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--- was macht lyrik aus?

hibou - 27.03.2005 um 11:01 Uhr

einmal nicht gedichte schreiben, sondern darüber nachsinnen....

ich fang mal ganz kurz an:

was macht lyrik aus?

epiphanie, glanz, leuchten.

was ist lyrik nicht? PROSA, botschaft, pathos


hier ein artikel zu Thomas Kling, m.E. ein typischer Lyrik-Lyriker:

http://www.zeit.de/2005/13/L-Kling

vermutlich steht da auch viel von was lyrik ist :-))

was meint ihr?





hibou - 27.03.2005 um 11:09 Uhr

ich las grad, dass kenon daniil charms dazu zitiert:

"Gedichte schreiben muß man so, daß, wenn
man das Gedicht gegen das Fenster wirft, das Glas zu Bruch geht."

jau




Uve Eichler - 27.03.2005 um 12:26 Uhr

An dieser Aussage ist was dran, denn allein die Gedankengänge die ein Lyriker zu Papier bringt sind immer eine Herausforderung für den Leser. Ob dieser Betrachter dann mit dem Geschriebenen fertig wird, das ist eine andere Sache.
Wenn nur einzelne Wortfetzen ungeordnet aufgeschrieben werden, wird die Kritik über Geschriebenes selbstverständlich schwierig.
Eine genaue detailierte Beschreibung, was Lyrik ausmacht erscheint mir doch sehr fragwürdig.
Wenn man sich die Schriften vergangener Tage ansieht, so stellt man fest, dass schwierige Texte die wohl breiteste Möglichkeiten der Interpretation bieten.
Ein schönes Breispiel ist:

- Sprachspeicher (DuMont)
200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert

ISBN 3-7701-5813-X




hibou - 27.03.2005 um 14:17 Uhr

Uwe schrieb:
"Eine genaue detailierte Beschreibung, was Lyrik ausmacht erscheint mir doch sehr fragwürdig. "

ja, aber ein bisschen sammeln können wir, oder?




Jasmin - 06.04.2005 um 00:54 Uhr

Ein Dichter sollte ein gutes Medium sein.



Kenon - 08.04.2005 um 19:26 Uhr

Zitat:

hier ein artikel zu Thomas Kling, m.E. ein typischer Lyrik-Lyriker:

Lyrik darf ästhetisch sein - die Klingsche ist es wohl eher nicht. Hier sind (trotzdem) fünf Gedichte von ihm:

http://www.digitab.de/kling/index.htm




Jasmin - 08.04.2005 um 19:36 Uhr

Kann ich leider gar nichts mit anfangen. Für mich ist das chaotische Prosa, aber vielleicht habe ich keine Ahnung.

Bin ein paar Tage vor Klings Tod durch hibous Beitrag auf ihn aufmerksam geworden, habe aber eben erst Lyrik von ihm gelesen.

Der Wortschatz erscheint reichhaltig, auch die Verwendung von Neologismen und waghalsigen Komposita ist beeindruckend. Aber ansonsten entstehen beim Lesen ein heftiger Widerwillen und der Wunsch, die Lektüre abzubrechen, was ich auch getan habe.

Entschuldige, hibou. Aber sag mir bitte, wo für Dich das Lyrische in Klings Lyrik zu finden ist.




Jasmin - 19.04.2005 um 12:32 Uhr

Es lässt mich nicht los, dass ich mich so voreilig und unbedacht zu Thomas Klings Lyrik geäußert habe. Deshalb hier ein Gegengewicht in Form von zwei wohlwollenden Rezensionen, auf die ich eben gestoßen bin:


Die Zeit vom 23.03.2005

Es fällt Hubert Winkels nicht leicht zuzugeben, dass er von Thomas Klings Gedichten ergriffen ist. Denn Kling verweigert jede Art der Anteilnahme, jede Form der Intimität, seine Texte "funkeln kalt in technischer Bläue", formuliert Winkels seine Faszination. Gerade beim ersten Gedichtzyklus, dem "Gesang von der Bronchoskopie" scheint diese Klingsche Mischung besonders unter die Haut zu gehen, denn hierin beschreibt der Autor seine Erfahrungen im Krankenhaus; medizinische Aufzeichnungstechniken konkurrieren mit literarischen, verzerren die Wahrnehmung und verhindern die direkte Gefühlsbekundung. Gerade das macht diese K-Gedichte, wie Winkels sie nennt, so intensiv: K - wie Krankenhaus und Krieg, aber auch Körper und Konkretion oder Kälte und Kunst, zählt er auf. Ganz ungewöhnlich ist für den Rezensenten der dritte Teil der "Flugdaten", in dem der Dichter den Versuch wagt, Essay und Gedicht gleichberechtigt nebeneinanderzustellen: thematisch und motivisch eng miteinander verschränkt, behauptet Winkels. Kling wählt ausgerechnet den Kulturhistoriker Rudolf Borchardt zum Führer durch den Dschungel der Weiblichkeit, der wild ausschweifenden Unterwelt: eine Rechnung, die für Winkels, voll aufgeht und Klings eigene Gedichtpraxis erhellt.

Neue Zürcher Zeitung vom 02.03.2005

Michael Braun fühlt sich im Fall von Thomas Klings neuestem Gedichtband an den Spruch Paul Celans erinnert: "Dichtung: Das kann eine Atemwende bedeuten." Bei Kling liest Braun diesen Satz geradezu wortwörtlich, denn das Buch beginnt mit dem "Gesang von der Bronchoskopie", in dem Kling seinen Krankenhausaufenthalt als Höllentrip durch den Körper beschreibt; Braun ist regelrecht erschüttert von diesem existenziellen Kampf gegen das Ersticken und gegen das Verstummen. Kling beschreibt die Vorgänge in und an seinem Körper jedoch nicht nur klinisch kühl, sondern verbindet somatische Selbsterkundung mit einer geologischen Perspektive, die Körperpartien Schicht um Schicht materiell bloßlegt: der Atemraum in den Metaphern des Bergbaus, diese kühne Mischung schafft laut Braun "Bildfügungen von intensiver Leuchtkraft". Durch die geologische Perspektive gleitet Kling aber auch in die kulturelle Frühgeschichte ab, bezieht sich auf Stoffe der antiken Mythologie, was Kling in den Augen von Braun von der Wiener Moderne abrücken und Dichtern wie Borchardt oder George wieder näher rücken lässt. Braun ist begeistert von Klings Sprachkombinatorik, die antike Stoffe und Sprachpartikel aus der Gegenwart miteinander in Reibung bringt und dabei "große Reibungshitze" erzeugt.


Quelle: http://www.perlentaucher.de/buch/20362.html




Kenon - 19.04.2005 um 12:39 Uhr

Zitat:

Es lässt mich nicht los, dass ich mich so voreilig und unbedacht zu Thomas Klings Lyrik geäußert habe. Deshalb hier ein Gegengewicht in Form von zwei wohlwollenden Rezensionen, auf die ich eben gestoßen bin:

Ach so, und ich hatte gedacht, dass Du vielleicht auf Werke von ihm gestoßen wärest, welche Dir zugesagt oder Dich gar beeindruckt hätten.




Jasmin - 19.04.2005 um 20:12 Uhr

Nein, das nicht. Aber durch diese Rezensionen habe ich eine etwas mildere Einstellung zu Klings Lyrik bekommen. Ich habe erfahren, was man darin sehen kann. Und ich habe verstanden, warum seine Dichtkunst mich nicht anspricht, wobei ich mich nur auf die Lektüre der fünf Gedichte auf digitab.de stütze. Vor allem dieses „verweigert jede Art der Anteilnahme, jede Form der Intimität, seine Texte "funkeln kalt in technischer Bläue", wie Winkel es formuliert, scheint ein Kriterium für meine Antipathie zu sein. Nur dass Winkel das besser artikulieren konnte.

Außerdem frage ich mich, ob das Thema Krankheit und Krankenhaus in der Lyrik seinen Platz hat. Vielleicht ja, wenn man den Grundsatz berücksichtigt, dass man über das schreiben sollte, was man kennt…[?]




514 - 11.05.2005 um 23:17 Uhr

wieviel Distanz muss man zu seinen eigenen Werken einnehmen (können) ?



Jasmin - 11.05.2005 um 23:23 Uhr

Zitat:

wieviel Distanz muss man zu seinen eigenen Werken einnehmen (können) ?

Nachdem man sie veroeffentlicht hat?




514 - 11.05.2005 um 23:58 Uhr

die Frage war erstmal allgemein gemeint.. das Veröffentlichen an sich stellt schon eine Art Distanzierung dar - vielleicht.
mir scheint es so.
denke oft übers Distanzieren nach, wenn ich Lesungen beiwohne und die Autoren hinterher über "den Erzähler" sprechen, als hätte jemand anders den Text durch sie geschrieben.




Jasmin - 12.05.2005 um 00:04 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 00:16:29 am 12.05.2005 editiert

Zitat:

...denke oft übers Distanzieren nach, wenn ich Lesungen beiwohne und die Autoren hinterher über "den Erzähler" sprechen, als hätte jemand anders den Text durch sie geschrieben.

