, dass er ohne Wert ist, hilft die ganze potentielle Freiheit nicht viel und jeder weiß, dass es Millionen von ihnen gibt. Dieser grenzenlose Individualismus: Wohin führt er? Doch nur zur zwischenmenschlichen Katastrophe.

Ich habe bisher immer naiv gedacht, Arbeitslosigkeit ist schlimm, aber von der Stasi verfolgt und bespitzelt werden ist schlimmer. Für mich ist Unfreiheit und Angst vor Verfolgung eine schlimmere Vorstellung, als keine Arbeit zu haben. Vielleicht weil ich die Illusion habe, dass ich eine Arbeit finden, dass ich alles machen würde. Aber vor allem, weil Unfreiheit für mich unerträglicher ist.

Die Sache ist aber die, dass man, wie man es dreht und wendet, nicht zufrieden ist. Der Kommunismus hat versagt, der Kapitalismus stärkt nur die Reichen, die Demokratie liefert auch keine optimalen Lösungen.

Also sieht man ein, dass es hier auf dieser Erde in diesem Leben kein Heil gibt.
Erst im Himmel.




Kenon - 20.05.2005 um 00:10 Uhr

Zitat:

Also sieht man ein, dass es hier auf dieser Erde in diesem Leben kein Heil gibt.
Erst im Himmel.

Das ist auch zu bequem. Wir brauchen eben von Zeit zu Zeit einen Umsturz, weil sich Systeme, die sich festgefahren haben, nicht mehr reformieren lassen.

Zitat:

Die russische Revolution lief mit dem Rhythmus aller bereits vergangenen Revolutionen ab. Nach einer aufsteigenden, größere Gerechtigkeit und größere Freiheit anstrebenden Periode, die solange dauerte, wie das Volk die bestehende Macht angriff und zerschlug, erfolgte, sobald es einer neuen Regierung gelungen war, sich zu konsolidieren, die Periode der Reaktion. Die Tätigkeit der neuen Regierung - bisweilen langsam und schrittweise, bisweilen rasch und gewaltsam vorgehend - war darauf ausgerichtet, die Errungenschaften der Revolution so weit wie möglich zu zerstören und eine Ordnung zu errichten, die die Fortdauer der neuen regierenden Klasse an der Macht garantieren und die Interessen sowohl der neuen als auch der alten Privilegierten schützen sollte, denen es gelungen war, den Sturm zu überstehen.

[...]

Unglücklicherweise gab es jedoch unter denen, die am meisten dazu beigetragen hatten, dem alten Regime den entscheidenden Schlag zu versetzen, doktrinäre Fanatiker, voll verbissener Autorität, da sie fest davon überzeugt waren, im Besitz der „Wahrheit“ zu sein und die Aufgabe zu haben, das Volk zu retten, das sich ihrer Meinung nach nur auf den von ihnen angegebenen Wegen retten konnte. Sie profitierten von dem Ansehen, das ihnen ihre Beteiligung an der Revolution verlieh und insbesondere von der Stärke, die ihnen ihre eigene Organisation vermittelte, und so gelang es ihnen, die Macht zu erobern und die anderen zur Ohnmacht zu verurteilen, darunter besonders die Anarchisten, die nach Kräften zur Revolution beigetragen hatten, sich jedoch ihrer Machtergreifung nicht wirksam widersetzen konnten, weil ihre Reihen aufgelöst waren, es keine vorherigen Verständigungen gegeben hatte, sie nahezu ohne jede Organisation waren.

Von diesem Zeitpunkt ab war die Revolution zum Tode verurteilt.

Aus: Errico Malatesta, Bolschewismus und Anarchismus, 1923




Jasmin - 20.05.2005 um 00:21 Uhr

Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht die Menschen.

Karl Marx




Kenon - 15.06.2005 um 19:30 Uhr

Einige Gedichte Gorkis findet man im russischen Original auf dieser Seite:

Максим Горький


– so auch dieses wohlklingende über das Schwarze Meer:

В Черномор 00;е

Знойно. Тихо... Чудный вид!
Там, далеко,- море спит,
С берегов же в волны пали
Тени тонких миндалей,
И чинары в них купали
Зелень пышную ветвей;

usw.




