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Literaturforum: Gott


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 Thema: Gott
raimund-fellner
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 29.02.2012 um 13:39 Uhr

Gott

Was war früher? Wie lange besteht die Welt? Auf solche Fragen hörte er bei den Erwachsenen Herumgerede. Sie verbezüglichten und verschachtelten die Eisenzeit, die Bronzezeit, die Steinzeit, die ersten Funde des Urmenschen, die Zeit der Saurier...dies oder jenes war früher, später, gleichzeitig...hier war eine menschliche Gemeinschaft, anderswo eine andere...so bestimmte man das Alter... Die Erwachsenen bauten also eine Welt der Bezüge auf, aber zum Ursprung, wenn es diesen gab, gelangten sie nicht.
Sie boten auch einen anderen Weg der Erklärung, der mit dem schlussfolgernden Verstand nicht hergeleitet werden konnte, sondern geglaubt werden musste, im Gesamten aber einleuchtete. Dies war Gott. Er würde um den Ursprung der Welt wissen, weil er alles weiß, alles kann, alles sieht, alles hört, auch an Gedanken und Gefühlen Anteil nimmt. So wurde er ihm vermittelt.
Raimund mochte den lieben Gott, weil dieser so selbstlos das Gute wollte und es so eingerichtet hatte, dass das Gute zugleich zur Freude gereichte. Und zur Freude fühlte sich Raimund geschaffen. Die großen Leute hatten dafür keinen Sinn. Sie waren verbohrt in ihren Ernst des Lebens, kannten nur Pflicht und Arbeit und Mühen und Verantwortung und wollten dies den Kindern aufbürden und sie unglücklich machen. Das konnte Gott nicht wollen. Bemerkten die großen Leute nicht die Unstimmigkeiten und Misslichkeiten, kurzweg das Übel oder Böse und, wenn sie es erkannten, warum handelten sie nicht anders? Hatten sie keine Vorstellung, wie die Welt sein sollte?
Es stimmte ihn traurig, es grämte ihn, dass er mit seinen Gedanken über die Welt, wie sie ihm im Kindergarten erschien mit ihren Fehlern, allein bleiben musste. Mit niemandem konnte er sich austauschen. Es schienen keine Wörter vorhanden zu sein, die Welt zu erfassen. Nie hörte er ein Gespräch führen, bei dem ausgedrückt wurde, was er sich dachte. Seine Gedanken und Vorstellungen blieben Bilder, die sich nicht fassen ließen. Er war allein mit seiner Weltanschauung.
Das Einzige, was einen Geist des Guten hervorbrachte, waren die Märchen, die ihm erzählt und vorgelesen wurden. Er erkannte: das Wesen der Märchen zeigte jene Welt, wie sie sein sollte. Aber so, wie sie erzählt wurden, waren sie nicht wirklich. Gab es denn nicht irgendwelche Äußerungen von Gedanken, die dieses wahre Wesen, wie es die Märchen in sich hatten, so niederlegten, wie Raimund es in innerer Offenbarung dachte?
In der Schule endlich begegnete er einer Darstellung des Wunsches nach Vollkommenheit. Es war die Paradiesesgeschichte, die von der Lehrerin erzählt wurde, welche aussprach, worüber seine Gedanken schon lange sannen. Die Paradiesesgeschichte bestätigte die Ahnung, die sein Verliebtsein in Vroni begleitete damals im Kindergarten, dass die größte Freude aus der Liebe zu einem Mädchen wird.
Religion wurde zu seinem liebsten Fach in der Grundschule. Denn da wurden die eigentlich wichtigen Fragen behandelt, der gesamte Lebenszusammenhang miteinbezogen. Ansonsten war er enttäuscht von der Schule wegen der dort dargebotenen Nichtigkeiten wie zum Beispiel, dass der Ball rund ist und dergleichen, was im Lesebuch zu lesen war.