Vielleicht ist es auch manchmal so. Dass der Autor eines Textes nur als Medium fungiert.

Und dann - der fiktive Erzaehler ist nicht immer mit dem realen Urheber eines Textes gleichzusetzen. Oftmals schluepft der Autor in die Rolle des Erzaehlers und erzaehlt Erfundenes, was er so nicht erlebt hat.




514 - 12.05.2005 um 00:12 Uhr

Ja.. als Medium ist es denkbar.
Natürlich kann und soll man nicht gleichsetzen.
Vielleicht ist es nur der kühle Unterton, der mich bei dem Hinterher-über-eigene-Texte-Sprechen irritiert. Denn auch wenn ich "bloß" Medium bin und die Worte gewissermaßen durch mich durch fließen, so empfinde ich ja trotzdem. Habe ich also als Medium fungiert - bzw. mein Text - , so ist es doch schwer, darüber zu sprechen, als hätte ich es nicht mit-erlebt..




Jasmin - 12.05.2005 um 00:30 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 00:31:33 am 12.05.2005 editiert

Ich glaube, dass es notwendig ist, Distanz zu schaffen, um einen guten Text zu schreiben. Und die ist auch dann spuerbar, wenn man ueber seinen eigenen Text spricht.

Emotional aufgeladene Texte sind in der Regel nicht wirklich gut. Oft sind sie kitschig und sentimental.

Erst aus der Distanz des Beobachters gewinnt man die Essenz.




Sabine Marya - 12.05.2005 um 12:23 Uhr

Diese Nachricht wurde von Sabine Marya um 12:24:07 am 12.05.2005 editiert

Ich denke, es gibt 2 Sorten von Gedichten: die einen, die man schreibt, um seinen "Seelenmüll" zu verarbeiten, und davon gehört manches vielleicht veröffentlicht, nach kritischer Betrachtung aus der Distanz heraus (also den Text nach einer gewissen Zeit erneut zur Hand nehmen + ihn mit den Augen eines Lesers oder Lektors betrachten), aber sicher nicht alles. Manches hat seinen Platz einfach nur im Tagebuch, und da ist es richtig aufgehoben.
Und dann gibt es die Gedichte, die aus einer Situation heraus, eine Situation beschreibend (z.B. "Der Panther" von Rilke) oder für einen bestimmten Anlass geschrieben werden oder die eine Geschichte erzählen.

Eine sehr schöne Mischung deutscher Gedichte aus 9 Jahrhunderten findet sich in dem Gedichtband "Deutsche Gedichte" im Inselverlag, das ist eine Sammlung von Walther von der Vogelweide bis hin zu heutigen Dichtern. Und da zeigt sich zum einen das breite Speektrum, was Larik ist + war, und zum anderen gibt es einen wundervollen Einblick in die verschiedenen Formen der deutschen Lyrik in den Jahrhunderten.




Kenon - 12.05.2005 um 12:39 Uhr

Zitat:

wieviel Distanz muss man zu seinen eigenen Werken einnehmen (können) ?

Man muss sich fragen können:

Wer hat das geschrieben?

Erst von diesem Standpunkt aus kann man seine Werke schonungslos beurteilen.




Uve Eichler - 12.05.2005 um 14:52 Uhr

Nicht jeder besitzt die Fähigkeit der Selbsterkenntnis.

Sie loben mich und machen einen Esel aus mir. Meine Feinde hingegen sagen mir grade heraus, dass ich ein Esel bin. Also nehme ich durch meine Feinde in der Selbsterkenntnis zu, und durch meine Freunde werde ich hintergangen.
(Shakespeare)

Wenn man sich selbst in den geschriebenen Stücken erkennt, ist es ein Leichtes diese zu verteidigen. Schreibt man aber über etwas Unbekanntes, dann wird es zunehmend schwieriger ein objektives Urteil der geleisteten Arbeit abzugeben.




Sabine Marya - 12.05.2005 um 22:15 Uhr

Wie können wir über etwas schreiben, was uns un- bekannt ist?
Bereits oder spätestens im Schreibprozess nähern wir uns doch dem Unbekannten an + machen uns damit vertraut.
Wenn z.B. jemand ein SF- oder Fantasy - Buch schreibt, dann ist diese Welt, die er da erschafft, keine ihm unbekannte mehr, sondern eine vertraute.




Jasmin - 12.05.2005 um 22:16 Uhr

Zitat:

Man muss sich fragen können:

Wer hat das geschrieben?

Erst von diesem Standpunkt aus kann man seine Werke schonungslos beurteilen.

Das erfordert ein gewisses Maß an Schizoidie...




Sabine Marya - 13.05.2005 um 10:59 Uhr

Sprachelegie

Verwüstet liegt das gute Land der Sprache.
Und Sätze ragen, kahl und abgelaubt,
das Nichts in ihren Ästen. Redensarten
stehn schräg im Raum, die Wurzeln in der Luft.
Und Worte, wo du hintrittst: angeschlagen
und eingebeult. Und die vergnügtesten,
die gestern noch mit Pauken und Trompeten
durchs Land gezogen... und die stillen, die
verschämt und innig das Gewesene
noch rückgetönt - sie alle liegen wüst
und unverscharrt und unbeweint im Feld.
Und nur ein kleiner Trupp von völlig nackten
und stämmigen Vokabeln kehrt zuletzt
nach Haus zurück. Und hinter ihrem Schritt
steigt hoch der Staub und löscht die Landschaft aus.

(Günther Anders, 1902-1992)




514 - 13.05.2005 um 15:18 Uhr


sich fragen können sollen:
"Wer hat das geschrieben?"


.. ich schwanke zwischen Zustimmung
und Ablehnung..
.. Ich ahne die Vorzüge bewusster Dissoziation,
aber ich bezweifle ihre Notwendigkeit.






Kenon - 14.05.2005 um 14:59 Uhr

Zitat:

aber ich bezweifle ihre Notwendigkeit.

Was ist schon notwendig ... ich selbst finde die Herangehensweise sehr hilfreich, weil bei der Textbewertung keine falschen Rücksichten genommen werden müssen. Wenn man viel schreibt, kommt man vielleicht auch zufällig einmal an den Punkt, an dem man einen Text, dessen Urheberschaft man sich nicht sofort selbst zuordnen kann, in den Archiven entdeckt.




514 - 14.05.2005 um 15:40 Uhr

Wahrscheinlich hat das wirklich was damit zu tun, wieviel man schreibt, und wie routiniert man vielleicht schon ist.
Das mit der nicht nötigen falschen Rücksichtnahme finde ich interessant..
Vielleicht kommt die Distanz.. irgendwann also.. von selbst. - ?




Kenon - 14.05.2005 um 16:53 Uhr

Zitat:

Vielleicht kommt die Distanz.. irgendwann also.. von selbst. - ?

Sie kommt (spätestens) mit der Zeit.




Sabine Marya - 16.05.2005 um 22:41 Uhr

Zeit gibt uns die Möglichkeit, Distanz auf zu bauen und zu reifen. Schauen wir uns doch mal die Texte an, die wir vor 10, 15, 20 Jahren geschrieben haben. Was findet Gnade vor unseren Augen? Was empfinden wir noch heute als gut, was würden wir heute nie mehr jemandem zeigen, obwohl wir es damals gut fanden, aus der Situation heraus?
Mit der Zeit verändern ja auch wir uns + unser Schreiben. Und unsere Kritikfähigkeit unserem Schreiben gegenüber wächst. Wenn ich vergleiche, wie zaghaft ich mein erstes Buch bearbeitet habe und wie sich das bis heute verändert hat, wie ich heute viel kritischer sehen kann, was gestrichen und verworfen oder umgeschrieben werden muss.
Dabei haben mir die Zeit geholfen + der Austausch mit anderen + immer wieder der Vergleich meines Ursprungstextes mit dem lektorierten Text.




Jasmin - 17.05.2005 um 02:08 Uhr

Gute Lyrik muss sehr gut verschluesselt und verschleiert sein. Sie darf nicht zu offen, unmittelbar und direkt sein.

Die Woerter Herz, Schmerz, Seele sollten vermieden werden.

Je mehr Abstraktion vom eigenen Geschehen, desto besser.




Kenon - 17.05.2005 um 02:25 Uhr

Zitat:

Die Woerter Herz, Schmerz, Seele sollten vermieden werden.

Such doch mal im Archiv nach diesen Worten, Du wirst sicher einige "schlechte" Dichter finden.




Jasmin - 17.05.2005 um 02:28 Uhr

Diese Nachricht wurde von Jasmin um 02:29:34 am 17.05.2005 editiert

Zitat:

Zitat:

Die Woerter Herz, Schmerz, Seele sollten vermieden werden.

Such doch mal im Archiv nach diesen Worten, Du wirst sicher einige "schlechte" Dichter finden.

Das muss nicht sein.

Ich habe eben meine eigenen "Gedichte" wieder einmal gelesen - die, die nach mehreren Saeuberungsaktionen uebrig geblieben sind - und habe adhoc befunden, dass diese drei Worte die groessten Qualitaetsminderer sind.

