Kenon
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1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 15.03.2021 um 21:32 Uhr |
Die Vorkommnisse, die man Shitstorm nennt, häufen sich. Das Wort ist noch relativ neu, steht aber bereits seit 2013 in dem knallgelben deutschen Wörterbuch, das sich in letzter Zeit vermehrt auf sprachpolitischen Abwegen befindet. Was ist ein Shitstorm? Ganz grob gesagt ist er eine digitale Massenempörung mit rauschhaften Zügen, die häufig unschöne Konsequenzen für die anlassgebenden Menschen hat: Rufschädigung, Bedrohungen, Arbeitsplatzverlust et. al..
Wieviele alte weiße Weise verträgt unsere Gesellschaft?
Ich führe hier nur einige wenige Beispiele an, am prominentesten in jüngster Zeit ist sicherlich die Reaktion auf Wolfgang Thierses in der FAZ erschienen Essay “Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft". Um darüber einen Shitstorm auszulösen, hat es gereicht, dass er einige wenige Reizthemen wie “Blackfacing” oder die Berliner “Mohrenstraße” erwähnt hat ohne dabei eine klare politisch korrekte Meinung zu vertreten. Thierse lehnt Blackfacing nicht kategorisch ab, da “kulturelle Aneignung” für ihn nichts negatives ist, er möchte die Benennung oder Umbenennung von Straßen demokratisch und nicht hysterisch diskutieren; zudem kritisiert Thierse die lästige Gendersprache, die unter dem Vorwand der Herbeiführung von “Geschlechtergerechtigkeit” zwischenmenschliche Kommunikation zunehmend erschwert. Diese Punkte haben schon gereicht, um im Internet eine undifferenzierte Welle der Empörung auszulösen. Emotionale aber inhaltlich ziemlich leere Tweets wie “Ich fasse es nicht, da ist so vieles falsch!” (sgm.), die große Wellen geschlagen haben, sind symptomatisch für die Äußerungen einiger Menschen im Internet. Unter so einem Tweet wird dann das ganze gruselige Phrasenarsenal der woken Linksidentitären abgefeuert: Thierse sei ein alter weißer Mann, dem man nicht zuhören müsse, weil er bereits durch seine Identität delegitimiert sei, alle Weißen seien per se Rassisten usw. usf.; traditionelle Medien nehmen soetwas dann gern auf und adeln es dadurch im gleichen Zuge, sie zitieren in ihren Artikeln eine Handvoll besonders greller Tweets und fertig ist der Skandal: Wolfgang Thierse hat also einen Shitstorm verursacht! Dabei werden die meisten Menschen, die an der Empörung teilgenommen haben, den Artikel von Wolfgang Thierse gar nicht gelesen haben: Er befand sich hinter einer Paywall, ist sehr lang und nicht ohne Anspruch geschrieben. Aber wen schert das? Jeder empört sich heute so gern, deswegen müssen die Beweggründe dafür auch gar nicht fundiert sein. Einfach immer drauf auf den großen Haufen. Es genügt, wenn man sich von ein paar Reizthemen oder sogar nur -worten triggern lässt. Über die Zusammenhänge sieht man dann gern hinweg – das wäre ja Aufwand und würde womöglich die Empörung zerstören.
Im Land der Sushis
Ein anderes Beispiel ist der Kommentar des Bayern-3-Moderators Matthias Matuschik zur koreanischen Boyband BTS. Er hat sie in einer Sendung „Diese kleinen Pisser“ genannt – das ist sicherlich nicht besonders nett, allerdings auch kein Weltuntergang, Fans sollten es verkraften, wenn jemand die Objekte ihrer Anbetung und zweifelhaften Vergötterung – in diesem Fall kommerziell ausgebeutete, überpflegte junge südkoreanische Männer – so bezeichnet; die Reaktion der K-Pop-Fans ließ aber nicht lange auf sich warten. Inhaber von größtenteils anonymen Accounts warfen Matuschik Rassismus vor und forderten kollektiv seinen Rauswurf. Sehr ähnlich ist es bei einem Kommentar des Fußball-Reporters Jörg Dahlmann abgelaufen. Während einer Reportage sagte er den “unheilvollen” Satz: “Es wäre sein erster Treffer für 96 gewesen. Den letzten hat er im Land der Sushis geschossen.”. Wieder brach im Internet eine “Welle der Empörung” los. Dahlmann verlor daraufhin seinen Job beim Sender Sky. Sein Vertrag sollte sowieso zum Ende der Fußballsaison 2020/21 aufgelöst werden, da mag es für den Sender vielleicht auch ein willkommener Vorwand gewesen sein, den Mitarbeiter noch schneller loswerden zu können. Es stellt sich mir ohnehin die Frage, wie häufig ein Shitstorm, der nach außen wie der Grund für das Canceln einer Person aussieht, nicht eben nur ein willkommener Anlass war, die unliebsam gewordene Person endlich zu entsorgen. Hinter jeder Person, die es zu etwas gebracht hat, stehen schließlich tausende, die ihre Position gern einnehmen möchten ...
