Mit am häufigsten denke ich übrigens an diese Zeile von Georg Trakl:
Zitat:
“Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.” (“Verfall”)
“Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.” (“Verfall”)
Kurz noch vorweg, bevor ich eventuell anfange, mich bei Fachleuten lächerlich zu machen:
Ich bin weder Germanist noch Linguist. Ich schaue die Welt gern wie mit den neugierigen aber doch naiven Augen eines antiken Griechen an, unbefleckt von spröder Wissenschaft, wenn man will: meta-physisch. Warum also ist es genau diese Wortfolge, die mir so häufig in den Kopf kommt? Worin besteht ihr besonderer Zauber? Aus welchen Lauten besteht sie?
Zitat:
“Ii Aa-El Aa-(gt) in en en-AU-en EI-en.”
“Ii Aa-El Aa-(gt) in en en-AU-en EI-en.”
Ich höre in diesem Satz zwei verschiedene Figuren. Die erste (“Ii Aa-El Aa-(gt)”, also “Die Amsel klagt”) wird dominiert von langgezogenen Vokalen, die etwas Schwung durch das “el” in “Amsel” erhalten; diese erste Klangfolge wird dann jäh abgewürgt durch das “gt” in “klagt”. Zwangsweise folgt hier eine kleine Pause. Die Silben der Worte (“Die Amsel klagt”) bilden das rhythmische Muster 1-2 * 1-2, wobei “Amsel” in “Am” und “sel” gebrochen wird.
Die zweite Figur (“in en en-AU-en EI-en”, sprich “in den entlaubten Zweigen”) wird von einem sanft hämmerndem, sehr einfachen Rhythmus getragen, dessen Schrittweite nach der ersten Teilfigur, also nach hinten hin, sofort abnimmt:
1-2-3 * 1-2 * 1-2.
Die beiden Figuren zusammengenommen ergeben wieder den Satz und damit das rhythmische Muster
1-2 * 1-2 * 1-2-3 * 1-2 * 1-2
Die Symmetrie, welche den Satz rund und damit eingängig macht, ist hier klar erkennbar: Das mittig gelagerte 1-2-3 ist die Spiegelstelle (“in en en”, also “in den ent”) und in dem ganzen Konstrukt die rhythmische Anomalie, auf die der Satzanfang hinleitet und von der aus in wieder gleicher Form das Ende des Satzes ausgeführt wird. Interessanterweise weist die Spiegelstelle (“in den ent”) im ganzen Satz den geringsten Informationsgehalt auf. Das leuchtet sofort ein, wenn man sie isoliert liest. Im Gegensatz zum Mittelstück sind Anfang und Ende reichlich ausgestattet: Wir haben auf der einen Seite das Subjekt (die Amsel), welche klagt, und auf der anderen eine Beschreibung des düsteren Handlungsortes.
Hören wir noch einmal genauer auf den Anfang:
“Ii Aa-El Aa-(gt)” – lautmalerisch ist das ja gar nicht der Ruf einer Amsel, sondern eher der einer Krähe, was zu der Stimmung, die hier wiedergegeben wird (ein schwarzer Vogel klagt in einem spät-herbstlich-bis-winterlich-kahlen Baum, obwohl es sich auch um einen Strauch handeln könnte; allerdings sehe ich hier immer nur einen Baum), viel besser passt. Auch ist es gar nicht die Art der Amsel, zu klagen, denn sie gehört zu den schönsten Sängern unter den Vögeln. Gern beziehen Amseln eine exponierte Stellung, um ihren selbstbewussten Vortrag zu halten; allein die wild verwirbelten schnellen Trillerlaute – vielleicht sind sie soetwas wie akustische Signaturen, Satzzeichen mit Prüfsumme – können doch niemals Teil einer Klage sein!
Warum ist es dann eine Amsel, die bei Trakl in den entlaubten Zweigen klagt? Vielleicht soll sie uns eine besonders schreckliche Lage bedeuten, in der sie nicht auf natürliche Weise fröhlich singt, sondern der Welt einen Kummer mitteilen mag oder muss (“tragisch invertierte Natur”). Möglich ist sicherlich auch, dass sich Trakl darum gar keine Gedanken gemacht hat; vielleicht hat er die Amsel gewählt, weil ihr Name heller klingt als der einer Krähe (“Die Krähe klagt” – das hört sich ja am Anfang durch die beiden Ks und das auftrumpfende Ä, gefolgt von einem bösärtigen und kurz angebundenen “he!”, schon viel zu hart an, so dass es den ganzen Satz verderben würde) oder einfach bloß, weil er eine besondere Affinität zu Amseln hatte, schließlich kommen sie in seinen Gedichten immer wieder vor.
Wenn wir genauer hinschauen, leuchtet auch – womit wir bei einer dritten Interpretation angelangt sind, die mit der zweiten verwandt sein könnte – die lautmalerische Ähnlichkeit des Vogelnamens mit dem Nachnamen des großartigen Dichters ein:
Amsel Trakl.