Kenon
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 20.06.2021 um 21:23 Uhr |
In der Geschichte der Menschheit ist es vermutlich eher die Regel als die Ausnahme, dass sich eine Ideologie auf bestimmten Gebieten – und dabei denke ich gar nicht unbedingt an Geographie – zur herrschenden emporschwingt und dann vom Gipfel der Macht herab jeden Konkurrenten wegstößt, der es wagt, sich auch nur anzunähern. Offener Widerspruch, vielleicht sogar noch aus einer emotionalen Lage heraus, wird unter der Vorherrschaft einer Ideologie schnell zum Selbstmord, weil man ihr allen Anlass gibt, dass sie einen ermordet. In vielen von Menschen geschaffenen Systemen hat man sich homodox zu geben – oder zumindest zu schweigen. Offene Rebellion macht meist erst Sinn, wenn die Gegner der herrschenden Ideologie heimlich ein solidarisches Band untereinander geflochten und so eine gewisse Stärke gewonnen haben, mit der sie in Auseinandersetzungen bestehen können. Solange man allein oder vereinzelt steht, kann das Säen von Zweifeln eine geeignete Methode sein, die Ideologie zu untergraben. Oft reicht hierbei das geschickte Stellen genau solcher demaskierender Fragen, auf welche die Ideologie nicht anders als unzufriedenstellend antworten kann – bei denen sie also gezwungen ist, ihre geistige Nacktheit zur Schau zu stellen, wenn sie es trotzdem versucht. Ein derartiges Fragemanöver kann natürlich auch von Vertretern der herrschenden Ideologie durchschaut und mit Aggressionsakten beantwortet werden. Das Opfer, welches der Widersprechende erbringt und zu welchem er wird, indem ihn die Ideologen für seine Heterodoxie bestrafen, musst nicht umsonst sein, wenn es gelingt, die Vorgänge für möglichst viele andere Menschen innerhalb des entsprechenden Systems transparent und publik zu machen; so zeigt die herrschende Ideologie ihre gemeine Fratze und man darf gerade wegen des am Opfer statuierten Exempels zweifeln, ob sie tatsächlich für das Gute, das Menschliche, das Gerechte, den Fortschritt, allgemeinen Wohlstand, die Nation usw. usf. eintritt oder nicht doch nur sich selbst dient und auf grundfalschen Annahmen beruht, also letztlich nicht legitimierbar ist.
Manchmal erscheint ein Kampf gegen eine Ideologie aussichtslos. Die einen mögen ihre Herrschaft am liebsten aussitzen und stecken die Köpfe in den Sand, andere ergreifen die Möglichkeit der Flucht, wenn diese sich bietet, und begeben sich in einen anderen Herrschaftsbereich; der Rest ist Diener oder Priester.
Gewissheiten zersplittern schneller als man üblicherweise denkt. “Zersplitternde Gewissheiten” – das ist der Titel eines Cioran-Lesebuches. E. M. Cioran war ein Verführer, bei ihm steht erhellende Genialität oft neben düsterem Stumpfsinn, geschöpft aus tiefer Depression, wenn man wollte, könnte man seine Schriften mit Rauschgift vergleichen: Sie ermöglichen einesteils wunderbare Räusche, sind andernteils aber auch gefährliches Gift.
Man muss vorsichtig – und das heisst hier vor allem: kritischen Geistes – damit umgehen.
Was kann uns Cioran im Kampf gegen eine Ideologie raten?
Zitat:
Man kann jede Wahrheit ertragen, sei sie noch so zerstörerisch, sofern sie für alles steht und soviel Vitalität in sich trägt wie die Hoffnung, die sie ersetzt hat.
Es reicht demnach unglücklicherweise nicht, dass die Wahrheit, die ihren Platz unter den Menschen einfordert, wahr ist; sie muss sich vor allem auch als kräftiger und damit besser als die Lüge erweisen und deren vormaligen Platz restlos ausfüllen.
Für eine gewisse Zeit mag ihr das recht gut gelingen, aber stark ist die Lüge: stets bereit, zurückzukommen. Und sie kommt zurück, eines Tages kommt sie immer als Herrscherin zurück, leicht verwandelt, vielleicht mit umgenähten Kleidern, andersfarbigem Lippenstift, einer neuen Perücke – und dann muss die Wahrheit erneut wie der Stein des Sisyphos den Berg hinauf zum Gipfel der Macht geschoben werden: behutsam, klug und vor allem nicht von einem allein, sondern solidarisch-geeint.
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Geschrieben am 26. Todestag von E.M. Cioran
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