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Literaturforum:
Odessa, ich komme ja schon
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Autor
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Thema: Odessa, ich komme ja schon
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Kenon
Mitglied
1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 05.07.2021 um 23:26 Uhr |
Viele Wege führen nach Odessa, aber es gibt nur einen wahren Zugang zur Stadt, und dieser führt von einer der Plattformen des Kopfbahnhofs durch ihn und dann das Haupttor der Station, über dem in – man muss es ja so sagen – etwas billigen Kunstgold-Lettern “Вихід у місто” (“Ausgang zur Stadt”) steht. Dieser Ausgang ist natürlich vielmehr ein Eingang: Ein Eingang in die Stadt, aber doch gleichfalls der Ausgang aus dem Bahnhof und von der anderen Seite gesehen das Gegenteil von all dem eben gesagten.
Nach Odessa zu kommen heißt, nach Hause zu kommen, auch wenn das Zuhause nicht Odessa heißt. Es ist wirklich dermaßen romantisch, dass ich bei diesem Satz nicht erröte, obwohl ich Dir natürlich recht viel erzählen kann; aber keine Sorge: Hier bin ich ehrlich. Selbst, wenn man heute mit dem Flugzeug in Odessa landet, betritt man die Stadt nur richtig durch das Haupttor der Eisenbahnstation. Wenn man den Flughafen verlässt, muss man sich dieser Tage im Sommer 2021 als notorisch budget-orientierter Fluggast an den wartenden Taxi-Fahrern vorbeischlängeln, die einem ungefragt ihre Dienste anbieten und etwas über einen Kilometer zu Fuß zur Hauptstraße wandern, da die Leitungen des O-Busses inzwischen abgebaut sind und dieser selbst auch nicht mehr fährt (was ja irgendwie und absolut logisch ist) und die nächste selbstverständlich überfüllte Marschrutka zum Busbahnhof, der gleich neben dem Eisenbahnhof liegt, nehmen. Dort angekommen, kann man dann die richtige Ankunft vollziehen, über die Bahnsteige laufen, die wartenden, eintreffenden und abfahrenden Züge bestaunen, sich geistig in die Lage versetzen, als wäre man soeben mit einem Langstreckenzug angekommen, vielleicht aus Kharkiv oder Lviv, und dann endlich das Gebäude betreten, um den Eingang nach Odessa auf die einzig wahre Art zu durchschreiten.
Du fragst Dich vielleicht, warum ich Dir das alles erzähle, aber hier kommt ja bereits die Moral: Manches lässt sich nur richtig erleben, wenn man es in den richtigen Formen erlebt; die nachgemachte Ankunft in Odessa ist allerdings auch kein Vergleich zum wirklich echten Antreffen mit dem Nachtzug an irgendeinem wunderschönen Morgen, sei es bspw. nun ein Montag-, Mittwoch- oder Donnerstagmorgen: Geben Sie schleunigst Ihr Bettzeug ab und verlassen zügig – den Zug. Odessa erwartet sie dringend! Die Wagendame treibt zur Eile. Odessa? Na, schnell greife ich meinen grünen Rucksack – Odessa, warte nicht, ich komme ja schon!
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