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Literaturforum: Zerhacktes Orange


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 Thema: Zerhacktes Orange
Lily Roth
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seit dem 27.03.2017

Das ist Lily Roth

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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 27.03.2017 um 18:47 Uhr

Zerhacktes Orange

Als ich den Lärm hörte, dachte ich, sie würden streiten, und ging hinunter. Vor der halboffenen Türe blieb ich stehen, um zu erfahren, worum es ging.

Ich hatte mich getäuscht, denn es gab keine Spur von Auseinandersetzungen. Die beiden Frauen saßen am Tisch, vor ihnen standen zwei halbleere Kaffeeschalen und ein angeschnittener Stollen.

Schon wollte ich das Zimmer betreten, als mir bewußt wurde, daß mein Schwindelgefühl längst noch nicht verschwunden war, und ich einsah, saß ich eben keinen Alkohol vertrug. Meine Beine rutschten allmählich auf den Fliesen weiter, wobei sie die Richtung selbst bestimmten. Mein Rücken lehnte sich gegen die Wand, um eine Bruchlandung zu verhindern, und mein Kopf versuchte sich zu entspannen. Ich nahm allmählich eine Art sitzende Stelung auf dem Boden ein, als ich plötzlich Schreie hörte. Mein Allgemeinbefinden verhinderte ein Erschrecken, das ohnehin umsonst gewesen wäre, denn ich merkte bald, daß die Frauen in der Küche die vermeintlichen Angstlaute von sich gegeben hatten. Jetzt erst fiel mir die dritte Stimme auf, die ich richtig als einem Kind gehörend interpretierte.

Als in dem Zimmer der Erzherzog – Johann – Jodler angestimmt wurde, drängte sich mir der Wunsch auf, nicht meine Augen, sondern meine Ohren würden sich langsam schließen. Ich konzentrierte mich kurz, atmete tief durch und schaffte es anschließend, meine Lider wieder zu heben und in die Ecke der Küche zu schielen. Von meinem Standpunkt aus konnte ich genau den Teil des Raumes sehen, der für den Fortgang des Geschehens wichtig war.

Ich sah also, wie das Kind auf der Bank kniete, die ältere Frau auf einem Sessel saß und die jüngere ebenfalls auf der Bank. Wäre ich nüchtern gewesen, hätte ich diese Gesellschaft für äußerst alkoholisiert gehalten. Zum fraglichen Zeitpunkt jedoch hatte meine Kritikfähigkeit den „toten Punkt“ erreicht.

Das Lachen, Singen und Gröhlen schwoll dermaßen an, daß es das Dröhnen in meinem Kopf anfangs vervollständigte, später übertönte und endlich gänzlich verdrängte, sodaß ich nur noch die musikalischen Mißtöne wahrnahm.

Ich fand mich schließlich in mein Schicksal und ließ die Augen zuklappen. Die Töne wechselten über in Lachen, das Kind versuchte die Frauen zu übertönen, und all das jetzt nicht nur in meinem Kopf, der sich ohnehin schon ergeben hatte, weil er sich nicht übergeben konnte, sondern in meinem ganzen Körper, der wehr- und hilflos, durchlässig sämtliche Vibrationen aufnahm, erfühlte und sie zu allem Überfluß in lebendige Bilder übertrug, die ich, ohne selbst Person zu sein, doch als Persönlichkeit erlebte.

Während die Ältere lächelnd den letzten Schluck Kaffee austrank, färbte sich ihr Pullover langsam um. Das heiße Rot, das gerade noch vorherrschend gewesen war, wurde nun von einem rosa Punkt in der Herzgegend verdrängt, der besitzergreifend anwuchs, wobei er immer kälter wurde, und über Lila und Dunkelblau rasch in Eisblau mündete. Als die Frau die Tasse abgestellt und einige Schlucke getan hatte, sagte die andere etwas zu ihr, das ich als Schwingungen empfand, die das gleiche Orange ausstrahlten wie ihre Kleidung. Das Kind brüllte vor Lachen rot, während sein Körper davon unberührt in tiefem Violett verharrte. Auch die ältere Frau kniff die Augen zusammen, verzog den Mund in Richtung Rot – doch das Rot war tot – und sie bleckte nur die Zähne. Die Jüngere war so von Orange erfüllt, daß sie von ihrer Umgebung unabhängig nur einfach orange war. So konnte sie das Eisblau weder wahr- noch aufnehmen, verblieb in ihrer rot-gelben Harmonie und mißdeutete prompt das zähnefletschende Öffnen des Mundes als Lachen.

Schon hatte das sprühende Orange begonnen, auf dem Violett zarte Farbsprenkel zu hinterlassen. Diese Farbe schien alles durchdringen zu wollen; die Atmosphäre vibrierte längst orange, die Gegenstände verschwammen zu undefinierbaren, schwach orange pulsierenden Silhouetten, und da dies alles mein Ich erfüllte, mußte mein Selbst sich darauf einlassen. Zuerst unsicher, dann bestimmter, versuchte ich, mir orange bewußt zu werden und begann Gefallen an der Rot-Gelb-Harmonie zu finden, die nur noch durch das Eisblau erkaltet wurde.

Gerade als ich versuchte, dieses Eisblau zu ignorieren und wieder zu erwärmen, zuckte es ohne erkennbare Ursache zusammen. Im selben Moment sah ich das Beil. Die Frau schwang eisblau das Beil, ich hörte einen lauten, entsetzten, orangen Schrei und riß, während die Rot-Gelb-Harmonie wie Lava übergangslos eisblau erstarrte, so weit wie möglich die Augen auf, erschrak vor der Person, die geschrien hatte und die ich war, und schwor mit dem nächsten Atemzug den mich umringenden Frauen und dem Kind strikte Abstinenz.

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