Aber es gibt sicher noch mehr.




Sabine Marya - 17.05.2005 um 08:36 Uhr

ratschlaf für einen dichter

als dichter musst du wissen wie
man leute killt köpfe zwischen zeilen klemmt sie plätten satz für
satz das ist das blei das du hast
ein gutes gedicht braucht heut
zutage einfach einen mord damit
die quote stimmt sie nicht zum
pinkeln gehn wenn du um ihre
herzen wirbst musst du sie brechen

(Albert Ostermaier *1966)




Kenon - 17.05.2005 um 11:20 Uhr

Zitat:

Schauen wir uns doch mal die Texte an, die wir vor 10, 15, 20 Jahren geschrieben haben. Was findet Gnade vor unseren Augen?

Nicht jede Entwicklung geht zwangsläufig vorwärts. Vielleicht schaut man auch ein wenig wehmütig auf die Pyramiden der Vergangenheit, während man im Jetzt nur noch Lehmhütten baut.




LX.C - 17.05.2005 um 17:35 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 17:46:06 am 17.05.2005 editiert

[Quote] Schauen wir uns doch mal die Texte an, die wir vor 10, 15, 20 Jahren geschrieben haben. Was findet Gnade vor unseren Augen?

[Quote]Nicht jede Entwicklung geht zwangsläufig vorwärts. Vielleicht schaut man auch ein wenig wehmütig auf die Pyramiden der Vergangenheit, während man im Jetzt nur noch Lehmhütten baut. [/Quote]
[/Quote]
Sartre schrieb einst zu diesem Thema:

Mein bestes Buch ist dasjenige, das ich gerade schreibe, gleich danach kommt jenes, das vor kurzem erschienen ist; aber insgeheim bereite ich mich schon darauf vor, es demnächst peinlich zu finden. [...] Natürlich falle ich nicht auf mich herein: ich sehe gut, daß wir uns wiederholen. [...] Gestern war ich blind, mein heutiger Fortschritt besteht darin, begriffen zu haben, daß ich nicht mehr fortschreite. (J. P. Sartre, Die Wörter)




514 - 17.05.2005 um 19:34 Uhr

aber trotz aller Selbstkritik (gutes Sartre-Zitat, treffend!) muss es doch eine Art Punkt geben, an den man kommen kann und sagen:
Das hier will ich veröffentlichen.
?




Sabine Marya - 17.05.2005 um 20:22 Uhr

Wäre man nicht irgendwann an dem Punkt angelangt zu sagen, "das hier will ich veröffentlichen", dann würde man diesen Schritt sicher nicht machen. Doch können wir auch noch nach 20 Jahren "Ja" zu diesem Buch sagen? Sehr treffend, wie Sartre es beschreibt! Deshalb ist es auch so eine entscheidende Frage, ob das Buch wirklich so weit ist, dass es veröffentlicht werden kann, auch, wenn man das Gefühl hat, dass es heute so weit ist. Aber was ist mit morgen? Ein veröffentlichtes Buch kann man genau so wenig zurück nehmen wie das gesprochene Wort.



Jasmin - 17.05.2005 um 22:06 Uhr

Zitat:

Nicht jede Entwicklung geht zwangsläufig vorwärts. Vielleicht schaut man auch ein wenig wehmütig auf die Pyramiden der Vergangenheit, während man im Jetzt nur noch Lehmhütten baut.

Wenigstens hat man Pyramiden gebaut. Die werden dort stehen für immer.

Während andere immerfort nur Lehmhütten bauen. Nichts als Lehmhütten.

Im Jetzt und auch in der Zukunft.




Sabine Marya - 17.05.2005 um 22:21 Uhr

Pyramiden wurden errichtet für Tote. Lehmhütten werden gebaut für Lebende.
Macht es Sinn, auch heute noch Pyramiden zu erbauen? Oder sollten wir nicht lieber schauen, welche Orte wir wie erbauen können, um sie mit Leben zu füllen




LX.C - 18.05.2005 um 00:56 Uhr

[Quote]Doch können wir auch noch nach 20 Jahren "Ja" zu diesem Buch sagen? Sehr treffend, wie Sartre es beschreibt! Deshalb ist es auch so eine entscheidende Frage, ob das Buch wirklich so weit ist, dass es veröffentlicht werden kann, auch, wenn man das Gefühl hat, dass es heute so weit ist.[/Quote]
Ich denke, Sartre wollte damit etwas ganz anderes sagen, und zwar, daß es ein ganz natürlicher Prozeß ist, seine einstigen Schriften zu einem späteren Zeitpunkt argwöhnisch zu betrachten.
Und daß wir oft der Illusion unterliegen, uns weiterzuentwickeln,
obwohl wir uns im Grunde nur wiederholen.

Wenn man ständig darüber nachdenken würde, ob ein Werk in 20 Jahren noch seine Berechtigung hat, dann würde man nie dazu kommen, etwas zu veröffentlichen.




514 - 18.05.2005 um 12:00 Uhr


Ja!!
Man muss wohl Abstand nehmen von dem Glauben, zu irgendeinem (immer in der Ferne liegenden) Punkt in seinem Leben die erforderliche Löffelmenge Weisheit gefressen zu haben, die einen zu einer Veröffentlichung berechtigen könnte.
Entwicklung annehmen.. ebenso wie die Einsicht, dass ein Wort nicht zurückzunehmen ist, aber ebensowenig endgültige Urteile spricht. (sprechen kann)
Dass das Wort sich wandelt..





Sabine Marya - 18.05.2005 um 18:08 Uhr

Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.

( Rainer Maria Rilke)




Jasmin - 01.06.2005 um 23:23 Uhr

Ich lese gerade ein Interview mit Jörg Schön, Herausgeber des Gedichtbandes Literarische Steine. Aus dem Fundus des Münchner Literaturbüros hat er aus 4.000 Werken 120 Gedichte ausgesucht.

Auf die Frage nach welchen Kriterien er die Gedichte ausgesucht habe, antwortet Schön:

Ein Werk muss mich berühren, muss mich aufhorchen lassen, mich innehalten lassen, muss wie ein Schlag vor die Brust sein, muss im Moment des Lesens alle anderen Gedanken löschen.

Auf die Frage, woher ein Gedicht seiner Meinung nach diese Kraft nehme, erklärt er:

Wenn die Dichterin, der Dichter von einem intensiven Gefühl bei der Entstehung des Werkes gepackt ist, in der Literaturwissenschaft spricht man von Emphase, dann finden sich auch die Worte und deren Reihung und so überträgt sich dieses intensive Gefühl über das Werk auch auf die Leserin, den Zuhörer. Es heißt ja: „Nur wer selber brennt, kann andere entzünden.“

Daraufhin wirft der Fragesteller ein, dass es offenbar den meisten an intensiven Gefühlen fehle oder er wohl die falschen Gedichte lese. Er fragt, ob es nicht auch den Fall geben könne, dass jemand zwar ganz intensiv etwas empfinde, das Gedicht aber dennoch nichts sagend bliebe.

Dazu Schön:

Das könnte die Situation eines Anfängers sein. Er braucht Jahre, um seine Sprache, ja überhaupt Vertrauen in seine Sprache zu finden, den Weg in sein Innerstes aufzuspüren, den Mut sich dann damit auseinander zu setzen und es vor allem auch preiszugeben. Im Übrigen haben wir auch Dichterinnen und Dichter, die wie unter einem unheiligen Zwang stehen: Sie schreiben sich die eigenen Werke kaputt. Der eine leidet unter dem Gefühl, dass mehr Belesenheit durchscheinen müsse, die andere glaubt, dass jedes Werk noch eine soziale Komponente brauche, ein anderer hat sich einen bestimmten Schreibstil in den Kopf gesetzt.

Aus: Sandra Uschtrin, Michael Joe Küspert (Hrsg.), Handbuch für Autorinnen und Autoren






Immer - 02.06.2005 um 03:03 Uhr

einen dichter zeichnet aus, dass er die wahrheit sagt. dies mag nun ein wenig relativ erscheinen (im besonderen in dieser post-(post?) modernen) zeit. aber es ist so- ein dichter hat die wahrheit zu sagen und sich selbst metaphorisch zu verprügeln. ich bin der meinung, dass es unmöglich ist zu lernen dichter zu sein, jedoch kann man lyrik so wie jede kunst bis zu einem gewissen grad erlernen und verfeinern. (nur absolute barbaren glauben, dass kunst nicht auch anstrengung und große übung erfordert).

nun wharheit: meiner meinung nach ist sogenannte wahrheit im speziellen in dieser form der informationübermittlung (der dichtung) verstärkt zu finden: im mythos, in der magie und in der kunst. das sind die paradigmen, welche unabhängig von zeitlichen und wissenschaftlichen strömungen einsichten zu transportieren vermögen.(dazu gehört natürl. auch d lit) aber dichtung ist wie d name sagt- konzentrierter, eben ver-dichteter.

so führt das alte red book of hergest drei charakteristika für eine guten dichter an:
1. mythen
2. poietische kraft (schöpferisches, kreatives potential)
3. repertoire an alten versen (tradition)

Abgesehen von jenem wahrheitsanspruch kommt dann noch der der musikalität des klanges hinzu (obwohl dies sich schon etwas relativiert hat- va im 20.Jhdt)

es wäre noch sehr viel über dieses thema zu sagen, aber ich habe keine lust mehr- ein dichter zu sein ist nicht jedem gegönnt- das ist meine meinung- und es ist sowieso nicht wünschenswert, ja gewissermaßen ein fluch, einer zu sein- aber trotzdem bin ich zufrieden damit- nur die materielle armut geht mir auf die nerven...:) (ihr könnt mich, ich geb smilies rein wann ICH will) ;) (denn auch sie sind eine form der effektiven kommunikation)




Kenon - 02.06.2005 um 11:47 Uhr

Zitat:

einen dichter zeichnet aus, dass er die wahrheit sagt.

