Kenon
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 20.11.2020 um 22:26 Uhr |
Es ist still um ihn geworden. Nur alle paar Jahre hört man noch mal von Karl Marx - in der Regel zu irgendwelchen Jubiläen. Dann läuft erneut ein Verwertungszyklus an, Verlage bringen Bücher auf den Markt, in den Feuilletons gibt es ein paar lauwarme Aufgüsse, die auf früheren lauwarmen Aufgüssen basieren, manchmal sogar einen Film - aber Karl Marx ist so tot wie seine Ideen. Man kann nichts über ihn und sie sagen, was nicht schon gesagt worden wäre. Die letzten Impulse zu einer Beschäftigung mit seinen Gedanken gingen noch einmal aus, als man sein sogenanntes Frühwerk, das unter anderem das Entfremdungstheorem enthält, entdeckte. Auch das ist lange her. Es bleiben rund 100 Millionen Tote, die in Diktaturen, die sich auf ihn berufen haben, ermordet worden sind - und die zusätzlichen Abermillionen, die in kommunistischen Systemen gelitten haben. Ich habe mich viele Jahre mit dem Marxismus beschäftigt, um als in die DDR geborener Mensch zu verstehen, wie ein so lebensfeindliches System ent- und bestehen konnte - auch mit der kleinen Hoffnung, vielleicht einen Punkt aufzuspüren, an dem die Quelle noch rein war und eine Wahrheit enthielt. Ich habe ihn nicht gefunden. Wenn man heute etwas von Karl Marx als historischer Persönlichkeit lernen kann, dann ist es die Gefahr zu erkennen, die für gesellschaftliche Systeme besteht, die nicht (mehr) in der Lage sind, ihren großen Talenten einen Platz zu geben, an dem sie sich als ein Teil einbringen können, so dass sich manche dieser Talente dann mit all ihrer geistigen Kraft gegen das System wenden, indem sie sich in das Reich des Geistes, der Ideen zurückziehen und dort eine großartige Produktion starten, die, wenn sie Anhänger findet, zurückschlägt in die Wirklichkeit. Der Schrei eines Einzelnen kann eine Lawine auslösen - aber ohne die zahllosen Schneeflocken, die dieses Kommando erhören, bewegt sich nichts.
Friedrich Nietzsche ist ein interessanter Antipode von Karl Marx. Marx wollte die Menschheit / die Massen befreien, Nietzsche das besondere Individuum (auch von den Massen). Wozu Marx´ Unterfangen führte, ist bekannt und oben bereits gezeigt. Nietzsche hat sich nur selbst und ein paar seiner Anhänger, die ihn zu ernst genommen haben, zugrunde gerichtet. Wenn man sich nicht zu sehr von seinem Temperament und seiner Sprache vereinnahmen lässt, kann man Nietzsche auch heute mit Gewinn lesen; Marx hingegen ist nur noch eine historische Erscheinung, die man besser ebenso historisch liest.
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