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Literaturforum: Begegnungen


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 Thema: Begegnungen
raimund-fellner
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 25.02.2012 um 18:18 Uhr

Begegnungen
Hin und wieder kam es vor, dass ihm jemand aus alter Zeit begegnete. So traf er auf die semmelblonde Bettina am Harras in den Gängen der Untergrundbahn. Ihre Haare waren kürzer. Auf ihre übliche Einleitungsfrage „Wie geht´s?“ eröffnete er ihr sein Unbehagen mit seinem Studium der Betriebswirtschaft, dass er lieber Philosophie studiert hätte, aber damit ja kein Geld zu verdienen sei. Sie hörte sich Raimunds unzufriedene Klage an, wusste aber auch keine Lösung des Problems und ging nicht weiter darauf ein.
Auf Raimunds Frage, was sie denn jetzt mache, sagte sie, sie sei realistischer geworden, sie vermittle für eine Bank Kredite und, obgleich Raimund keinerlei Einrede dagegen gemacht hatte, verteidigte sie sich, dass dies, auch wenn man es nicht glauben möchte, eine gute Sache sei, weil die Leute, an die sie vermittele, die Kredite dringend bräuchten und sinnvoll nutzten. Der Kapitalismus sei also gar nicht so schlecht, wie die Ideologie, die im Schloss in aller Munde war, glauben machen wollte.
Es schmerzte Raimund, dass auch sie, wie so viele andere, sich in die schlechte Realität fügte. Hatte nicht diese ihre Generation einen neuen besseren Entwurf zu einer besseren Wirklichkeit? Die meisten gaben diesen Traum der besseren Wirklichkeit auf und wurden „realistisch“, wie sie sich ausdrückten. Sie nahmen die gegebenen Verhältnisse hin und schickten sich darein, statt sie zu verändern, wie sie es vorgehabt hatten, dienten sie letztendlich dem Mammon, so auch Bettina.
Nach dieser kurzen Begegnung gingen sie wieder auseinander ohne jegliche Absprache auf erneute Begegnung. Sie war ja auch, wie Raimund vorkam, auf dem falschen Weg, lebte in einer Realität, die Raimund äußerst zuwider war, weil in ihr die Freiheit der Erscheinung fehlte. So meinte er, hatten sie nichts gemein, was eine weitere Bekanntschaft oder Freundschaft ermöglicht hätte. Auf der anderen Seite hatte Raimund seinem Studium nach zu schließen, denselben Weg eingeschlagen, obgleich er ihn gar nicht gehen wollte und daran litt.

Eine andere zufällige kurze Begegnung war Hartmut. Ihn traf er in Fürstenried, nicht unweit vom Schloss Fürstenried, dem einstmaligen freien Schülerzentrum. Dieser, einst langhaarig, hatte jetzt kurze Haare, was Raimund wiederum schmerzte, weil ihm dünkte, Harmut habe, wie aus seiner äußeren Erscheinung ersichtlich, auch seine Ideale weggeschnitten.
Raimund machte die gestutzte Haartracht auch sogleich zum Thema. Hartmut meinte darauf, dass das, was im Kopf vorgehe, von den Haaren, auch wenn sie kurz seien, unberührt bliebe. Um besser mit seinen Idealen anzukommen, seien kurze Haare von Vorteil, weil er so nicht auf ein ablehnendes Vorurteil stoße. Und, um seinen Erfolg mit seinen kurzen Haaren, aufzuzeigen, brachte er vor, dass er als Briefträger vorübergehend arbeite. Mit dem Geld, das er sich so verdiene, wolle er sich unter anderem eine Stereoanlage kaufen. Harmut zeigte sich sehr selbstbewusst, mit seinem selbstsicher von sich eingenommenen Grinslächeln.
Raimund war gedrückt ob dieses Vertreters der strahlenden Mehrheit seiner Altersgenossen, die „wussten, wo´s lang geht“ und die darum Erfolg nach weltlichen Maßstäben hatten. Unsicher befangen, da er ja der Minderheit angehörte, machte er vorsichtig seine Einwendungen in seiner Minderheitsmeinung: Wahrer guter Geist sei wohl auch nach außen ersichtlich und gestutztes Äußeres verursache auch ein gestutztes Inneres. Wie solle sich die gute Sache der langen Haare durchsetzen, wenn niemand sie nach außen vertrete? Zu Harmuts Arbeit meinte er, dass, wenn jemand gar keine Konsumgüter wolle, brauche er dafür auch kein Geld und dann müsse er nicht arbeiten. Ihm persönlich genüge sein altes Monoradiogerät und sein alter Kassettenrecorder. Platten kaufe er sich sowieso keine. Er halte fest am alten Ideal des Nonkonsumismus. Darum genüge ihm das Geld, das er von seinen Eltern bekomme und er müsse darüber hinaus nicht arbeiten.
Auf seine Einwendung gegen die Arbeit entgegnete Hartmut, er wolle nicht immer von seinen Eltern abhängig sein. Dagegen musste Raimund kleinlaut verstummen. Geschlagen und bedrückt, zog er davon. Auch mit Hartmut wurde kein weiterer Treff vereinbart, denn auch mit diesem, der den Weg derer ging, die „wussten wo´s lang geht“, hatte er nichts gemein.
Raimund dachte sich, die Welt würde wohl jenen Gestutzten recht geben, weil diese das Geld als ganz offensichtlichen Erfolg hatten. Denn Erfolg wurde vor der Welt immer in Geld gemessen. Geld haben und erfolgreich zu Geld gelangen, war vor der Welt das stärkste Argument, dass sie recht hatte mit dem, wie sie lebte. Was sollte er dagegen als Argument für seine Lebensentscheidung aufweisen? Da hatte er nichts Aufsehenerregendes, nichts, das die Welt beeindruckte. Da hatte er vage nur Gott, von dem er noch kaum etwas wusste. Aber Gott hielt sich zurück und ließ die Welt machen. Auch mit dem Argument, dass er so, wie er lebte, glücklich sei, konnte er nicht aufwarten, so traurig, gedrückt und schwermütig, wie er war. Die anderen, die den faulen Weg gingen, sich anbiederten und anpassten, wie Hartmut und Bettina waren die selbstsicher Glücklichen; er hingegen war ein unsicher gedrückter Elender. Nur das Gewissen, dieser innere Sinn für das Richtige und Gute, hielt ihn auf diesem einsamen traurigen Weg der Minderheit. Er hatte nichts zum Triumphieren. Das hatten die anderen mit ihrem Ansehen auf Grund des Geldes und dem, was sie dafür kaufen konnten. Er hatte nur die einsame unglückliche Freiheit gegenüber diesen Knechten des Mammons.