Allsonntaglich nahmen ihn die Eltern in die Kirche, denn das Verhältnis zu Gott zog seine Pflicht nach sich. Seit unbestimmtem Dunkel wurzelte das Innere einer Kirche in seinem Bewusstsein. Er war hineingewachsen in eine allsonntagliche Qual: Endloses Stehen, endloses Sitzen, endloses Knien. Und dabei musste man schweigen und aufmerksam sein und durfte nur nach vorne sehen. Unendlich langsam schleppten sich Langwierigkeiten. Göttliche, ewige Langeweile überkam ihn. Ein unerklärlicher Gott musste diesem Geschehen obwalten, das so unendlich langsam nach unergründlichen Gesetzlichkeiten voranschlich. Es war gewaltig, was Gott vermochte, da so viele sich ihm unterordneten und sich alle zusammen, ohne auszuweichen am Ablauf des Gottesdienstes beteiligten. Da zeigte sich die Macht Gottes. So wie Raimund Gott erlebte, war er gewaltig und düster, aber trotzdem der liebe Gott.
„Wer geht gern in die Kirche?“ fragte der Pfarrer im Erstkommunterricht. Die Streber schnellten geradezu blitzartig ihren Finger nach oben und ließen ein eifriges „Ich“ vernehmen, andere zögerten mehr oder weniger, sahen sich um und schließlich hoben alle die Finger. Dann kam die Gegenfrage: „Wer geht nicht gern in die Kirche?“ Da meldete sich Raimund als einziger. Er war voll Angst, was nun kommen würde, da er sich ins Abseits begeben hatte und fürchten musste, getadelt zu werden. Er tat den Mund auf: „Die anderen heben ja nur den Finger, weil sie sich einschmeicheln wollen, um gute Noten zu bekommen”, erklärte er, denn er hoffte, der Pfarrer würde vielleicht dies auch so erkennen.
Etwas Unvorhergesehenes geschah: Der Pfarrer zeigte Mitgefühl und Verständnis für Raimund. Allgemein sprach er von Aufrichtigkeit, davon, dass man sich beim Guten von den anderen nicht beirren lassen dürfe, man solle, ohne den schlechten Einfluss der anderen zu achten, seinen eigenen Weg gehen. Gott wolle klare Stellungnahme, die Lauen speie er aus, und er lohne ein Leben mit klarer Entscheidung für das Gute. Von da an bestand zwischen dem Pfarrer und Raimund eine besondere Vorliebe und Achtung.
Von Gottes Macht, seiner Größe, seiner Gewaltigkeit, fast schon drohend, furchtgebietend, davon sprach der Pfarrer; man musste zu Gott beten, sonst würde er strafen, so fasste Raimund die Darlegungen des Pfarrers auf. Aber Gott würde auch helfen, wenn man ihn darum bitten würde. Immer wieder erzählte der Pfarrer von seinen Missionsabenteuern, als er in einer schwierigen Lage war, Gott um Hilfe bat und erhört wurde. Er gipfelte seine Erzählung immer mit den Worten: „Da hat mir Gott geholfen.“ Es blieb offen auf welche Weise Gott eingegriffen hatte. Raimund hielt ein Wunder für möglich, zumindest hatte der Pfarrer eine besondere Verbindung zu Gott. Raimund war zu einer solchen Gotteserfahrung bereit, er wünschte sie, eiferte ihr nach; auf der anderen Seite aber wollte er von Gottes Gewaltigkeit eher nicht einbenommen sein. Er war im Zwiespalt, denn er musste ja auch Angst vor Gott haben. Ebenso gütig wie Gott sein konnte, so zornig konnte er sein. So war es jedenfalls im Alten Testament, aus dem der Pfarrer einige Geschichten erzählte.
In der Vorbereitung auf die Beichte wurden die verschiedenen möglichen Sünden besprochen. Das sechste Gebot dräute bedenklich. Unmöglich konnte es richtig gemacht werden. Es betraf die Liebe. Raimund glaubte dem Gebot am besten nachkommen zu können, wenn er sich von allen Mädchen fernhielte; zumal er keine Kinder wollte und auch nicht heiraten, schien ihm Enthaltsamkeit, die einzige Möglichkeit zu sein, dem Gebot gerecht zu werden, wie es der Pfarrer auslegte: Man dürfe nicht unkeusch sein, auch nicht in Gedanken.
Das fiel ihm zunächst nicht schwer, weil er sowieso alle Mädchen ablehnte, seit er von Vroni im Kindergarten so enttäuscht worden war. Und er verspürte eh keinen Drang.