LX.C - 15.06.2005 um 21:34 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 21:35:17 am 15.06.2005 editiert

Mir fällt nur eins dazu ein. Ich sollte mal wieder meine Russischkenntnisse auffrischen :-)




Kenon - 15.06.2005 um 21:42 Uhr

Gorki hat eine sehr einfache Sprache benutzt. Das wäre also ein guter Ansatzpunkt ---



Kenon - 18.06.2005 um 12:02 Uhr

Heute ist der 69. Todestag Gorkis. Eine kleine Collage soll an ihn erinnern.





Kenon - 13.11.2005 um 13:12 Uhr

Da in einem anderen Thema Gorkis Selbstmordversuch besprochen worden ist, habe ich ein paar Worte vom Autoren selbst herausgesucht, sie stammen von 1910 und wurden gegenüber einer jungen Korrespondentin geäußert:

Zitat:

Ja, ich habe auch einen Selbstmordversuch unternommen, ich schäme mich sehr, wenn ich mich daran erinnere, und bis zur Stunde finde ich keine Rechtfertigung für diese Torheit, obwohl sich das mit mir vor dreiundzwanzig Jahren zutrug. Ich schoß deshalb auf mich, weil ich fand, ich sei untauglich zum Leben, aber die Menschen habe ich wegen nichts beschuldigt, obwohl sie sehr unsanft mit mir umgingen. Als ich verletzt im Krankenhaus lag, kamen meine Kameraden, Arbeiter, zu mir und sagten vorwurfsvoll: "Schwachkopf".

Der Erzählung "Eine Begebenheit aus Makars Leben", die diesen Selbstmordversuch thematisiert und aufarbeitet, folgte Gorkis dreiteilige Autobiographie. Bemerkenswert ist also, dass gerade diese Begebenheit "am Anfang" steht.




Jasmin - 13.11.2005 um 18:23 Uhr

Ich habe gelesen, dass Gorki sich erfolglos um die Aufnahme an einer Universität beworben hat und dass ihm die Distanz zu der studierenden Jugend sehr zu schaffen machte und er vermutlich deshalb den Suizidversuch unternahm, bei dem er seine Lunge schwer verletzte, was eine lebenslange Tuberkulose zur Folge hatte. Vielleicht hat ihm die Ablehnung der Hochschule den Eindruck vermittelt, er tauge nicht zum Leben.

Eindrucksvoll ist, dass Gorki überlebte, ist doch die von ihm gewählte Methode vergleichsweise effektiv, dass es bei diesem einen Versuch blieb und Gorki seine selbstdestruktiven Kräfte kreativ umlenken konnte.




Kenon - 13.11.2005 um 20:46 Uhr

Wer die Umstände, die letztlich zum Selbstmordversuch Gorkis geführt haben, genauer nachvollziehen will, wird nicht umhin kommen, die von mir erwähnte Erzählung als auch mindestens das Buch "Meine Universitäten" aus der autobiographischen Trilogie zu lesen, wobei zu erwähnen ist, dass dies der am wenigsten geglückte Teil davon ist. Die Ablehnung der Universität wird sich dann nur als einer von vielen Faktoren erweisen, denn es spielen auch ganz konkrete Frauengeschichten, allgemeine Probleme Gorkis mit den ihn umgebenden Menschen sowie seine familiäre Situation mit in die Angelegenheit hinein.

Zitat:

Eindrucksvoll ist, dass Gorki überlebte, ist doch die von ihm gewählte Methode vergleichsweise effektiv, dass es bei diesem einen Versuch blieb und Gorki seine selbstdestruktiven Kräfte kreativ umlenken konnte.

Jeder muss wissen, wann er geht.




Jasmin - 13.11.2005 um 20:59 Uhr

Zitat:

Die Ablehnung der Universität wird sich dann nur als einer von vielen Faktoren erweisen, denn es spielen auch ganz konkrete Frauengeschichten, allgemeine Probleme Gorkis mit den ihn umgebenden Menschen sowie seine familiäre Situation mit in die Angelegenheit hinein.

Die große Sturmflut lässt den Damm brechen.

Zitat:

Jeder muss wissen, wann er geht.

Das besagt, dass es unsere freie Entscheidung ist zu gehen. Ist es das aber?