Das unterschreibe ich gern.

Wahrheit, rücksichtslose Wahrheit, wie hässlich Du oft bist!




Jasmin - 02.06.2005 um 20:10 Uhr

Keiner kennt die Wahrheit.
Manche verwechseln die Wirklichkeit mit der Wahrheit. Den Traum mit der Wirklichkeit.
Aber die Wirklichkeit ist nicht die Wahrheit.

Dichtung ist erfundene Wahrheit.




Kenon - 02.06.2005 um 20:23 Uhr

Es geht um die persönliche Wahrheit – und die kann man sehr wohl entdecken. Die meisten Menschen sind allerdings zu bequem dazu, ihnen ist das Lügen zur Gewohnheit geworden, sie spinnen sich selbst und andere Menschen in ihre fürchterliche Falschheit ein.

"Alle verstellten die Stimme und logen gegeneinander. So ein feines, zirpendes Stimmchen machten manche, um sich einzuschmeicheln - manchmal brüllten auch die Lehrer, obwohl es ihnen gar nicht so brüllend zumute war. Wozu das? Die vielen verstellten Stimmen? Verfügt jeder Mensch über mehrere - und die eigene, die verschweigt er, oder hat sie verloren?"

Aus: Johannes R. Becher, Abschied, 1940




Jasmin - 02.06.2005 um 23:31 Uhr

Es kann auch andere Gründe haben, warum ein Mensch seine persönliche Wahrheit noch nicht entdeckt hat. Es muss nicht allein Bequemlichkeit und Falschheit dahinter stecken. Manche Menschen werden gezwungen, sich immer wieder hinter Masken zu verstecken, um ihr Überleben zu sichern. Sie schalten das System des Fühlens ab und spielen Rollen, weil gewisse Schmerzen die Grenze des Erträglichen überschreiten.




Sabine Marya - 03.06.2005 um 15:57 Uhr

So ist es z.B. mit allen traumatisierten Menschen. Die mussten sich selber ja verstecken, um zu überleben. Jedes Fühlen ist zu gefährlich, und jedes sich selber Spüren ebenfalls.
Manche schaffen es in der Therapie, sich selber zu entdecken + sich auf die Gefühle ein zu lassen. Andere sind gefangen in psychischen + psychiatrischen Erkrankungen oder sterben, bevor sie die Chance hatten, sich selber + die eigene Gefühlswelt erforschen zu können.




Jasmin - 03.06.2005 um 21:33 Uhr

Insbesondere wenn man schon sehr früh und sehr oft traumatisiert wurde, geht einiges kaputt, das später kaum noch reparabel ist. Es entstehen Narben, eine nach der anderen - und Narbengewebe ist nicht empfindsam.

Wenn Eltern ihre Kinder dazu bringen, sich schlecht und schuldig zu fühlen, dann werden diese Kinder wahrscheinlich später immer wieder Situationen produzieren und anziehen, in denen sie sich schlecht und schuldig fühlen müssen. Es ist wie ein Zwang, denn wer tief in seinem Inneren von der eigenen Schlechtigkeit überzeugt ist, der wird immer wieder in menschlichen Beziehungen diese Schlechtigkeit unter Beweis stellen wollen.

Schmerzhaft ist das dann für die Menschen, die mit dieser Schlechtigkeit nicht gerechnet haben, da sie ja nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, sondern erst, wenn man diesem Wesen zu nahe kommt.

Von sich aus greifen Quallen nicht an. Erst, wenn man mit ihnen in Berührung kommt, wenn etwas gegen ihren Stachel kommt, berstet die Nesselzelle und feuert eine kleine Spitze an einem Faden heraus. Die Spitze verletzt das Beutetier und das Gift, das in die Wunde kommt, vergiftet es.




Sabine Marya - 04.06.2005 um 11:42 Uhr

Ein Weg heraus aus dieser Destruktivität von verletzten Menschen kann sein, Psychotherapie zu machen + die alten Programme zu löschen und/ oder durch neue gesunde zu ersetzen. Das ist möglich. Das zeigt sich z.B. an sich selbst verletzenden Menschen, die leren, in kleinen Schritten, sich z.B. nich mehr mit dem Messer zu schneiden. Erst lernen sie, sich nur noch ein wenig zu verletzen, also z.B. nicht mehr so schlimm, dass es genäht werden muss. Dann oder parallel dazu lernen sie Ersatzhandlungen wie Cololpacks auflegen, rote Striche aufmalen, sich mit einem Gummiband schnipsen etc. oder sich zu bewegen (laufen, joggen, brüllen...) oder ewtwas anderes kaputt zu machen, z.B. Glasmüll oder Holzhacken, bis der Schnippeldruck immer weniger wird, auch, weil sie lernen, solche Situationen zu meiden oder abzulehnen, die in ihnen Schnippeldruck auslösen.
Sie lernen, sich selber zu verzeihen + mit dne inneren + äußerne narben zu leben. Und ein Rückfall bedeutet nicht das Ende, sondern ist ein Warnhinweis, besser hin zu schauen, wo noch mehr auf sich aufgepasst werden muß.
Das Ganze ist aber ein Prozeß von Jahren, und es ist wichtig, dass sie dann nicht aufgeben.




Immer - 05.06.2005 um 04:12 Uhr

Diese Nachricht wurde von Immer um 04:14:12 am 05.06.2005 editiert

Zitat:

Es geht um die persönliche Wahrheit – und die kann man sehr wohl entdecken. Die meisten Menschen sind allerdings zu bequem dazu, ihnen ist das Lügen zur Gewohnheit geworden, [...]
Arne: Das sehe ich ähnlich. Mein Leben und alles, was es beinhaltet, ist meine Wahrheit, und damit sage ich nicht, dass es die einzige absolute Wahrheit wäre. Ich glaube Schiller sagt dasselbe in einem seiner empfehlenswerten Aufsätze. Die Wirklichkeit ist auch relativ: aber wir können an ihr gemeinsam teilhaben, indem wir dieselben Worte teilen, doch sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass wir je genau die selben Erfahrungen teilen oder haben können. Dichtung hat im Gegensatz zu Literatur den Vorteil (der zugleich ein Nachteil ist), dass sie immer höchst persönlich und offener für verschiedenste Interpretationen ist. Aber zugleich hat sie auch eine größere mystische (oder wenn man nicht an Religion etc glaubt: ) eine ketzerische, subversive, sich selbst auflösende Komponente. Durch sie ist es uns gewissermaßen gegeben ihr Medium- die Sprache selbst zu transzendieren, zu übersteigen und dies durch sie- dieses Ungreifbare, zwischen den Zeilen sich Befindliche macht einen anderen ihrer Anreize aus..




Jasmin - 05.06.2005 um 14:09 Uhr

Zitat:

Ein Weg heraus aus dieser Destruktivität von verletzten Menschen kann sein, Psychotherapie zu machen + die alten Programme zu löschen und/ oder durch neue gesunde zu ersetzen.

Da aber, wo die Therapie überzeugend versagt, besteht eine [letzte] Hoffnung auf Sublimierung. Das kranke Stroh kann, wenn das Schicksal gnädig gestimmt ist, veredelt –das heißt zu Gold gesponnen werden.




Sabine Marya - 05.06.2005 um 20:25 Uhr

Noch immer ist es Glückssache, eine gute Therapie zu bekommen, was sowohl an der Person + dem Wissen + den Fähigkeiten der TherapeutIn liegt als auch an der Fähigkeit der KlientIn, sich auf Therapie einzulassen - und teilweise auch Geldsache, wenn die KlientIn ihre Therapie weiter selber bezahlen muss, weil die Kasse nicht mehr zahlt, da die bewilligte Stundenzahl überschritten ist.
Besonders unser psychiatrisches System hat seinen Schwerpunkt in vielen Kliniken noch heute darin, dass die PatientIn wieder funtioniert im gesellschaftlichen System + nicht, dass sie zu leben beginnt. Symptombekämpfung an Stelle von Leben lernen. Und dann gammelt das Stroh eher, als dass es zu Gold gesponnen wird. Oder man zahlt einen hohen Preis dafür, dass einem jemand das Stroh zu Gold spinnen kann: die Hergabe des Kindes.
Und was bedeutet das Symbol des Kindsein? Lebendigkeit + Kreativität.