Voll Scham wurde er, als der Pfarrer ausdrücklich von der Sündhaftigkeit von Doktorspielen kündete. Raimund hatte sich nämlich bei solchem Spiel von einem Mädchen aus der Nachbarschaft mit einem Stecken in der Hose peinigen lassen; er hatte nichts Besonderes dabei gefunden. Nun aber fühlte er sich in großer Gewissensnot zur Beichte gedrängt. Auch, dass er mit seinen Geschwistern zusammen einmal in der Woche in einer Wanne gebadet worden war, dass er sie dabei nackt gesehen hatte, beklemmte ihn sündhaft.
Diese beengende Auslegung des sechsten Gebotes lockerte und verbezüglichte der Religionslehrer im Gymnasium. Nackte ansehen und sich so zu zeigen bei Gelegenheiten wie Umkleiden sei nicht verwerflich, es komme auf die Gedanken dabei an. Onanieren - Raimund kannte die Selbstbefriedigung noch nicht - sei keine Sünde, weil man ja niemandem schade. Der Lehrer setzte hinzu, dies sei die neuere Auffassung.
Diese Darlegungen machten Raimunds Angstreligion erträglich. Er handhabte die Umsetzung der Religion laxer, mogelte in der Kirche mal eine Kniebeuge weniger, betete etwas oberflächlicher; aber in den Grundzügen hielt er sich an die Auslegung des Pfarrers aus der Grundschule. Es kam ihm nämlich so vor, dass der Lehrer im Gymnasium nur darum die Gebote lockerte, weil sie so streng nicht eingehalten werden könnten; dass aber eigentlich die strenge Lehre gelte. Darum hatte Raimund bei seinem freieren Tun ein schlechtes Gewissen.
Noch konnte er der beengenden Auslegung des sechsten Gebotes nachkommen. Allerdings war da eine Phantasie in Gang, die sich zunächst so angepasst hatte, dass sie von seinem verengten Gewissen geduldet werden konnte. Ihren Ausgang hatte diese Phantasie, als Vronis Darstellungskünste Raimund die Qual-Lust zur Vorstellung brachte, wie es sich anfühle, eine Zahnspange im Mund zu tragen. (Ursprünglich war sein Wille, dies zu meiden.) Raimund hatte nie so ein Ding; aber seine Phantasie malte ihm aus, wie die Spange die Zähne umklammere, wie allmählich sein Leib von einem solchen Zwangsgestell aus Draht zusammengehalten würde, das ihn wie ein Keuschheitsgürtel umschloss, was ihn lustvoll peinigte.
Diese Phantasie stellte sich immer wieder ein, sie verstärkte sich, bis zu jenem Einschnitt in seinem Leben, da er das Onanieren entdeckte. Er hatte zugleich seinen ersten Samenerguss. Es war ein Gefühl das immer schöner wurde, bis es jäh riss und sich ein Zucken einstellte, das die ersten Male leicht schmerzhaft war.
Es war eingetreten, wovon er vom Hören-Sagen schon wusste. Die Kindheit war zu Ende. Deswegen zu heiraten, um diesen Vorgängen einen festen Platz zu geben, das war es nicht wert; das bedachte er in jenen nüchternen Zeiten, wenn die Wollust vorbei war. Lieber wollte er darauf verzichten, als Kinder zu zeugen und dadurch unfrei zu werden. Es musste einen anderen Weg geben als den, den die meisten einschlugen.
Er hob seinen Entschluss auf, sich von allen Mädchen fernzuhalten wegen der Enttäuschung mit Vroni. Er wollte nunmehr zusehen, eine Freundin zu finden, denn nur so konnte er mit jener Kraft glücklich werden. Sich mit Mädchen vergnügen, aber immer dabei die Empfängnis zu vermeiden, waren seine neuen Phantasien des Küssens, Knutschens und Erregens.