Kenon - 21.12.2005 um 15:12 Uhr

In den Zeiten sozialen Niedergangs wird ein Klassiker wiederentdeckt, jetzt auch am Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin:

Unter der Regie von Friedo Solter wird das Bühnenstück "Wassa Shelesnowa - Die Mutter" (nicht zu verwechseln mit dem Gorki-Werk "Die Mutter") im Februar 2006 neu aufgeführt werden. Die Termine sind:

Fr, 24. Februar 2006, 19.30 Uhr, Großes Haus
So, 26. Februar 2006, 18.00 Uhr, Großes Haus

Weiterführende Informationen




Olaf - 31.01.2006 um 07:01 Uhr

Eine Frage habe ich an die Gorki-Spezialisten:

Es gab in der DDR in den 80igern das Lesebuch der 9. (?) Klasse. Darin lasen wir von Gorki die Geschichte von Anfissa (die Frau, deren rechte Brustwarze nur noch an einem Faden hing) aus "drei Geschichten von Helden". Gorki muß sie nach seiner Rückkehr nach Russland geschrieben haben (vermute ich mal).
Für eine literarische Arbeit suche ich diese Geschichte. In der Karlsruher Bibliothek sind die Werke von Gorki sehr übersichtlich vertreten. Die Geschichte ist leider nicht dabei. Goggeln hat mir bisher auch nicht weitergeholfen...Kann mir jemand zu dieser Geschichte verhelfen?

Merci und Grüße von Olaf




Kenon - 31.01.2006 um 10:24 Uhr

Hallo Olaf,

vermutlich heisst die Geschichte nicht Anfissa, denn im Gesamtverzeichnis der Gorki-Werke ist sie auch nicht zu finden:

http://maximgorkiy.narod.ru/list.html




Olaf - 31.01.2006 um 16:01 Uhr

Diese Nachricht wurde von Olaf um 16:04:22 am 31.01.2006 editiert

dankt dir Arne,

Zwischenzeitlich habe ich eine alte Deutschlehrerin angerufen, sie wusste sofort um welche Geschichten es ging, kannte allerdings auch nicht den genauen Namen. diese muss im Lesebuch der neunten Klasse (auch da war sie sich nicht ganz sicher) gestanden haben, allerdings: wer hat noch das Lesebuch der neunten Klasse?

Wenn ich es rausbekomme, werde ich hier darüber berichten.

Grüße von Olaf




Olaf - 02.02.2006 um 19:51 Uhr

Es gibt die Geschichte "Anfissa" von Gorki (plums...). Veröffentlich wurde sie u.a. in den 70igern im Verlag Volk und Welt: Titel: Der Einsiedler - Erzählungen. Sie ist die zweite Geschichte von "Drei Geschichten von Helden" und ist aus dem Jahr 1930.



Kenon - 21.10.2006 um 13:06 Uhr

Maxim Gorki hatte vor kurzem seinen 70. Todestag. Aus diesem Anlass hat der Slawist Armin Knigge (Uni Kiel) eine neue Seite ins Netz gestellt:

Der unbekannte Gorki

Im Artikel Eine schwere Schuld – Gorki und Stalin versucht Knigge, einen Überblick über aktuelle Positionen zu Gorki im Hinblick auf seine letzten Lebensjahre, also den Zeitraum nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion, zu geben. Da wir hier auch sehr kontrovers über dieses Thema diskutiert haben, könnte der Hinweis auf die neue Seite für den ein oder anderen interessant sein.

Zitat:

Entgegen manchen Prophezeiungen hat Gorki das Fegefeuer, in das er mit dem Ende des Kommunismus geworfen war, überlebt. „Gorki ist unzerstörbar,“, stellt der Kritiker Pavel Basinskij fest, „in dieser Tatsache ist irgendein Geheimnis verborgen.“




Chans - 07.09.2007 um 22:49 Uhr

Nachdem der letzte Beitrag zu diesem Thema nun leider schon fast ein Jahr her ist, möchte ich darauf hinweisen, dass Armin Knigge vor wenigen Wochen seine Seite http://www.der-unbekannte-gorki.de/ ausgebaut und mit höchst interessanten neuen Beiträgen versehen hat.

Es lohnt sich für alle unbedingt hineinzuschauen!!!!!
Es gibt zu diesem Thema niemand Kompetenteren.




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