Jasmin - 06.06.2005 um 02:01 Uhr

Die Frage, die sich oft aufdrängt, ist die - soll oder will ein Künstler, ein Schriftsteller therapiert werden? Gelingt die Therapie, was bleibt dann noch von ihm übrig? Wird er genau so schaffen und schreiben können wie vorher?

Was wäre aus Trakl, aus Poe, aus Hölderlin und ihrem Werk geworden, wenn man diese erfolgreich therapiert hätte?

Vielleicht muss Kreativität in manchen Fällen tatsächlich in der Währung des Wahnsinns bezahlt werden, denn wer in die tiefsten Tiefen des Meeres vordringen will, wird auf Dunkelheit stoßen, Dunkelheit, die den Geist zeitweise umnachtet.




Uve Eichler - 09.06.2005 um 15:08 Uhr

Wenn man Künstler therapiert und dann noch ein Ergebnis erwartet, wie sollte das aussehen?
Eine Erklärung zu finden, die für die Öffentlichkeit geeignet erscheint?
Oder einfach nur: Wir haben diesen Künstler beruhigt?
Dabei läuft es mir kalt den Rücken runter. Man kann auch noch härtere Aussagen treffen und Künstler als Spielball von Therapeuten bezeichnen.
Das diese Behandelnden aber selbst Instrument ihrer Argumente sind, das möchte keiner sehen.




Sabine Marya - 09.06.2005 um 18:39 Uhr

Es ist die Frage, wie da der Therapieansatz ist: Soll die Person in der Gesellschaft besser + reibungsloser funktionieren? Oder will die Therapie dabei unterstützen, ein selbstbestimmteres + gesünderes + lebensbejahenderes Leben zu leben?

Betrachten wir z.B. Virginia Woolf, die ich für eine großartige Schriftstellerin halte. Ihr Schreiben war durch ihre psychische Erkrankung immer wieder blockiert oder gehemmt, und schließlich, als sie gespürt hat, dass es ihr erneut so schlecht zu gehen beginnt wie schon so viele Male zuvor, dazu die Angst vor dne Deutschen, da ist sie ins Wasser gegangen + hat damit ihrer erneut bevorstehenden Qual ein Ende bereitet.




Jasmin - 11.06.2005 um 01:00 Uhr

Vielleicht kann eine Therapie mit dem richtigen Therapeuten einen Kuenstler vor dem sicheren Tod bewahren und erst so die Entfaltung seiner Kreativitaet ermoeglichen.

Jeder Fall ist verschieden.

Es waere intereressant zu untersuchen, welche Schriftsteller sich einer Therapie unterzogen haben und wie sich diese auf ihr Schaffen ausgewirkt hat.

Ob Therapie den Selbstdestruktiven vor sich selbst bewahren kann?

E.M. Cioran schreibt dazu:

Nur wenn man in irgendeiner Hinsicht immer ausserhalb von allem stand, toetet man sich. Es handelt sich um eine urspruengliche Ungemaessheit, deren man nicht bewusst sein muss. Wer berufen ist, sich zu toeten, gehoert nur zufaellig dieser Welt an; fuer ihn ist im Grunde keine Welt zustaendig.





Sabine Marya - 11.06.2005 um 10:21 Uhr

Aber in dem Fall von V. Woolf z.B. geht es mir nicht in erster Linie um den Suizid, sondern um das große Leiden + die Phasen des nicht- Schreiben- könnens, weil die seel. Krankheit sie so sehr in ihren Klauen gefangen hielt. Sehr deutlich wird ihr Leid in ihren Tagebüchern. Und dazu dann immer mal wieder die angedeuteten sexuellen Übergriffe, die sie als Kind erleiden musste + die in einem deutlichen Zusammenhang zu ihrem Leiden stehen.

Therapie kann den Selbstdestruktiven nicht vor sich selber bewahren, aber sie kann neue Wege + Möglichkeiten aufzeigen!




Kenon - 11.06.2005 um 12:38 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 12:39:28 am 11.06.2005 editiert

Zitat:

Wer berufen ist, sich zu toeten, gehoert nur zufaellig dieser Welt an; fuer ihn ist im Grunde keine Welt zustaendig.

Die Medizin bekommt immer mehr Gewalt über diese Zufälligkeiten, da muss man sich ja nur die gesunkene Kindersterblichkeitsrate anschauen. Die Frage ist, ob das tatsächlich "gut" ist, oder ob dadurch nicht viele zum Leben verdammt werden, die eigentlich dafür schon von Anfang an zu schwach waren. Natürlich ist dieses Problem zu komplex, um dazu ganz einfach seine Meinung sagen zu können.

Zitat:

Aber in dem Fall von V. Woolf z.B. geht es mir nicht in erster Linie um den Suizid, sondern um das große Leiden + die Phasen des nicht- Schreiben- könnens,

Muss man denn unbedingt schreiben? Ist Schreiben ein Selbstzweck? Viele große Schriftsteller haben das Schreiben irgendwann aufgegeben - und es hat ihnen wie auch ihren Lesern nicht geschadet. Die Woolf "heilen", damit man sie noch besser melken kann? Sicher die falsche Motivation.




Sabine Marya - 12.06.2005 um 02:42 Uhr

Nicht die Woolf heilen, damit sie noch besser melken kann.
Die Woolf heilen, damit sie besser leben kann! Trotz allem.




Jasmin - 15.06.2005 um 17:10 Uhr

Zitat:

Die Frage ist, ob das tatsächlich "gut" ist, oder ob dadurch nicht viele zum Leben verdammt werden, die eigentlich dafür schon von Anfang an zu schwach waren.


Niemand ist wirklich zu schwach zum Leben. Es gibt nur schwache Momente. Lebensabschnitte, in denen die Welt als hoffnungsloser Ort erscheint. Aber das ist nicht für immer. All die Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen - sie hätten vielleicht gerettet werden können, wenn jemand bei ihnen gewesen wäre.



Zitat:

Muss man denn unbedingt schreiben? Ist Schreiben ein Selbstzweck?

Ja, man muss unbedingt schreiben...
Schreiben ist ein Selbstzweck. Wenn man schreiben kann, dann hat man keine Zeit, um sich zu vernichten. Man kann nicht beides gleichzeitig tun.


Zitat:

Viele große Schriftsteller haben das Schreiben irgendwann aufgegeben - und es hat ihnen wie auch ihren Lesern nicht geschadet.

Das steht nicht fest. Manchen hat es sicher geschadet, weil sie ihre Energien nicht mehr kanalisieren konnten und sich so töteten, weil sie das Leben nicht mehr ertrugen - wie Virginia Woolf. Wenn sie depressiv war, konnte sie weder schreiben, noch lesen. Das Schreiben war für sie ein Ventil. Funktioniert das Ventil nicht, dann entsteht gefährlicher Überdruck.

Und die Leser - natürlich hätten die noch mehr lesen wollen von ihr.


Zitat:

Die Woolf "heilen", damit man sie noch besser melken kann? Sicher die falsche Motivation.

Die Woolf soweit heilen, dass sie keine Höllenqualen leiden muss...

Bei alledem war sie eine immens fleißige und disziplinierte Arbeiterin, der das Schreiben lebensnotwendig war, und sie tötete sich, als ihre Verzweiflung auch durch die Magie der Sprache nicht mehr zu bannen war.

http://de.wikipedia.org/wiki/Virginia_Woolf





Uve Eichler - 15.06.2005 um 17:16 Uhr

Zitat:

Bei alledem war sie eine immens fleißige und disziplinierte Arbeiterin, der das Schreiben lebensnotwendig war, und sie tötete sich, als ihre Verzweiflung auch durch die Magie der Sprache nicht mehr zu bannen war.

Verzweiflung und Unglaube sind große Machthaber, die sich immer in den Vordergrund stellen.




Sabine Marya - 17.06.2005 um 10:26 Uhr

Ihr Lachen war hinreißend, ein unerhörtes Lachen, fast wie das eines Kindes. Jauchzendes Lachen, wenn etwas sie amüsierte. (Virginia Woolf, Between the Acts)

aus dem von Jasmin empfohlenen Link zu V. Woolf


Verzweiflung und Unglaube sind große Machthaber, die sich immer in den Vordergrund stellen.
Ja- und im Fall von V. Woolf hat es ihr das Leben gekostet. Und genau so geht es heute noch vielen Menschen, dass die Verzweiflung stärker ist und dass sie keinen anderen Weg sehen als das aus dem Leben gehen, das bereits kein Leben mehr ist, sondern ein Überleben.
Schreiben hat V. Woolf dabei geholfen, überhaupt so lange zu überleben, das hat ihrem Leben Inhalt + Kraft gegeben, und gleichzeitig hat sie uns allen damit ein großes Erbe an literarischer Kunst hinterlassen.

