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-- Literaturgeschichte & -theorie
--- Johannes Robert Becher

Kenon - 26.02.2005 um 17:39 Uhr

Johannes Robert Becher, geboren am 22. Mai 1891 in München, studiert von 1911 bis 1918 Philologie, Philosophie und Medizin in München, Berlin und Jena. 1911 macht er seine ersten literarischen Veröffentlichungen, von 1913 bis 1915 arbeitet er an der expressionistischen Zeitschrift "Verfall und Triumph" mit. Er bricht sein Studium ab und ist als freier Schriftsteller überwiegend in Berlin tätig. Von der Teilnahme am Ersten Weltkrieg bleibt er aufgrund einer Schussverletzung von 1910, die er sich bei einem Selbstmordversuch zugefügt hat, verschont. Als Morphiumabhängiger hält er sich zwischen 1914 und 1918 immer wieder in psychiatrischen Kliniken auf. 1917 tritt er in die USPD ein, 1919 in die KPD und bricht gleichzeitig für immer mit seinem Elternhaus. Von 1920-22 ruht seine KPD-Mitgliedschaft, da plötzlich die Religion für ihn in den Vordergrund tritt, 1923 ist er jedoch wieder in der KPD tätig. 1925 wird sein Buch "Levisite oder Der einzig gerechte Krieg" veröffentlicht, weswegen er in der Zeit von 1925-28 des "literarischen Hochverrats" angeklagt ist. Das Verfahren wird nach nationalen als auch internationalen Protesten eingestellt. 1932 tätigt Becher mehrere Besuche in der Sowjetunion und ist Reichtstagskandidat der KPD. 1933 emigriert er zuerst nach Prag, dann Paris und schließlich Moskau. 1935 werden ihm dort trotzkistische Neigungen unterstellt, 1936 wird er als politisch nicht zuverlässig eingestuft und darf die UdSSR nicht mehr verlassen. Er wird 1941 nach Taschkent evakuiert, unternimmt dort mehrere Suizidversuche und veröffentlicht "Die Winterschlacht". 1945 kehrt er nach Deutschland zurück und ist ab 1946 Mitglied des Parteivorstandes und Zentralkomitees der SED. Becher ist der Textautor der DDR-Nationalhymne (1949) und von 1954-58 erster Minister für Kultur. 1956 tritt er für politische Reformen ein und verliert ein Jahr später jeglichen politischen Einfluss. Becher stirbt am 11.Oktober 1958.

Werke
Verfall und Triumph, 1914
Verbrüderung, 1916
An Europa, 1916
Die heilige Schar, 1918
Gedichte um Lotte, 1919
Gedichte für ein Volk, 1919
An Alle!, 1919
Ewig in Aufruhr, 1920
Um Gott, 1921
Arbeiter Bauern Soldaten / der Aufbruch eines Volkes zu Gott, 1921
Drei Hymnen, 1923
Am Grabe Lenins, 1924
Vorwärts, du Rote Front, 1924
Levisite oder der einzig gerechte Krieg, 1925
Maschinenrythmen, 1926
Die hungrige Stadt 1927/28
Der große Plan. Epos des sozialistischen Aufbaus, 1931
Deutscher Toitentanz 1933, 1933
Deutschland, ein Lied vom Köpferollen und von den Nützlichen Gliedern, 1934
Gewißheit des Siegs und Sicht auf große Tage. Gesammelte Sonette 1935/1938, 1939
Wiedergeburt, 1940
Abschied, 1940
Deutschland ruft, 1942
Schlacht um Moskau, 1942
Dank an Stalingrad, 1943
Heimkehr, 1947
Neue deutsche Volkslieder, 1950
Auf andere Art so große Hoffnung (Tagebuch), 1950
Schöne deutsche Heimat, 1952
Poetische Konfession (I), 1953
Macht der Poesie, 1955
Schritt der Jahrhundertmitte, 1958




LX.C - 27.02.2005 um 02:06 Uhr

Skurril fand ich auch, daß er, glaube es war in der Morphiumzeit zwischen 1914 und 1918, mit seiner Freundin einen gemeinschaftlichen Selbstmordversuch durchführte. Seine Freundin starb und er überlebte. Danach kam er übrigens in die Klapse (Dann wars vielleicht doch 1914). Da dacht ich so, es war damals nicht anders als heute. Die verrücktesten sitzen irgendwann in der Politik.