Jammernd bis schreiend zum Erfolg
Ohne soziale Medien würde es keine Shitstorms geben – das versteht sich von selbst (die Kommentarbereiche von Online-Publikationen zählen gewissermaßen auch dazu). Sie bieten den strukturellen Rahmen dafür, dass Meinungen wie Lawinen über den Planeten rollen können. Nutzer, die viral gehende Inhalte produzieren, werden durch Likes und Follower belohnt, die von ihnen genutzten Social Media Apps überschütten sie mit Benachrichtigungen, die in ihrer Summe tatsächlich wie Rauschgift wirken: man möchte das wunderbare Erlebnis wiederholen, die Dosis schließlich erhöhen. Solche erfolgreichen Nutzer erlangen Ruhm und Reichweite. Twitter & Co. kann man in Maßen sicherlich auch sinnvoll nutzen, aber man muss sich im klaren sein, dass sie wie einarmige Banditen funktionieren, die zudem die Daten der Nutzer (Verhalten, Vorlieben) absaugen und zu Geld machen. Nutzer werden durch einfache Belohnungsmechanismen incentiviert, Beiträge zu veröffentlichen, die möglichste viele Reaktionen anderer Nutzer hervorrufen. Das Medium hat so einen wichtigen Einfluss darauf, welche Art Inhalte überhaupt produziert werden.
Emotionale Lawinen
Kontroverse und emotionale Botschaften, gerade, wenn sie an das Absurde grenzen, erlangen im Internet eine potentiell größere Reichweite. Sie werden von Leuten geliked, geteilt, kommentiert – interessanterweise geteilt und kommentiert auch von jenen, welche die Inhalte eigentlich ablehnen (“Schaut mal her, was diese Person für dumme Sachen von sich gibt”, “Und hier – was die Kreml-Propaganda wieder für einen Unsinn verbreitet!“), bis eine Lawine ins Rollen kommt, bei der Hunderte, Tausende, Hunderttausende, Millionen mitmachen. Die Lawinen führen dann ihr eigenes Leben, während sie alles mit sich reißen und plattwalzen, da fragt niemand mehr, wie das eigentlich entstanden ist, was die genauen Gründe für ihre Entstehung waren.
Das unberechenbare Risiko, die eigene Meinung zu äußern
Das Publizieren von Inhalten im Internet ist auch eine Art Lottospiel: Möglicherweise wird ein bestimmter Inhalt nie von Menschen sondern nur von Maschinen betrachtet werden, vielleicht geht er aber auch “viral” und erreicht Millionen von Menschen. Es gibt zum einen sicherlich diejenigen, die es darauf anlegen, durch irgendwelche Beiträge berühmt zu werden, zum anderen führt diese erschwerte Berechenbarkeit der Folgen einer Äußerung dazu, dass viele Menschen extrem vorsichtig geworden sind, was sie überhaupt noch äußern – und damit zu einer beklagenswerten Verwüstung unserer Kommunikations- und Diskussionskultur. Das betrifft insbesondere auch Organisationen wie gewinnorientiert arbeitende Unternehmen, die jeden “Fehltritt” sofort in finanzielle Verluste umrechnen können und sich deswegen Leitfäden politisch korrekten Verhaltens ausdenken und deren Einhaltung auferlegen: Nur nirgendwo anecken und es möglichst allen recht machen, damit die Geschäftsziele nicht gefährdet werden.
Eine hässliche Erscheinung
Ein Shitstorm ist eine hässliche Erscheinung, die nicht ohne Grund mit einem hässlichen Wort bezeichnet wird. Seine Begründetheit und qualitative Stärke sind schwer zu bestimmen: Wieviele echte (maßgebliche?) Personen stecken dahinter, wieviel ist auf feige anonyme Schreihälse, wieviel auf automatisch agierende Bots zurückzuführen, in welchem Maße wurde er von Interessengruppen gesteuert, wer sind überhaupt die Akteure? Was davon kommt in den klassischen Medien an, wie repräsentativ sind die Zitate, die sie bringen? Die Intensität der Empörung (welche Ausdrücke werden gebraucht, welche Vorwürfe gemacht?) und ihre Wiederholungsfrequenz werden zu sehr als Maßstab genommen, um einen Shitstorm einzuordnen.
Deeskalation und Verzeihen
Es ist ein schwieriges Terrain ohne einfache Lösungen, aber ich glaube dennoch, dass es wichtig ist, dass wir uns häufiger in Gelassenheit üben und manch stark wehenden Wind auch einfach mal ignorieren. Das heisst nicht, dass wir künftig allen alles durchgehen lassen müssen, aber wir sollten uns davor hüten, selbst dumme Teile von Empörungswellen zu werden, ohne genau zu wissen, worum es eigentlich geht und stattdessen lieber die sachliche Auseinandersetzung suchen – mehr noch vielleicht: einfach mal beschwichtigen oder sogar schweigen, was wunderbar deeskalierend wirken kann. Zudem würde es uns sehr gut tun, wenn wir das Verzeihen und die Aussöhnung als wichtige Reinigungsfunktionen menschlichen Zusammenlebens neu erlernen und mit Leben füllen, damit eben dieses Zusammenleben ein insgesamt schöneres und harmonischeres werden kann und wir uns gegenseitig nicht nur noch aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Lagern heraus anschreien.
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