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Berliner Tagebuch, 02.04.2020 - Krähen
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Autor
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Thema: Berliner Tagebuch, 02.04.2020 - Krähen
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Kenon
Mitglied
1482 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 03.04.2020 um 00:17 Uhr |
Liebes Tagebuch,
habe ich Dir schon von den Krähen berichtet - es sind mindestens zwei - die mich tagsüber unterhalten? Sie heben Erdklumpen aus den Blumentöpfen und wittern Saatgut, obwohl ich noch nichts gesät habe, sie trinken und baden sich auf dem Balkon, sie schlittern mit quietschenden Krallen die Dachfenster herunter und picken freudvoll deren Isolierung heraus. Sie sind schwarz, kräftig und riesig und ich meine sogar zu wissen, warum: Es sind echte Lichtenberger Krähen, die sich schon als sie klein waren von auf die Bürgersteige geworfenen Dönertaschen ernährten und ihr Taschengeld mit Flaschenpfand aufbesserten, um sich die besten China-Pfannen im Kiez leisten zu können. Manchmal schauen wir uns eisigen Auges direkt in die Gesichter und erkennen einander. So unähnlich sind wir uns nicht. Aber ich bin stärker und vertreibe sie. Die Krähen jedoch sind noch ein wenig stärker und kehren immer wieder, oft unbemerkt.
Machen, was man sonst nicht machen würde - diese Idee habe ich weiter verfolgt und zu verfeinern gesucht. Das mit den umgekippten Weinen ist durch, aber ich habe auch noch ein paar Teereste, die seit Jahren abgelaufen sind. Die geschmackliche Bandbreite reicht von “Geht ja” bis “Lieber gleich wegwerfen” (Grüner Tee mit Ingwer-Lemon Geschmack). Ehrlich: Ich bin wirklich schon ziemlich verzweifelt und habe deswegen sogar wieder einmal Thomas Mann´s “Zauberberg” (Lungensanatorium und so, aber eben nicht aus gegebenem Anlass) angepackt. Gekauft habe ich das Buch im Jahre 2008, der Einband ist schön und das Cover entspricht wohl der Original-Ausgabe. Ich weiss nicht, wie oft ich die ersten Seiten (20, 40 oder sogar 100) gelesen habe, um das Buch dann immer wieder wegzulegen. Ich mag Thomas Mann nicht. Er war sehr wahrscheinlich ein schlechter Vater und ist mit Sicherheit ein schlechter Erzähler. Jeder seiner Sätze ist prätentiös, aus seinen Büchern trieft norddeutsch-gestelzt ranzige Butter (kann ranzige Butter triefen?). Ein armseliger Typ, der von einigen armen Seelen verehrt wird. Ich werde wahrscheinlich auch dieses Mal nicht sehr weit kommen - wahrscheinlich nicht einmal, wenn wir erst zu Weihnachten wieder ein normales Leben haben sollten.
Im Friseurladen nebenan hängen seit ein paar Wochen bunte Plastik-Blätter an den Fenstern. Die sollten wahrscheinlich den Frühling einläuten, aber verbreiten bereits eine herbstliche Stimmung. Der Laden ist natürlich geschlossen. Vielleicht ein Omen: Wenn er wieder öffnet, muss die Dekoration nicht gleich angepasst werden. Wenn es wirklich hart auf hart kommt, werde ich ohnehin meine Haarschneidemaschine reaktivieren.
Dein K
PS: Ich habe eine ganze Packung Küchenpapier kaufen können und kann heute ruhig einschlafen. Zu Hause angekommen, habe ich sie liebevoll eng an meine Brust gedrückt und ein kleines Freudentänzchen aufgeführt. Endlich habe ich mein Leben wieder im Griff. Jedenfalls ein kleines bißchen. Der Anblick der unbenutzten Rollen ist mir eine ungemeine Genugtuung. Welchen Dreck werde ich damit entfernen können? “Werde” - ich spreche im Futurum. Ja, ich glaube fest an die Zukunft, das Leben! Oh, ihr wunderbaren eingeschweißten weißen Rollen mit Musterprägung. Oh, Du wunderbares Küchenpapier!!! Mit Dir werde ich jede Menge Dreck entfernen.
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