Na ja. Und man darf nicht vergessen, daß er zwischen 1933 und 1935 nicht dumm in Moskau rum saß, sondern sich sehr stark antifaschistisch engagierte.




Kenon - 27.02.2005 um 02:56 Uhr

Der Doppelselbstmordversuch, der nur für Bechers damalige Freundin tödlich ausging, datiert auf den April 1910. Ein nächster Versuch folgte 1918 - auf den Selbstmord seines jüngeren, an epileptischen Anfällen leidenden Bruders. Dieses Mal setzte er auf das Aufschneiden der Pulsadern und Überdosen, nicht mehr die Pistole.

Ich lese gerade Bechers mehr oder weniger autobiographischen Roman "Abschied", der mich dazu veranlasste, ein wenig nach seiner Biographie zu schauen und einen Bruchteil davon hier zusammenzutragen. Vielleicht kaufe ich mir auch noch die Biographie aus seinem Aufbau-Verlag, da er doch ein höchst interessantes Leben geführt zu haben scheint. Sie soll aber den Roman "Abschied" als zu autobiographisch auffassen.

Politisch lag Becher wie viele seiner Zeitgenossen, so ja auch Pablo Neruda, oft ein wenig neben der Spur, wenn man allein nur an die Stalinoden der beiden denkt. Natürlich lag er aber auch oft richtig, so mit seinem Kampf gegen den Faschismus oder der von ihm 1952 durchaus nicht vollkommen selbstlos angeführten Demonstration zur Streichung des §175.

Wer sie virtuell besuchen mag:
Die Grabstätte von Johannes R. Becher




LX.C - 27.02.2005 um 23:08 Uhr

Denke, im Kommunismus hat Becher endlich einen Lebenssinn gefunden, der seine Persönlichkeit festigte. Vielleicht war er deswegen so neben der Spur, obwohl ich ehrlich gesagt nich ganz verstehe, was Du meinst damit. Er galt ja noch nicht mal als orthodox. Zumindest noch nicht auf dem I. Allunionskongreß in Moskau 1934, wo er zwischen den ideologisch orthodoxen deutschen Schriftstellern und den ideologisch unzuverlässigen vermittelte.

Interessant ist auch die beziehung zwischen Brecht und Becher. Die konnten sich ja auch nicht riechen *g*

Wo steht das Grab?
Und was beinhaltete der §175?




Kenon - 28.02.2005 um 00:58 Uhr

Zitat:

Denke, im Kommunismus hat Becher endlich einen Lebenssinn gefunden, der seine Persönlichkeit festigte.

Ich finde Ideologien genauso zweifelhaft wie Religionen. Ihre Angehörigen handeln zu oft wider besseren Wissens, um ihrem Glauben gerecht werden zu können. Da fängt viel Unheil an.

Allerdings darf man einen Menschen wie Becher auch nicht aus seiner Zeit reissen, um ihn zu beurteilen. Damals war man eben, überspitzt gesagt, entweder Nazi oder Kommunist. Der Nachwelt erschwert das natürlich den Zugang zu diesen Schriftstellern, obwohl sie uns auch heute noch, wenn man die ideologischen Färbungen aus ihren Werken subtrahiert, viel zu sagen haben.

Zitat:

Interessant ist auch die beziehung zwischen Brecht und Becher. Die konnten sich ja auch nicht riechen

Mit Brecht habe ich mich noch gar nicht befasst, weil er mir irgendwie unsympathisch ist. Dieses Vorurteil lässt sich vielleicht beizeiten revidieren. Generell glaube ich, dass es selten (länger dauernde) Freundschaften zwischen Künstlern, die auf dem selben Gebiet tätig sind, geben kann. Zu oft ständen sie der totalen Hingabe zur eigenen Sache im Wege - und Kunst kennt eben keine Kompromisse.

Zitat:

Wo steht das Grab?

Das Grab steht in der Chausseestraße 126 in 10115 Berlin auf dem Friedhof der Dorotheenstädtischen und Friedrich-Werderschen Gemeinde.

