Tamsel gibt es nicht mehr. Heute heisst der kleine Ort mit knapp 700 Einwohnern an der ehemaligen Ostbahn Dąbroszyn. Wenn man hier in die Bahn einsteigt, schauen einen die Leute verwundert an: Was macht der denn hier? Oder sie denken irgendetwas anderes.
Läuft man vom Bahnhof in den Ort hinein, kommt man am Schlosspark vorbei, der auf der polnischen Karte als Park Angielski - Engelspark - eingezeichnet ist. Große Haufen von leeren małpki, kleinen 100 Gramm (“sto gram”) Wodka-Flaschen, die in die Handfläche passen, sodass man trotz des Alkoholverbots in der Öffentlichkeit unauffällig daraus trinken kann, säumen die Wegränder. 2018 sollen eine Milliarde davon in Polen verkauft worden sein, ein guter Anteil offenbar auch hier in Dąbroszyn. In diesem verlassenen Örtchen wohnen einige durstige Menschen, was soll man auch sonst tun, wenn man nicht gerade eine junge Familie und / oder einen Kleingarten hat. Neben dem Schloss steht ein Ladengeschäft aus Volksrepublik-Zeiten - ein “Lewiatan”. Auf der zum Schloss hingewandten Seite des Geschäfts befindet sich ein ehemaliger Gastronomie-Betrieb mit einer kleinen Terrasse. Auf der Terrasse sitzen ein paar ältere Männer und trinken aus ihren Bierflaschen, die sie direkt um die Ecke im Lewiatan erworben haben. Kauft man Bier im Lewiatan, so gibt es zwei Optionen: Zum Mitnehmen, dann wird Pfand fällig, oder man trinkt es um die Ecke bei diesen alten Männern, denen man zu sehr ansieht, womit sie sich den ganzen Tag beschäftigen.
An Dąbroszyn bin ich schon viele Male vorbeigefahren. Der Ort hat eine seltsame Ausstrahlung. Der Zug hält und fährt schließlich an dem Bahnhof, der selbst nicht mehr im Betrieb ist, vorbei, etwas unheimliches lädt einen ein, auszusteigen und sich umzusehen. Letztlich bleibt dann immer nur der Name des Orts, den man auf dem Schild schwarz auf weiss gesehen hat, im Kopf hängen. Im September 2020 stiegen wir hier aber nun tatsächlich einmal aus, wo andere nur vorbeifahren, westwärts nach Kostrzyn oder ostwärts nach Gorzów. Corona hat uns dazu gebracht, uns abwegigere (oder einfach nur bescheidenere) Reiseziele in Westpolen zu suchen. Also verbrachten wir ein Weilchen unserer Lebenszeit in Dąbroszyn.
Der sowjetische General Schukow soll in Schloss Tamsel gewohnt haben, als er die Berliner Operation im Frühjahr 1945 vorbereitete. Ich stelle mir vor, wie er und seine Leute über Karten saßen, darauf Holzklötzchen hin und her schoben oder Nadeln mit bunten Köpfen einstachen, Pelmeni aßen und Wodka tranken und dann irgendwann angeheitert in den Park liefen, um auf das Victoria-Denkmal lachend, grölend mit ihren Gewehren zu feuern: Ein weiblicher, schwarzer Metallengel mit Flügeln. Der rechte Arm fehlt ihm heute, er hat Einschusslöcher, die sich im Kopfbereich, am Hals, an der Brust, den Flügeln häufen und nie ausgebessert worden sind. Victoria - das ist der perforierte Engel von Tamsel. Auch heute ist er noch Zeuge für das Ankommen des russischen Geistes in Deutschland. Von Patronen gerissene Löcher, die bleiben.
Hat man diesen armen Engel gesehen, hat man - Entschuldigung - in Dąbroszyn alles gesehen. Man kann dann zurück zum Bahnhof laufen und auf den Zug warten. Das taten auch wir. Hinter dem Bahnhof wurde ein wütender Hund an einer kurzen Leine gehalten. Er kläffte uns fürchterlich an, als wir an ihm vorbeigingen und konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Er wusste, dass wir nicht hierher gehörten und bellte, bellte, bellte uns davon, davon.
Wir setzten uns in den nächsten Zug und fuhren zurück in die Weltstadt Kostrzyn.