Beim Knutschen würde die Jungfräulichkeit keinen Schaden nehmen; Jungfräulichkeit, - warum gab es diesen Begriff, diesen Unwert, mit allem, was damit zusammenhing? In der katholischen Umgebung, deren Geist der Ausgangspunkt in seiner Beziehung zu Mädchen war, da war Jungfräulichkeit ein hohes Heiratsgut, denn nur sogenannte anständige Mädchen, Mädchen erster Klasse würden geheiratet werden. Darum, so dachte Raimund, würden alle Mädchen ihre Jungfräulichkeit bewahren wollen bis in die Ehe. Dazu gab es die bösen Reden der Verachtung von Flittchen, leichten Mädchen oder gar Nutten und Huren. Raimund dachte dazu bei sich, man solle doch froh sein, wenn einem das andere Geschlecht geneigt sei, ohne dass man erst einen Beruf haben müsse zum Heiraten, um Familienvater zu werden und sich mit Kindern abfretten zu müssen. Solch ein freizügiges Mädchen zur Gefährtin zu haben war der berechnenden Jungfräulichkeit vorzuziehen, die nur nach einer Versorgung schielte.
Seine Phantasie malte sich aus, was er mit einem freizügigen Mädchen alles anstellen könnte. Mit ihr in irgendwelchen Ecken herumliegen, die vielen Spielchen, die sie mitmachen würde, und ihr durch und durch Erfasstsein von Lust, welche für sich keine Rechtfertigung verlangte, die niemals genug bekäme.
Dem Gott des Pfarrers in der Grundschule würde dieses Gedankengut nicht gefallen; darum musste Gott beseitigt werden, wenn Raimund frei werden wollte. - Eines Tages griff er in den Bücherschrank seines Vaters und holte Sigmund Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ hervor. (Der damalige Zeitgeist hatte ihn auf Sigmund Freud aufmerksam gemacht.) Raimund schlug das Buch auf und beschloss, nachdem er einen Abschnitt gelesen hatte: Es gibt keinen Gott. Nun war er frei. Die ganzen Schranken und Denkverbote fielen weg. Jetzt hatte er einen Geist, der alles denken würde, der vor nichts zurückschreckte.
Mit angespannten senkrechten Falten zwischen den Brauen grub er sich scharf die Gedankengänge Freuds nach. Fein säuberlich, nichts ging verloren, leitete er Moral und Religion ab. Er baute seinen Geist um; las noch weitere Bücher von Freud und lebte in dessen Gedankengefüge.
Er bedauerte die älteren Leute, die noch nicht die Möglichkeit gehabt hatten, mit Freud von der vorgegebenen Religion und Moral frei zu werden. Sie mussten brav den herkömmlichen Lehren folgen, heiraten und Kinder kriegen. Sie konnten nicht ihren Trieb frei, ohne irgendwelche Bedingungen dabei, genießen.
Obwohl er nicht mehr an Gott glaubte, ging er allsonntäglich mit den Eltern in die Kirche. Er hätte durchsetzen können, zu Hause zu bleiben, aber es reizte ihn, die Messfeier unter Freud´schen Bezügen zu sehen. - Für Raimund war die Komm eine Oblate, die einen gesellschaftlichen Stellenwert in der Kirchengemeinde hatte. Zum Beweis dafür, dass den Frevler, der er in den Augen der Gläubigen war, keine Strafe träfe, ging Raimund jedes Mal zur Komm, denn wenn er schon bei einem Mahl dabei war, dann schickte es sich mitzuessen.
Er baute sich eine eigene geistige Welt auf. Seine Gedankengänge gingen über viele Ecken. Umwege zu denken, sich in etwas oder jemanden hineinzudenken war viel ausfüllender als das Geradlinige, das viel zu kahl und selbstverständlich war. Er kümmerte sich nicht mehr um das Einfache, Offensichtliche, sondern verweilte ganz im Hintergründigen. Er lebte in einem eigenen Bezugsgefüge, bis eines Tages in seinem Bewusstsein Stimmen auftauchten, die unter anderem sagten, er solle das Ganze sehen, er solle durchsteigen, was auch immer sie darunter verstanden, ...kurz: Er erlebte einen Bewusstseinszusammenbruch. Die Folge war, dass er sich lange Zeit nichts mehr vorstellen konnte und dumpf wurde. ...Er fand zu Gott zurück bei seiner Gesundung, je lichter er wurde um so mehr, aber zu jenem Gott, der der Liebe Wirklichkeit gab.


Raimund Fellner
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