Zitat:

Und was beinhaltete der §175?
§175 - widernatürliche Unzucht




LX.C - 28.02.2005 um 14:40 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 14:42:15 am 28.02.2005 editiert

Dorotheenstädtischen, ach so jaaa. Da müssen viele Künstler und Berühmtheiten liegen. Habe ein altes Buch mit dem Titel: Dorotheenstädtische Monologe Gedichte, von Jens Gerlach (Aufbau-Verlag), lauter Gedichte von Menschen die dort ihre letzte Ruhe gefunden haben.

"...überspitzt gesagt, entweder Nazi oder Kommunist"

Nun ja, so kann man das aber auch nicht sagen. Klaus Mann, der ja auch großartiges damals geleistet hat, war z.B. weder Kommunist noch Nazi. Aber ich verstehe schon wie Du das meinst.
Besonders für die östlichen Exilländer, insbesondere Rußland war das wohl zutreffend.

"Ich finde Ideologien genauso zweifelhaft wie Religionen"

Mit meiner Aussage wollte ich persönlich keine Wertung abgeben.
Es war nur eine Feststellung, daß der labile Becher durch die Verfolgung dieser Ideologie wohl zu Stabilität gefunden hat. So zweifelhaft ein gewisser Fanatismus sein mag, ihm persönlich scheint es geholfen zu haben.
Wir sehen ja auch an Klaus Mann, während des Widerstandes war er relativ stabil
durch diese für ihn wichtige Aufgabe. Als alles vorbei war, fiel er sozusagen wieder in ein Loch, was letztlich (natürlich neben vielen anderen Faktoren) zum endgültigen Selbstmord führte.




Kenon - 28.02.2005 um 17:15 Uhr

Zitat:

Wir sehen ja auch an Klaus Mann, während des Widerstandes war er relativ stabil durch diese für ihn wichtige Aufgabe. Als alles vorbei war, fiel er sozusagen wieder in ein Loch, was letztlich (natürlich neben vielen anderen Faktoren) zum endgültigen Selbstmord führte.

Ja, der Mensch braucht seine Aufgaben - um in ihnen aufgehen und sich selbst vergessen zu können.

Traurig ist übrigens, dass von Becher nur noch die Biographie und "Abschied" im Druck zu sein scheinen, aber mit etwas Glück wird man ja in Antiquariaten usw. fündig.




Kenon - 03.03.2005 um 10:19 Uhr

Zusätzliche Anmerkung

1956, kurz vor seinem Tod, schrieb Becher:

"Der Grundirrtum meines Lebens bestand in der Annahme, daß der Sozialismus die menschlichen Tragödien beende (...) In diesem Grundirrtum zeigt sich einerseits eine gleichsam kleinbürgerliche, spießerhafte, idyllische Auffassung des Sozialismus und andererseits das nur allzu beflissene Bestreben, das sozialistische Experiment, wie es sich in seiner aktuellen Wirklichkeit darbietet, mit einer Apologetik zu umgeben. Das Gegenteil aber, wie sich gezeigt hat, ist der Fall (...) Der Sozialismus hat erst die menschliche Tragik in Freiheit gesetzt."




Kenon - 21.06.2005 um 11:44 Uhr

Zitat:

Er war siebzehn, als ich ihn kennenlernte.
Kurz zuvor war er, infolge der strengen Zucht seines Vaters, von zu Hause durchgebrannt und wohnte in München in einem Zimmer, in dem nur ein Stuhl, ein Tisch und darauf eine gepumpte Schreibmaschine standen.
Auf was er schlief, blieb ungeklärt.
Sooft ich ihn damals besuchte, hämmerte er, glühenden Gesichts, ein Gedicht in die alte Schreibmaschine. Viele Wochen lang immer dasselbe Gedicht, bis er endlich mit der Fassung zufrieden war. Er war von Jugend an ein gewissenhafter Schwerarbeiter.

Leonhard Frank über JRB




Kenon - 03.11.2005 um 13:54 Uhr

Ich lese gerade Bechers Gedichtsammlung "An Europa" von 1916. Zu dieser Zeit ist der Dichter jung, wagt etwas sehr eigenständiges, ist genial. In der Sammlung findet sich auch das Gedicht "Adonis", das hier fragmentarisch zitiert sei:

Zitat:

Stößt er schräg die Luft ein weißer Glänzer,
Dessen Stimme deucht uns Gloria. . .
Reißen Arme, springen Tor und Fenster:
Trug das Schiff ihn her aus Ithaka!
Schwanensegel blasen Griechenwinde.
Atmet er, es rührt den Siechen linde.
Lenkt ihn ab, dem Sternen Vieleck nah.

