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Literaturforum: Berliner Tagebuch, 18.03.2020 - Im falschen Leben


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 Thema: Berliner Tagebuch, 18.03.2020 - Im falschen Leben
Kenon
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 18.03.2020 um 23:18 Uhr

Liebes Tagebuch,

vermutlich bin ich neulich falsch aufgewacht oder nur um die ebenso falsche Ecke gegangen und dann unbemerkt in einer alternativen Realität angekommen, die mich nun zwingt, dieses andere Leben zu leben, was gar nicht meines aber ihm doch recht ähnlich ist, und die Realität, in der ich wirklich zu Hause bin, wird mir fortan für immer verschlossen bleiben - oder komme ich doch noch einmal irgendwie irgendwann zurück? Dieses andere, dieses eigentliche Leben lebt jetzt ein altes Ich, von dem ich mich abgespalten habe. Ganz sicher bin ich, dass jenes Leben weitergeht - nur eben ohne mich. Ich lebe inzwischen in einer Welt, in der die Nachrichten wie in einem billigen Katastrophenfilm wirken, in der sich eine deutsche Kanzlerin mit dem Charme einer Gefriertruhe an die Nation wendet und in einem absichtlichen Versprecher Wiedervereinigung, die Corona-Pandemie und den Zweiten Weltkrieg in eine geordnete Reihe bringt. Was mir bleibt, sind die Erinnerungen. Erinnerungen sind sehr gut, denn schöne Erlebnisse kann man nicht kopieren. Nur das Original hat den wahren Zauber. Wozu also sich nach Wiederholungen sehnen wie die Junkies am Kottbusser Tor, die nie wieder so high sein werden wie bei ihrem ersten Schuss? Immerhin bin ich nicht allein in dieser Welt angekommen. Die altbekannten Menschen haben in ihr schon auf mich gewartet. Auch sie sind wie ich lauere Kopien ihres tatsächlichen Selbst. Ein bißchen unglücklich hat man sie in ihre neuen Rollen gedrängt. Ein Tritt hier, ein Tritt dort, das geht schon seinen Gang. So ist das eben jetzt.

Ehrlich gesagt, habe ich heute gar keine besonders große Lust, Dir zu schreiben. Viel lieber würde ich in dieses alte Leben zurück. Aber ich mache weiter, ein wenig habe ich Dir noch zu sagen. Leichtes Zeug, ein paar weitere Zeilen. Entschuldige, wenn ich Dich langweilen sollte.

Auf meinem Schreibtisch hatte ich neulich Kleingeld in Türmen aufgebaut, Euro zu Euro, 20-Cent zu 20-Cent, 10-Cent zu 10-Cent und so weiter. Diese Türme sind, wie ich jetzt beim Schreiben sehe, eingestürzt. Das hat wirklich nichts zu bedeuten und doch sagt es mir, wieviel an einem einfach so vorbei geht und man merkt es erst viel später, meistens sogar nie.

“Corona ist jetzt in aller Munde” - sagte heute ein Kollege auf der Arbeit. Ein unglücklicher Versprecher, sicherlich keine Absicht. Durch meinen Mund geht gerade roter Mezzacorona-Wein aus Italien. Entschuldige, das ist genauso blöd wie das Corona-Bier neulich, aber die Flasche war diskontiert und ich hatte mir gedacht: Wieso nicht? Lange keinen Wein getrunken. Es ist ja sowieso eine Zeit, in der die Leute glauben, dass sie zupacken müssen. Viele Abteilungen im Supermarkt sind abends noch immer leergefegt, aber immerhin gab es wieder Dosenmais (köstlich!) - dafür haben sich wohl einige besonnen und nun auch im Bereich Gewürzgurken nachgerüstet. Am Wochenende hatten anscheinend nur wenige daran gedacht. Heute waren dann keine mehr zu kaufen. Was man im Geschäft nicht mehr bekommt, kann man vielleicht online bestellen. Amazon rüstet sich für ein gigantisches Wachstum, will 100.000 neue Stellen schaffen. Wahrscheinlich haben sie recht: Gestern sah ich bereits eine junge Frau, die acht oder vielleicht zehn Pakete, die meisten mit dem Pfeil-Logo versehen, vor sich balancierte und irgendwie versuchte, in ihre Wohnung zu gelangen. Vielleicht hat sie ein Baby zu versorgen - oder hat sich einen Vorrat an Schminke zugelegt, damit sie mal ein Baby zu versorgen hat. Entschuldigung, soetwas darf man heute ja nicht mehr schreiben. Nicht einmal seinem Tagebuch, richtig?

Die Statistik der Johns Hopkins University verzeichnet mittlerweile fast 215.000 verifizierte Corona-Infektionen, ca. 15.000 mehr als gestern. Mit dem Gedanken an diese Zahlen und die Schicksale, die dahinter stehen, möchte ich nicht ins Bett gehen. Ich denke noch einmal daran, wie ich die Pflanzenkästen auf dem Balkon von Abgestorbenem und Unrat gereinigt habe, damit sich die jungen Kräuter besser entwickeln können. In einem Kasten entdeckte ich einen Marienkäfer. Immer wieder entdeckte ich bei der Arbeit denselben Marienkäfer und erinnerte mich daran, wie ich mich als Kind freute, wenn ich einen Marienkäfer fand, ihn durch geschicktes Manövrieren “überredete”, auf einem meiner Finger Platz zu nehmen, seine schwarz-weiß-rote Gestalt bewunderte, seine Punkte zählte und ihre Verteilung auf den Flügeln verglich, bis er irgendwann davonflog. Einfach so davonflog.

Dein K

PS: Jetzt, heute, nun, gestern, noch - verflixte Worte, die sich wie in einer Inflation immer wieder aufdrängen. Noch.

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