All die Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen - sie hätten vielleicht gerettet werden können, wenn jemand bei ihnen gewesen wäre. - Ja, Jasmin! Und das ist eine andere Tragik am Suizid eines Menschen. Alles, was sie gebraucht hätten, das wäre oft eine Hand, die sie ein Stück hält auf ihrem Weg, bis sie alleine weiter gehen können.




Jasmin - 17.06.2005 um 13:50 Uhr

Die meisten Menschen, die sich nach dem Tod sehnen, sind klinisch gesehen depressiv. Manche sind nicht rein depressiv, sondern bipolar, was dazu führt, dass man sie oftmals nicht ernst nimmt. Man denkt, wer so hinreißend lachen kann, der ist nicht wirklich dem Tod zugewandt. Das täuscht aber. Auch eher heitere Schriftsteller wie Erich Kästner und Heinrich Heine litten an zuweilen sehr tiefer Melancholie.

Abgrundtiefe Verzweiflung kann in den Tod führen, wenn sie immer und immer wiederkehrt. Depressives Denken ist geprägt von Ideen tiefster Minderwertigkeit. Das Individuum ist davon überzeugt, dass es keine Existenzberechtigung hat und seine Umwelt vor sich selbst verschonen muss. Es hört Stimmen, die ihm einflüstern, dass es ein Nichts ist und sich deshalb vernichten muss. So schreibt Virginia auch im Abschiedsbrief an ihren Mann: Ich kann dein Leben nicht länger ruinieren.Sie stirbt, um ihn zu retten. Sie gibt ihr Leben für ihn hin.
Oftmals wird Menschen, die Hand an sich legen, vorgeworfen, dass sie egoistisch seien und nur an sich denken. Dem ist aber nicht so. Sie empfinden sich dermaßen intensiv als Störfaktoren, dass sie sich ihrer Umwelt ersparen wollen.




Kenon - 17.06.2005 um 14:20 Uhr

Diese Händchenhalte-Romantik, wie sie hier angesprochen worden ist, führt zu oft zu sehr egoistischen Auswüchsen. Der, welcher seinem heftigen Helfertrieb folgt, hat natürlich nur gutes im Sinn, aber zu leicht denkt er dabei doch bloß an sich - an die Triebbefriedigung, und so kommt es dazu, dass die besten Absichten in der Zerstörung münden, da sie an den eigentlichen Bedürfnissen des Hilfeziels vorbeigehen. Helfen ist nicht pauschal "gut".



Jasmin - 17.06.2005 um 14:27 Uhr

So gesehen denkt jeder nur an sich. Auch der, der nicht hilft, weil er seine Ruhe haben und nicht belaestigt werden will.

Händchenhalte-Romantik - reichlich herzlos und daneben in diesem Kontext.




Kenon - 17.06.2005 um 14:40 Uhr

Auch Hilfe muss kritisch und nicht nur einseitig gutgläubig betrachtet werden. Es ist leider oft der Fall, dass Hilfe die Schaffung von Abhängigkeiten zum Ziel hat, dann nämlich will sie eine Krücke werden, ohne die der, dem geholfen werden soll, nicht mehr durch das Leben gehen kann. Von so einer Abhängigkeit ist es meist nur ein kleiner Schritt bis zum tatsächlichen Missbrauch. Dieser Gefahr sollte man sich bewusst sein.



Jasmin - 17.06.2005 um 14:51 Uhr

Da es hier inzwischen weitgehend um das Thema Suizid und Depression geht, muss einmal klar gesagt werden, dass es nicht die Aufgabe eines [einzelnen] Menschen sein kann, in so einem Fall Hilfe zu leisten. Wenn tatsaechlich reale Suizidgefahr besteht, dann ist der Fall pathologisch und gehoert in die Haende eines Fachmanns.

Ein Freund oder Angehoeriger kann sich aber zumindest darum bemuehen, diese therapeutische Hilfe mit dem Betreffenden zu suchen.

Und manchmal hilft Ablenkung. Dass einfach jemand da ist, mit dem man reden kann. Nicht ueber das Problem, ueber irgendwas.

Schwierig ist es, wenn das soziale Netz solcher Menschen sehr klein ist und nur sehr wenige Bezugspersonen da sind. Oftmals nur eine einzige, die durch die Situation heillos ueberfordert ist.




Kenon - 17.06.2005 um 16:12 Uhr

Nun, vielleicht gelingt es uns, noch einmal zum Ursprungsthema zurückzukehren.

Diese Woche habe ich in einem Buchladen tatsächlich ein Werk von Thomas Kling gefunden. Der Einband bestand aus zitronengelbem Kunststoff und steckte in einem Pappschuber - Dumont Lyrik. Wahrscheinlich muss man Gedichte heutzutage so verpacken, damit sie dem Kunden noch ins Auge fallen. Ich schlug eine Seite auf, da ging es gerade um (Hexen)Flugsalbe. Aha.




Uve Eichler - 17.06.2005 um 16:23 Uhr

Also ist Lyrik nur eine Sache der Aufmachung.
Schön grell wäre dann gute Lyrik.
Leider ist es notwendig in diesem Bereich zu diesen Mitteln zu greifen.




Jasmin - 17.06.2005 um 21:19 Uhr

Zitat:

Wahrscheinlich muss man Gedichte heutzutage so verpacken, damit sie dem Kunden noch ins Auge fallen.

Ja, das ist eine Möglichkeit.

Eine andere - Zirkus im Internet veranstalten, um auf seine Gedichte aufmerksam zu machen...




Jasmin - 19.06.2005 um 14:25 Uhr

Zitat:

Also ist Lyrik nur eine Sache der Aufmachung.

Ein "Zettelpoet" verbreitet seine sozialkritische Lyrik in ganz Wien - und handelt sich damit mächtig Ärger ein. Über 2000 Anzeigen in 30 Jahren konnten ihn aber nicht von seiner Alltagskunst für jedermann abbringen.

Seine Gedichte hängen zu Hunderten in U-Bahn-Stationen, an Bäumen und Baugerüsten. Jedermann soll eins "pflücken" und mitnehmen. Seit 30 Jahren klebt der 52-jährige Helmuth Seethaler seine Lyrik direkt in die Öffentlichkeit - und zieht damit den Ärger der Wiener Behörden auf sich.

"Damit erreiche ich auch diejenigen, die sonst nie lesen."

Der Dichter verwendet Doppelklebeband. Innerhalb weniger Sekunden hat er die Säule in der U-Bahnstation Stephansplatz eingewickelt und beginnt eifrig, seine bedruckten Zettelchen darauf zu kleben. Darunter mindestens zwei bis drei Mal pro Säule die Aufforderung "Pflück dir ein Gedicht". Im Vorbeigehen schauen Leute fragend herüber, einige bleiben stehen und lesen und pflücken Gedichte. "Meine Kunst kann jeder haben", sagt Helmuth Seethaler. "Damit erreiche ich auch diejenigen, die sonst nie lesen."

Nach dem Abitur veröffentlichte Seethaler 1974 erste Gedichte in einem Buch. Doch er wollte die Menschen direkter ansprechen und begann, seine meist sozialkritische Lyrik an die Wände Wiens zu kleben. Das aber brachte Polizei, Wiener Verkehrsbetriebe, Stadtverwaltung und Privatpersonen auf den Plan: Sie haben Seethalers Werke immer wieder abgerissen und ihn angezeigt, unter anderem wegen vorschriftswidrigen Plakatierens, Sachbeschädigung und Verunreinigung. Über 2000 Anzeigen hat er sich so eingehandelt. Abgesehen von etwa zehn Verurteilungen wurde er in allen anderen Fällen jedoch in zweiter Instanz freigesprochen.

[...]

"Der Wiener sucht halt etwas zum Nörgeln. Früher hat das wehgetan, aber heute genieße ich es", sagt Seethaler. Schließlich beschwert er sich als Wiener auch selbst gern. Auf einem Zettel der neben den Gedichten klebt, schreibt er in dicken Lettern: "Ich kann nicht mehr. ZERMÜRBT, FERTIGGEMACHT, GEDEMÜTIGT von Polizei-Kunstexperten." Dabei waren die vergangenen Jahre für ihn sehr ruhig. Seitdem der oberste Gerichtshof Österreichs 1998 seine Zettelgedichte als Kunst anerkannt hat, wird er immer seltener angezeigt.



http://www.stern.de/unterhaltung/buecher/540347.html?nv=nl_hp_rt




Jasmin - 19.06.2005 um 17:18 Uhr

Zitat:

Von so einer Abhängigkeit ist es meist nur ein kleiner Schritt bis zum tatsächlichen Missbrauch. Dieser Gefahr sollte man sich bewusst sein.

Man sollte sich aber auch immer der Gefahr bewusst sein, dass man andere Menschen durch sein Verhalten, durch bewusste unterlassene Hilfeleistung, in den Tod treiben kann.




Kenon - 20.06.2005 um 18:27 Uhr

Zitat:

Man sollte sich aber auch immer der Gefahr bewusst sein, dass man andere Menschen durch sein Verhalten, durch bewusste unterlassene Hilfeleistung, in den Tod treiben kann.