Mädchen blaue von den Sphinxen reitend
- Traubenfülle preßt die rundere Brust -
Lieder-Rufe ihm entgegenbreiten,
Der - ein Plätschern tackt - durcheilt den Fluß.
Trabt herauf, es brüllt, im schwarzen Stiere,
Stampft der Gärten Zaun, durch Fruchtspaliere.
Stäubend platzt aus triefendem Maul der Kuß.

[...]

Die Gewässer nähren doch dess Bildnis,
Orgeln schwellen heiße Melodie.
Nieder vom Azur sein Blick der milde
Strahl voll Lenz. . . Dem Toten wirbeln sie!
Stellen vor sich Scheusalmänner Spiegel,
Fäuste krallend beizende Häute striegeln.
Aufgepeitscht, zerhackt - : "Adoni! !"




Jasmin - 03.11.2005 um 15:25 Uhr

Zitat:

Ich lese gerade Bechers Gedichtsammlung "An Europa" von 1916. Zu dieser Zeit ist der Dichter jung, wagt etwas sehr eigenständiges, ist genial.


Sehr sprachgewaltig. - Du schreibst, Becher wage hier etwas sehr eigenständiges und ich habe mich beim Lesen gefragt, welche Dichter Becher wohl beeinflusst haben mögen in seinem Schaffen. Weißt Du etwas darüber?




Kenon - 03.11.2005 um 15:54 Uhr

Diese Nachricht wurde von Arne um 15:56:12 am 03.11.2005 editiert

Der erste Dichter, mit dem Becher in Berührung kam, war Richard Dehmel, dem er auch einmal seine Gedichte sandte. Bei einem Treffen riet Dehmel Becher (vermutlich, weil seine Eltern die Brief-Korrespondenz überwachten und Kontakt zu Dehmel aufnahmen) davon ab, seine literarischen Ambitionen weiter zu verfolgen. Elemente von Dehmels Dichtung habe ich bei Becher bisher nicht wiederfinden können, der Herr hatte auch, wie ich meine, einen sehr reservierten Stil, wohingegen sich Becher ja gerade in seinen frühen Gedichten oft als manisch-stürmender Lyriker produziert hat. Ein anderer Einfluss - der Zündfunke einer ganzen Dichtergeneration - war Jakob van Hoddis, insbesondere das Gedicht "Weltende", dem Becher später in einem eigenen Gedicht huldigt. Immer wieder Erwähnung findet auch Pindar.




Kenon - 05.02.2006 um 18:03 Uhr

Der späte Becher, längst jenseits formalistischer Inhaltsleere:

Zitat:

Turm zu Babel

Das ist der Turm von Babel,
Er spricht in allen Zungen.
Und Kain erschlägt den Abel
Und wird als Gott besungen.

[...]

Gerüchte aber schwirren,
Die Wahrheit wird verschwiegen.
Die Herzen sich verwirren –
So hoch sind wir gestiegen!

Das Wort wird zur Vokabel,
Um sinnlos zu verhallen.
Es wird der Turm zu Babel
Im Sturz zu nichts zerfallen.




Kenon - 22.05.2006 um 00:25 Uhr

Heute ist der 115. Geburtstag von Johannes R. Becher. Der NDR bringt eine kurze Radio-Sendung zum Thema:

Geburtstag des Schriftstellers u. DDR-Kultusministers Johannes R. Becher

Sendezeit: heute von 20.15 bis 20.30 Uhr.




Namesi - 22.05.2006 um 13:48 Uhr

Nur ein Splitter zu Becher:

Am vergangenen Sonntag stellte Manfred Flügge in der Inforadio-RBB-Sendung "Quergelesen" seine Biografie von Heinrich Mann vor und bezeichnete dort Becher als "Führungsoffizier" Heinrich Manns in dessen "kommunistischer Lebensphase". Leider war ich durch mein Frühstücksei abgelenkt, so dass ich mich an nichts Genaueres mehr erinnern kann.




