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tekkx - 17.02.2005 um 18:55 Uhr

Am Tisch sitzend, meine Frau erzählt mir, dass im Geschäft jetzt ein neues Papier eingeführt wurde, in dem alle Mitarbeiter auflisten müssen, was sie wann tun. Überall in den Firmen führen sie es ein, ein neues Papier - für das Zertifikat. Und in den Mittagspausen gehen sie vor die Tür und rauchen ihre Nervosität weg, verletzen sich in den Pausen ihres Alltags pausenlos selbst, um sich zu spüren. Es ist eine Form des Hospitalismus die sich so äußert. Es sind nur noch Krankheiten, die zu uns sprechen – personifiziert durch den Träger. Während dieser Gedanken erzählt mir meine Frau, dass es Arbeit ist, die sie nun zusätzlich ausführt. Ja, für euch ist es Arbeit, denke ich, aber es ist ein Wegbereiter für eine Welt, in der die Mutter ihren Sohn anzeigt, weil er keine Überstunden macht, mit schwebenden Autos. Meine Frau sitzt da, und redet von etwas anderem. Sie redet von etwas anderem, einfach so. Ein anderes Thema. Ich denke mir: Wer bist du? Soll ich dir meine Gedanken mitteilen? Aber wieso bist du nicht von selbst darauf gekommen? Es klingelt, ich gehe ran, habe nun auch etwas anderes. Ich verschiebe es, irgendwo hin, da wo wir immer alles irgendwie hin verschieben, wenn wir uns akut etwas anderem widmen müssen. Verschieben, schieben...
Wenn ich aus dem Fenster sehe, ist da eine Wand. Es ist die neue Ganztagsschule. Wenn ich die Kinder früher beim Spielen schreien hörte, sah ich hinaus. Das ist vorbei, das Schreien. Trotzdem sehe ich jeden Tag aus dem Fenster, das ist meiner Frau schon aufgefallen, ich bemerke es, wie sie heimlich an dem Türrahmen vorbei guckt. Es stört sie, dass ich hinaus sehe, sie sagt manchmal: Wieso siehst du aus dem Fenster, da ist doch nur eine Wand – und dann sieht sie in den Fernseher, der zugleich eine Kamera ist und sie auf den Tag hinweist. Hat sie recht? Da ist nur eine Wand, wieso raus sehen, warum mache ich das? Ich höre das ferne Abkippen von radioaktiven Müll in die Grube auf dem Hügel, den ich früher aus dem Fenster sah – vielleicht ist es das? Die Tür öffnet sich, das ist mein Signal, dass ich gehen muss – jeden Tag. Wenn ich gegangen bin, schalten sich die Lichter im Haus an, und meine Frau wird unterhalten.
Ich stehe da, und vergleiche die Ganztagsschule mit unserem Haus. Es ist viel kleiner, wie ein weißer Zwerg neben einem blauen Überriesen. Ein verbluteter Hund wird von der Kehrmaschine aufgesaugt. Ein Stück Fell bleibt kleben. Ich folge den Zigarettenstummeln in den Untergrund. Das erste Mal fühlte ich wie ein UFO, dass in den Hangar auf einem fremden Planeten fliegt. Unten kommt die Raupe an, mit Gesichtern, die nach draußen zu den Gesichtern sehen, die zu den Gesichtern nach innen sehen. Sie alle riechen nach Pfirsich und Mango, haben rot und blond gefärbte Haare, sprechen mit den Screens auf ihren Bildschirmen, berühren Tausende Kilometer entfernte Landschaften auf dem Touchscreen und bringen Blumen zum blühen – ab 12.000 Punkten gibt es einen Gutschein für eine Gratis-Landschaft. Ich bekomme einen Elektro-Schlag, direkt vom Sender meiner Kamera, in meinen Augen. Auf Kommando sehe ich aus dem Fenster, auf die Bandenwerbung – so wie alle anderen, während die Blumen auf den Screens verblühen.




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