Man muss sich auf seine Erfahrung und Intuition verlassen. Man hilft jemandem, dessen Hilfeschrei nur eine Überfalltaktik ist, vielleicht dennoch einmal, auch zweimal wider besseren Wissens, aber irgendwann nicht mehr. Man ist des Spielchens überdrüssig geworden.

Helfen ist nicht gleich Helfen. Man kann einem Hungernden mit einem Stück Brot oder bei der Durchführung eines Terroranschlages helfen. Ebenso ist - um zum Thema zurückzukehren - Gedicht nicht gleich Gedicht. Eines bemüht sich um Transzendenz, ein anderes suhlt sich im Sumpf menschlicher Schäbigkeit.

Zu diesem Hilfe-Thema ist mir folgendes Geschichtchen eingefallen:

"Ein Panzergrenadier auf Amokfahrt; erst die Menschen plattwalzen und später dann verfluchen, weil sie ihm bei der nächsten Panne nicht mehr hilfsbereit zur Seite springen könnnen/wollen - wie auch immer. Oh, grau-grausame Welt! Wie soll der arme Panzergrenadier die Ketten ganz allein wieder aufziehen, um die Menschen einmal mehr überfahren zu können? Iter et reiter ad infinitum."




Jasmin - 25.06.2005 um 01:36 Uhr

Zitat:

Man hilft jemandem, dessen Hilfeschrei nur eine Überfalltaktik ist, vielleicht dennoch einmal, auch zweimal wider besseres Wissen, aber irgendwann nicht mehr. Man ist des Spielchens überdrüssig geworden.

So ein Pech aber auch, wenn der Betreffende sich beim ersten, zweiten Mal noch nicht umgebracht hat. Vielleicht schafft er es ja im dritten Anlauf? Hat man dann zwei Mal sich umsonst Sorgen gemacht.

Zitat:

Gedicht nicht gleich Gedicht. Eines bemüht sich um Transzendenz, ein anderes suhlt sich im Sumpf menschlicher Schäbigkeit.

Ja, natürlich. So ist es. Man möge sich auf seelengruende.de umschauen, um zu sehen, wie man transzendente Gedichte zu schreiben hat.

Zitat:

Wie soll der arme Panzergrenadier die Ketten ganz allein wieder aufziehen, um die Menschen einmal mehr überfahren zu können? Iter et reiter ad infinitum."

Er schafft es auch so, wenn man ihn nur genügend provoziert. Und dann ist er wieder schuld an allem. Man spuckt ihm ins Gesicht und gibt ihm Schxxxxe zu fressen. Aber er ist schuld an allem. Einzig und allein nur er. Hauptsache man findet einen Sündenbock.




Kenon - 25.06.2005 um 02:18 Uhr

Was macht Lyrik aus?

Zitat:

Der Dichter meidet strahlende Akkorde.
Er stößt durch Tuben, peitscht die Trommel schrill.
Er reißt das Volk auf mit gehackten Sätzen.

Johannes R. Becher in seiner futuristischen Phase. (Aus: "An Europa", 1916)




Kenon - 27.06.2005 um 22:06 Uhr

Fundstück 608.243:

»Die wenigen, die das Gedicht brauchen, haben zu allen Zeiten Mittel und Wege gefunden, sich der Poesie zu versichern. Mehr kann der Dichter nicht erwarten. Warum also klagen?« (Reiner Kunze, zitiert in Gefällter Riese)




Jasmin - 08.07.2005 um 10:14 Uhr

Hier ein Hinweis auf einen interessanten Artikel, leider aus der konservativen Welt, was ihm aber keinen Abbruch tut:

Freiheit fόr Verse

Die Literaturwerkstatt Berlin macht im Internet viele Gedichte zugδnglich

von Wieland Freund

Wenn die Literatur, όberrannt von den apokalyptischen Reitern der neuen Medien, in den Untergrund geht, dann geht die Lyrik zuerst. Einst war sie die Kφnigin, jetzt ist sie das Aschenputtel der Literatur.


Ein tausendmal verkaufter Gedichtband gilt heute als Erfolg, auf der Website lyrikline.org macht man sich keine Illusionen: "Seit langem", heiίt es da, "macht in der Verlagslandschaft die Klage die Runde, daί Lyrik sich nicht mehr verkaufen lasse. Die Drosselung von Editionen und Auflagen scheint konsequent, der Verlust an Rezeptionsmφglichkeiten unausweichlich. Das Segment Lyrik ist auf dem Buchmarkt derart zusammengeschrumpft, daί es nicht einmal mehr die Aufmerksamkeit eingehender statistischer Erhebungen auf sich zieht."

Andererseits kφnnte gelten: Die Poesie geht bloί voran und hat, vor die Wahl "Freiheit oder Kapitalismus" gestellt, als erste literarische Gattung allein die Freiheit gewδhlt. Sie wδre dann schon im Untergrund und suchte nach anderen Distributionsmφglichkeiten, von denen das Internet ihr wohl die nδchste ist.


Quelle:

http://www.welt.de/data/2005/07/08/742581.html






Kenon - 08.07.2005 um 10:51 Uhr

Tja, der Kapitalismus --- [Grinsgesicht]

Ich habe gestern einen Artikel von einer Deutschrussin über die gewandelte Rolle der Literatur in der Sowjetunion/Russland gelesen:

"Jetzt wird die Flut der modernen Literatur in russischen Läden unüberschaubar. Die Qualität lässt nach. Ich habe den Eindruck, man suche Leichtigkeit und Zerstreuung in der Lektüre, wenn es schon im Leben schwer und hektisch zugeht. Eine Schar Schriftsteller liefert Texte, die wie eine Bildzeitung beim Morgenkaffee rutschen oder abends in den ruhigen Schlaf helfen. Ich befürchte, diese Bücher seien wenig langlebiger als eine Zeitung. Das Gelesene werde vergessen wie ein flüchtiger Traum der letzten Nacht. " (Irena Ostmeyer)


***

Der Sinn der Poesie – ist Poesie. Puschkin




Uve Eichler - 08.07.2005 um 19:14 Uhr

Ich hatte vor mehreren Jahren ein Gespräch mit einem Deutschrussen.
Das Gespräch lief eigentlich nur in eine Richtung. Die Literatur in seinem Heimatland war vorgeschrieben. Somit konnte man seine Gedanken im Voraus erahnen.




Kenon - 08.07.2005 um 20:52 Uhr

Zitat:

Die Literatur in seinem Heimatland war vorgeschrieben.

Ja, das war sie. Heute hat man die Freiheit, gar nicht oder Schund zu lesen.




Sabine Marya - 09.07.2005 um 00:48 Uhr

Zitat:

Ja, das war sie. Heute hat man die Freiheit, gar nicht oder Schund zu lesen.

Schauen wir uns doch mal an, was für Bücher auf den TOP - Listen stehen.
Ein Großteil der Bücher, die dort stehen, lösen bei mir höchstens ein Kopfschütteln aus.

Und wenn ich dann hin schaue, was meine Söhne teilweise in der Schule lesen, da sträuben sich mir echt die Haare!
Wir haben "damals" Literatur gelesen, und ich bin da wirklich dankbar für.

Bei meinem Großen in der Klasse wurde, als der 1. Harry Potter erschien, ein halbes Jahr lang in diesem Buch gelesen, in der 8. Klasse.
Und im 2. Halbjahr wurden dann der "Schimmelreiter" (Husum, die Storm- Stadt) und "Wihlem Tell" gelesen.
Und das auf einem Gymnasium.

In der 8. Klasse haben wir Brecht, Borchert, Böll, Lem, "Schöne neue Welt", Goethe, Bachmann, Schiller, Rilke, Steinbeck, Pausewang gelesen, dazu in unserem Lesebuch und mittelhochdeutsche + plattdeutsche Dichter + sind ins Landestheater gegangen, um den "zerbrochenen Krug" zu sehen. Außerdem haben wir uns mit dem Thema Werbung auseinander gesetzt mit Aktionen + Interviews + mit der Bedeutung von Zeitungen, worauf natürlich "die verlorene Ehre der K. Blum" folgte..
Im Deutschunterricht wurde uns eine bunte Palette zur Verfügung gestellt, und dabei ging es darum, eine eigenen Meinung zu bekommen zum Gelesenen und auszuprobieren, welche Bücher einen berühren und wie.




Jasmin - 11.07.2005 um 17:33 Uhr

Zitat:

Der Sinn der Poesie – ist Poesie. Puschkin

So wie der Sinn des Lebens das Leben ist.




Kenon - 11.07.2005 um 19:55 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 19:56:18 am 11.07.2005 editiert

Zitat:

Zitat:

Der Sinn der Poesie – ist Poesie. Puschkin

So wie der Sinn des Lebens das Leben ist.

Es gibt aber auch den Standpunkt, dass dies nicht genügt. Ihn hat z.B. Tolstoi vertreten. Ihm ging es um die Wahrheit / Wahrhaftigkeit.