Kenon - 22.05.2006 um 18:22 Uhr

Zitat:

und bezeichnete dort Becher als "Führungsoffizier" Heinrich Manns in dessen "kommunistischer Lebensphase"

Das riecht ein wenig nach Polemik. Fakt ist, dass Becher gegen Mitte der 30er Jahre antifaschistische Kulturkräfte bündeln wollte und selbstverständlich auch Bürgerliche in das Vorhaben mit einbezog, um eine möglichst breite Front gegen den Hitlerismus zu schaffen.

Selbst Thomas Mann hat sich lobend über den Becher dieser Zeit geäußert:

Zitat:

Ich halte es [d.i. "Der Glückssucher"] für ein großes Buch - wahrscheinlich ist es das repräsentative Gedichtbuch unserer Zeit und unseres schweren Erlebens.

Heinrich Mann zum selben Buch:

Zitat:

Ihre Gedichte verdienen höchste Achtung und Bewunderung. Sie machen reine Poesie aus den realen Tatsachen der Zeit.

Wer Becher auf seine Rolle als DDR-Kultusminister und KPD-Mitglied reduziert, tut ihm ein großes Unrecht an. In erster Linie, so schrieb er es in seinem Testament, sei er ein deutscher DICHTER gewesen, und er schrieb darin ebenfalls, dass er gern sein Vermögen, sollte seine Frau nichts dagegen einzuwenden haben, für die Unterstützung echter Dichter, nicht reimender Agitatoren stiften möchte...




LX.C - 22.05.2006 um 22:15 Uhr

"Wir werden es Heinrich Mann nicht ersparen: wir werden "Nein" sagen, zu manchen von seinen Ideen und Verkündungen. Aber wir achten und ehren den tapferen antifaschistischen Kämpfer", so Johannes R. Becher in seiner Rede am 26.08.1934 auf dem I. Allunionskongress in Moskau, in der es darum ging, Überzeugungsarbeit zu leisten, auch nicht kommunistische antifaschistische Kräfte für eine starke und wirkungsvolle Einheitsfront bündeln zu müssen. Es lässt sich aber auch nicht verschweigen, dass er stets davon ausging, dass diese sich in letzter Konsequenz für den Kommunismus entscheiden müssten, denn für Becher bedeutete ein freies Deutschland, ein kommunistisches Deutschland. Klaus Mann war übrigens anwesend. Heinrich sagte, wenn ich mich recht erinnere, ab.

Quelle des Zitates: Schmitt, Hans-Jürgen / Schramm, Godehard: Sozialistische Realismuskonzeption, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1974, S. 254.




Kenon - 22.05.2006 um 22:29 Uhr

Diese Nachricht wurde von Kenon um 22:31:06 am 22.05.2006 editiert

Zitat:

Wir werden es Heinrich Mann nicht ersparen: wir werden "Nein" sagen, zu manchen von seinen Ideen und Verkündungen.

Ich glaube, damit hat er unter anderem den Roman "Der Untertan" gemeint. Ich müsste aber länger nachlesen, um das belegen zu können.

Zitat:

Es lässt sich aber auch nicht verschweigen, dass er stets davon ausging, dass diese sich in letzter Konsequenz für den Kommunismus entscheiden müssten

Ahja, das ist das alte Problem: Kein Religiöser, Politischer, Süchtiger, der für sein Laster nicht missioniert, der nicht die ganze Welt damit infizieren möchte.




LX.C - 22.05.2006 um 22:41 Uhr

Ich sehe darin kein Problem, aus der Distanz heraus, ich sehe nur diesen Fakt. Das war immerhin eine bessere Auffassung, als alle nicht kommunistischen (insbesondere die nicht proletarisch-revolutionären) Schriftsteller mit den Faschisten in einen Topf zu werfen, so wie es die sogenannten Orthodoxen (also jene Schriftsteller, die das marxistisch-leninistisch-stalinistische Dogma in strengster Form vertraten) zu diesem Zeitpunkt am liebsten getan hätten.



Kenon - 22.05.2006 um 22:52 Uhr

Zitat:

Das war immerhin eine bessere Auffassung, als alle nicht kommunistischen (insbesondere die nicht proletarisch-revolutionären) Schriftsteller mit den Faschisten in einen Topf zu werfen, so wie es die sogenannten Orthodoxen (also jene Schriftsteller, die das marxistisch-leninistisch-stalinistische Dogma in strengster Form vertraten) zu diesem Zeitpunkt am liebsten getan hätten.

Eine strategische Allianz.

Mit dem Untertan habe ich mich vertan, Becher hatte Heinrich Mann als
Zitat:

Untertan verhöhnt, weil dieser Hindenburg für den Damm hielt, der Hitlers Reichspräsidentschaft aufhalten könne.

Quelle: Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher. Berlin 1998, S.381.

Aber das ist sicherlich eh wurscht.

Bechers Grabinschrift lautet übrigens - man sie kann ob der Verwitterung ja nicht mehr lesen -

Vollendung träumend hab ich
mich vollendet,
Wenn auch mein Werk nicht
als vollendet endet.
Denn das war meines Werkes
heilige Sendung:
Dienst an der Menschheit
künftiger Vollendung.


Aber das ist sicherlich eh wurscht. (Refrain)




LX.C - 23.05.2006 um 00:49 Uhr

[Quote]Mit dem Untertan habe ich mich vertan[/Quote]
Ja, ich glaube viel mehr, damit war Heinrich Manns Verhältnis zur französischen Republik gemeint.




LX.C - 27.11.2006 um 13:49 Uhr

Zur Nachkriegsdichtung Bechers:

[Quote]Bewusst suchte Becher Zugang zu der nach 1945 doch grundsätzlich veränderten Situation in bezug auf eine konkrete, massenwirksame Funktion seiner Lyrik. Doch die allzu eng, bisweilen undistanzierte Zwiesprache mit dem unentwickelten Bewusstsein vieler Leser, die sich aus dieser poetischen Konzeption ergab, sowie die eigene Unsicherheit gegenüber den widersprüchlichen Erfahrungen der Nachkriegszeit führte auch zu Verschwommenheit und Unverbindlichkeit in der Problemstellung und im Bildaufbau mancher Gedichte. Die Neigung zu Bildern und Begriffen, die an humanistische Traditionen gebunden waren, inhaltlich aber oft zu allgemein blieben, sowie das Streben nach kunstvoller Stilisierung (mit der Becher auch formal das "Chaos" bändigen und zur "Harmonie" zwingen wollte) ließen wenig Spielraum für die Aufnahme der nüchternen Realität, für eine eindeutige poetische Benennung der realen gesellschaftlichen Widersprüche.

Quelle: Haase, Geerdts, Kühne, Pallus: Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Volk und Wissen, Berlin 1976, S. 88. [/Quote]

Dabei kann ich noch ergänzen, dass neben "Die Heimkehr", Dichtungen aus dem Jahre 1946, im Jahr 1946 auch die Sammlung "Die Hohe Warte" erschien, die insbesondere Werke aus dem Exil beinhaltet.




Kenon - 06.12.2006 um 12:14 Uhr

Gerade in der Sammlung "Die hohe Warte" wird deutlich, dass Becher zu enormen qualitativen Schwankungen in seinem Werk - fähig war. Aus künstlerischer Sicht halte ich insbesondere die Hass-Tiraden auf das NS-Regime, so "richtig" sie inhaltlich auch sein mögen, für äußerst misslungen. Gedichte können die Wirklichkeit eben nicht ändern.

Dagegen dann Zeilen wie diese:

Zitat:

Von freien Rhythmen wunderbar getragen
- die Reime standen da, wie angereiht,
Und klangen auf, um sanft ihm nachzuklagen -
So schwand er hin in die Unendlichkeit.




LX.C - 18.12.2006 um 16:54 Uhr

Das Motiv des Expressionismus war, dass die geistige und die gesellschaftliche Welt nicht so bleiben sollte, wie sie war. Ist Bechers Entwicklung da nicht nur logische Konsequenz, quasi eine Folgerscheinung des Expressionismus, der politisch/gesellschaftlich zu nichts eigenes hätte führen können?



Kenon - 19.12.2006 um 12:33 Uhr

Zitat:

Das Motiv des Expressionismus war, dass die geistige und die gesellschaftliche Welt nicht so bleiben sollte, wie sie war.