Dazu: Bis die Seiten Löcher kriegen




Jasmin - 11.07.2005 um 23:49 Uhr

Zitat:

Es gibt aber auch den Standpunkt, dass dies nicht genügt. Ihn hat z.B. Tolstoi vertreten. Ihm ging es um die Wahrheit / Wahrhaftigkeit.

Dazu: Bis die Seiten Löcher kriegen

Ja, auch dieser Standpunkt fühlt sich einleuchtend an. Ich könnte mich für keinen von beiden wirklich entscheiden.

Vielen Dank für den Link. Das Interview ist wundervoll. Ich fand u.a. folgende Stelle interessant. Weil sie den Mut und das Selbstbewusstsein der Übersetzerin zeigt. Und die Bedeutung des Übersetzens für sie:

Sie haben "Schuld und Sühne" neu übersetzt und den Titel in "Verbrechen und Strafe" umbenannt.

Das ist die wörtliche Übersetzung. In allen anderen Sprachen heißt der Roman "Verbrechen und Strafe", nur im Deutschen nicht. Den Titel "Schuld und Sühne" haben wir dem deutschen Protestantismus zu verdanken.

Was heißt Übersetzen für Sie?

Leben.



Ich kannte den Titel aus dem Griechischen auch als "Verbrechen und Strafe".




Kenon - 12.07.2005 um 10:29 Uhr

Ich kannte das Werk bis vor ein paar Jahren auch nur als "Schuld und Sühne". Wenn man protestantisch aufgewachsen ist, klingt das in den Ohren ganz gut und sinnvoll, aber es ist eben nicht wörtlich übersetzt und daher eine Interpretation, kulturelle Vereinnahmung.

Swetlana Geier ist mir durch die Anthologie "Rußland lesen" erstmals begegnet. Sie ist dort für die Übersetzung von "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" verantwortlich.




Jasmin - 12.07.2005 um 10:53 Uhr

Swetlana Geier ist mir schon vor ein paar Monaten begegnet, aber ich kann mich nicht mehr erinnern wo. Ich glaube, sie hat eine Biographie geschrieben, aber ich weiß nicht mehr von wem. Ihre Persönlichkeit, wie sie sich in Interviews offenbart, hat mich tief beeindruckt. Ihre Einstellung zum Übersetzen, die zeigt, das Übersetzen ein sehr kreativer Prozess sein kann.

Im von Dir verlinkten Interview sagt sie:

Meine Lehrerin war nicht sehr klug, aber sie hatte ein System. Sie hat immer gesagt: "Nase hoch beim Übersetzen". Das heißt, man übersetzt nicht von links nach rechts, wie die Sprache läuft, sondern nachdem man sich den Satz angeeignet hat.

Als ich vor mehreren Jahren anfing zu übersetzen, habe ich immer sehr wortgetreu übersetzt. Aus Angst und mangelndem Selbstvertrauen. Langsam kam ich dahinter, dass der neue Text etwas Eigenständiges und Unabhängiges sein muss. Ein neues Wesen. Und dass es viele Stellen gibt, die man nicht übersetzen kann. Für die man sich etwas ganz Neues einfallen lassen muss. Dazu sagt Geier:

Ich ging mit meinen Kindern nachmittags in den Wald. Einmal war dort gerade Holz geschlagen worden und da waren so schöne Baumstümpfe zum Spielen. Ich hatte einen Text dabei und fing an zu übersetzen, weil mich interessierte, was nicht geht. Mich interessiert beim Übersetzen nie, was geht.

Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Das ist das Faszinierende am Übersetzen – Lösungen zu finden für unlösbare Probleme.








Kenon - 12.07.2005 um 11:07 Uhr

Zitat:

Aus Angst und mangelndem Selbstvertrauen.

Ja, diese Zweifel kenne ich – und doch muss man sie überwinden, definitive Entscheidungen treffen.

Manche Sprachkonflikte trägt man dennoch monatelang mit sich herum. Gut ist, wenn man andere Sprachkundige konsultieren kann, die einen beraten oder mit ihnen gleich ein Übersetzerkollektiv bildet.

Vor kurzem habe ich einige Mandelstam-Gedichte in einer Celan-Übersetzung gelesen. Es war für mich erstaunlich, wieviel Celan darin steckte.




Jasmin - 12.07.2005 um 11:23 Uhr

Zitat:

Ja, diese Zweifel kenne ich – und doch muss man sie überwinden, definitive Entscheidungen treffen.

Ja, vor allem, wenn man an Termine gebunden ist. Literarische Übersetzungen habe ich bisher nur an der Uni angefertigt - und die Karyotakis- und Kavafis-Lyrik in den letzten Monaten, die sich auf meinen Netzseiten befindet. Ansonsten waren es immer Sachtexte, aber auch die können sehr quälend und anspruchsvoll sein. Da habe ich manchmal drei Stunden für eine Seite gebraucht.

Zitat:

Manche Sprachkonflikte trägt man dennoch monatelang mit sich herum. Gut ist, wenn man andere Sprachkundige konsultieren kann, die einen beraten oder mit ihnen gleich ein Übersetzerkollektiv bildet.

Eine exzellente Übersetzerseite findet man hier:

http://www.proz.com

Man könnte diese Seite als eine Art nichtkommerzielles Übersetzerkollektiv bezeichnen, aber sie ist noch viel mehr als das. Ich habe dort sehr oft optimale Unterstützung gefunden.

Zufälligerweise bin ich gerade dabei, etwas zu übersetzen. Medizinische Diagnosen...




Kenon - 12.07.2005 um 11:51 Uhr

Zitat:

Zufälligerweise bin ich gerade dabei, etwas zu übersetzen. Medizinische Diagnosen...

Das ist sicher mit wesentlich mehr Verantwortung verbunden als eine literarische Übersetzung und erfordert vielleicht auch medizinische Fachkenntnisse?

Ich übersetze nur gelegentlich mal ein Gedicht und sehe das vor allem als eine gute Sprachübung.




Jasmin - 12.07.2005 um 12:01 Uhr

Zitat:

Das ist sicher mit wesentlich mehr Verantwortung verbunden als eine literarische Übersetzung und erfordert vielleicht auch medizinische Fachkenntnisse?

Ja, so eine Übersetzung ist mit sehr viel Verantwortung verbunden, ich mache sie auch nur ungern, aber sie ist für meinen Vater, bzw. seinen Arzt in Deutschland. Wir haben eben telefoniert und ich habe meinem Vater gesagt, dass es mir lieber wäre, wenn das ein Mediziner machen würde, aber mein Vater meinte, es solle ja keine Doktorarbeit werden und ich könne mich ja mit den griechischen Ärzten in Verbindung setzen und nachfragen. Außerdem hat der deutsche Arzt eh die CT-Bilder. Nun ja. Ich mache das sehr ungern, aber es muss wohl sein.

Früher wollte ich mal Medizin studieren, das hat mich sehr interessiert. Ich lese oft medizinische Artikel und die meisten Termini sind Griechisch oder Lateinisch. Ein Wörterbuch habe ich auch von meiner Mutter zur Verfügung bekommen: "Wortelemente lateinisch-griechischer Fachausdrücke in den biologischen Wissenschaften", von Fritz Cl. Werner.

Aber viel lieber würde ich jetzt ein Gedicht übersetzen...




hibou - 17.05.2006 um 16:54 Uhr

tu das jasmin

hörst du mich???




hibou - 17.05.2006 um 16:57 Uhr

vielleicht klingts jetzt



Kenon - 09.12.2006 um 15:16 Uhr

Gut Gedicht wie Regenbogen ist auf dunklen Grund gezogen. - Goethe



Der_Geist - 13.07.2007 um 00:41 Uhr

Zitat:

...
ich glaube dieses Gedicht ist nicht
zu gebrauchen
ich glaube dieses Gedicht ist wirklich
für mich

aus dem Gedicht von Nicolas Born - Für mich




Der_Geist - 13.07.2007 um 01:12 Uhr

Eine weitere, interessante Meinung...
Zitat:

Dieser höllische Mist der Poesie
schafft eine gute Art zu leiden;
die Menschen lieben sie.
Menschen: dumm wie Pferd und Kuh.

Von der Waschschüssel der Geburt
bis zur Waschschüssel des Bestatters:
nur Geschwafel.

Vögelei, Schmeichelei, Erfolg, Geld -
alles, was ich tue, ist: am Daumen nuckeln.
...

aus: Ikkyu Sojun - Gedichte von der verrückten Wolke




Der_Geist - 15.07.2007 um 00:05 Uhr

http://www.youtube.com/watch?v=r1e5Jeh2Fk0

Noch eine Meinung dazu, also zum Thema.

Achtung! Wer Bukowski und sein "besonderes" (teilweise unter der Gürtellinie-)Vokabular nicht mag, sollte das Video vielleicht NICHT aufrufen.

außerdem: in english.




LX.C - 15.07.2007 um 03:34 Uhr

Mit der neusten VÖ wurde es wieder angesprochen. Bukowski ist nirgends einzuordnen, und das ist sein großer Verdienst.



URL: https://www.versalia.de/forum/beitrag.php?board=v_forum&thread=1164
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