Der Expressionismus in der Literatur ist der historisch gewordene Ausdruck einer geistig kranken Zivilisation, die ihren Zusammenbruch im Ersten Weltkrieg erfuhr. Es mag einem nicht als Zufall erscheinen, dass gerade der gefeierte "Begründer" der expressionistischen Lyrik - Jakob van Hoddis - an Schizophrenie[?] litt. "Heilung" von den Krankheiten dieser Welt suchten die lyrischen Expressionisten in der Ablehnung des bürgerlichen Lebens, im Pathos, in der Überreizung und im "Neuerfinden" der Sprache, dem Herbeirufen eines "Weltendes", der intensiven Pflege von Todessehnsüchten usw. usf. Wer von diesen expressionistischen Lyrikern nicht im Weltkrieg fiel, wahnsinnig wurde, sich zu Tode berauschte oder seinem Leben auf andere Art ein schnelles Ende setzte, wer seine Dichterexistenz fortführte und am Willen, die Welt zu verändern, festhielt, konnte wie Becher beim Kommunismus landen - oder wie Benn im Nationalsozialismus.

Jede Art von Ablehnung neigt dazu, irgendwann doch positiv zu werden (man denke z.B. an den gänzlich humorlosen Vernunftssüchtler Luther).
Gerade bei Becher finden wir immer wieder den tiefen Wunsch, bei allem Nein auch "Ja!" sagen zu können: Ja! zu Lenin, Ja! zur Sowjetunion, Ja! zum Frieden, Ja! zur kommunistischen Neugestaltung des östlichen Deutschlands usw. Es geht mir hier nicht darum, dieses Ja-Sagen zu werten, um welchen Preis es erkauft worden ist, wieviel Blindheit dafür nötig war etc. Die Frage ist, ob Becher jenseits politisch-ideologischer Betrachtungen als eine bleibende Größe in der deutschen Literatur anerkannt werden kann. Ich habe meine Antwort auf diese Frage nach der Lektüre eines beträchtlichen Teils von Bechers Œuvre gefunden.




LX.C - 20.12.2006 um 10:11 Uhr

[Quote]wer seine Dichterexistenz fortführte und am Willen, die Welt zu verändern, festhielt, konnte wie Becher beim Kommunismus landen - oder wie Benn im Nationalsozialismus.[/Quote]

Ja, genau dieser Gedanke drängte sich mir eben auf, als ich mich an jenem Tag wieder mit dem Expressionismus beschäftigte. Ein Weiterleben und wieder Zergehen in bestehenden Strukturen scheint nach dem Expressionismus irgendwie nicht denkbar.


[Quote]Die Frage ist, ob Becher jenseits politisch-ideologischer Betrachtungen als eine bleibende Größe in der deutschen Literatur anerkannt werden kann.[/Quote]

Ich finde es immer bedauerlich, wenn Becher nach dem heutigem historischen Erkenntnisstand abgeurteilt wird. Ein Erkenntnisstand, den Becher damals noch gar nicht haben konnte. Natürlich kann man, und vielleicht muss man es sogar, ihm vorwerfen, einer der kritiklosesten, angepasstesten gewesen zu sein. Aber er stand eben, in einer Zeit, in der die Bekämpfung des Faschismus Priorität hatte und die Verwirklichung seiner politischen Ideale zum greifen nah schienen, an der Spitze der proletarisch-revolutionären Schriftstellerbewegung und hat unter allen widrigen Umständen versucht, diese so stark wie möglich zu machen. Aus meiner Sicht, die sich fast ausschließlich aus der Beschäftigung mit der politisch-historischen Figur Becher erschließt, ist Becher immer in erster Linie als Schriftsteller zu benennen, politisch engagiert, aber Schriftsteller.

Soweit noch also ein paar Worte von mir, ohne dein wirklich gutes Plädoyer damit verschandeln zu wollen.




LX.C - 21.12.2006 um 11:05 Uhr

[Quote]Die politische Aufgabe des Schriftstellers ist nicht, Macht auszuüben, sondern der Macht den Geist entgegenzustellen, dem Volk zu zeigen, was Wahrheit und Gerechtigkeit ist, und ihm so das für die politische Mündigkeit erforderliche Selbstvertrauen zu geben. (Mann, Heinrich: Geist und Tat (Essay), 1910.) [/Quote]

Kann man sich überlegen, ob Becher danach gehandelt hat. Meiner Meinung nach ja, sein politisches Wirken konzentrierte sich ja im Zweiten WK vor allem auf die Einheits- und Volksfront, und das direkt oder indirekt stets im Rahmen der Literatur. An einen Ministerposten hatte er zu dem Zeitpunkt sicher nicht gedacht, der ja eh nur eine kleiner Ausflug war, von dem zudem die wenigsten noch wissen.

In "Vom Naturalismus zum Expressionismus, Literatur des Kaiserreichs" sind im Bezug auf den Expressionismus seine Werke : An Europa (1916), Verbrüderung (1916), Päan gegen die Zeit (1918) als Empfehlung angegeben. Falls sich jemand mal ein Bild machen möchte.




LX.C - 31.12.2006 um 01:18 Uhr

Auch noch mal der junge Becher, aus dem Gedicht Verfall (vor 1920):
[Quote]
[...]

Der ich mich dir, weite Welt,
Hingab, leicht vertrauend,
Sieh, der arme Leib verfällt,
Doch mein Geist die Heimat schaut.
Nacht, dein Schlummer tröstet mich,
Mund ruht tief und Arm.
Heller Tag, du lösest mich
Auf in Unruh ganz und Harm.

Dass ich keinen Ausweg finde,
Ach, so weh zerteilt!
Blende bald, bald blind und Binde.
Dass kein Kuss mich heilt!
Dass ich keinen Ausweg finde,
Trag wohl ich nur Schuld:
Wildstrom, Blut und Feuerwind
Schande, Ungeduld.

[...]
[/Quote]




Kenon - 03.01.2007 um 09:51 Uhr

Becher war sich - zumindest in seinen späten Jahren - durchaus bewusst, was sein politisches Engagement für seine Poesie bedeutet hat:

Zitat:

Als Dichter muss ich erst noch entdeckt werden, was das Politische bis jetzt verhindert. Meine eigentliche poetische Seele - wer kümmert sich darum. Lukács hätte das Zeug dazu, aber jetzt liest er darüber hinweg und stellt mich nur "im Zusammenhang" dar. Ja, alle machen dort halt, wo bei mir die eigentliche Poesie beginnt, und doch ist nur von dorther alles andere erklärlich und deutbar.

Johannes R. Becher: Auf andere Art so große Hoffnung. Tagebuch 1950. Eintragungen 1951. Berlin und Weimar 1969. S. 480.




michael1639 - 28.05.2008 um 22:11 Uhr

Zitat:

Zitat:

Ich lese gerade Bechers Gedichtsammlung "An Europa" von 1916. Zu dieser Zeit ist der Dichter jung, wagt etwas sehr eigenständiges, ist genial.


Sehr sprachgewaltig. - Du schreibst, Becher wage hier etwas sehr eigenständiges und ich habe mich beim Lesen gefragt, welche Dichter Becher wohl beeinflusst haben mögen in seinem Schaffen. Weißt Du etwas darüber?

Ein Dichter, den der junge Becher sehr verehrte, war Heinrich von Kleist. Bechers literarisches Debut 1911, zu Kleists 100. Todesjahr, war eine ´Kleist-Hymne´, deren Titel mir gerade entfallen ist, und auch Bechers Selbstmordversuch mit seiner Geliebten 1910 folgte offensichtlich dem Vorbild von Kleists Selbstmord mit Henriette Vogel. Das Prosagedicht ´Die Schlacht´ von 1916 enthält außerdem eine Eloge auf Walt Whitman.




Kenon - 29.10.2022 um 11:09 Uhr

Das schöne an lyrischen Werken ist, wenn sie gut gemacht wurden, dass man sie häufiger lesen kann, und so habe ich nach bald 15 Jahren die alten Bücher aus dem Regal geholt und ein weiteres Mal in ihnen gelesen; besonders das Frühwerk von Johannes Robert Becher ergreift mich noch immer und ich habe meine aktuellen Gedanken dazu in einem neuen Text festgehalten, der hier aufgerufen werden kann:

Er schmettert seine rauschenden Fanfaren (anti-literatur.de)
Die Dichtung und das Leben des Johannes R. Becher




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