Ein weiteres Begebnis dieser Art war die Begegnung mit Brixe am Harras; er kannte sie vom Schloss her. Gerade sank er mit der Rolltreppe hinunter, sie fuhr hinauf. Über die dazwischengelegene Fußtreppe hinweg grüßte sie ihn ganz fröhlich beschwingt winkend. Er grüßte mit jähem Weh zurück, denn Ihre schönen langen blonden Haare waren geschnitten zu einer hennarot gefärbten fransigen Kurzhaarfrisur. Ein älterer Mann machte zu Raimund die Bemerkung: „Da grüßt dich eine Rothaarige. Die haben es in sich. Da hast du Glück.“ Raimund gab darauf nur ein bedrückt gestimmtes undeutliches „Ja, ja.“ zurück mit dem unausgesprochenen Gedanken: Was weißt du schon, wie sich´s wirklich verhält. Denn für oberflächlich Gesinnte, die auf Sexualschemata abfuhren, mochte Brixe anscheinend die Sinne weckend attraktiv sein. Für Raimund allerdings bedeutete die künstlich gefärbte Kurzhaarfrisur ein Wegwerfen von ungestutzter freier Erscheinung, eine Amputation von Ideal und Schönheit. Auch Brixe ging den Weg der meisten Frauen, deren Haare mit zunehmendem Alter immer kürzer werden.
An sich hätte ihm ja Brixe gleichgültig sein können. Er war ja schon seit langem nicht mehr in sie verliebt. Was ihn aber an ihrer gestutzten künstlichen Erscheinung schmerzte, war die sogleich aufsteigende Besinnung auf Bea. Würde auch Bea diesen bequemen faulen Weg des Haarestutzens gehen und ihre freie Erscheinung aufgeben? Er bangte. Hoffentlich nicht! Hoffentlich blieb sie sich und damit Raimund treu. So wie er mit seiner freien Erscheinung der langen Haare Bea treu war.

Ein weiteres exemplarisches Begebnis des gleichen Themas war eine Begegnung in einer alten Hippie-Kneipe unweit der Stiftungsfachhochschule in Haidhausen. Er kam ins Gespräch mit einem Gleichaltrigen. Den Kurzhaarigen fragte er, ob dieser früher lange Haare gehabt habe. Was sein Gesprächspartner bejahte. Und Raimund bohrte nach, warum er die Haare denn geschnitten habe? Der andere meinte, um Vorurteilen zu entgehen, habe er die Haare gekürzt. Allerdings bliebe davon unberührt, was in seinem Kopf vorgehe, ja er meine sogar, mit kurzen Haaren könne er seine Ideale viel besser verbreiten, weil er so besser ankäme.
Diese Feigheit davor, nach außen in freier Erscheinung aufzutreten, schmerzte Raimund wiederum, der sich in seinem freiheitlichen Anliegen abermals verlassen fühlte. Obwohl er sich in der schwächeren Position der Minderheit fühlte, äußerte er sich frei heraus diesem Beispiel vielauftretender Feigheit in jener Zeit der beginnenden 1980er gegenüber mit aller Gefühlsbewegung seines einsamen Anliegens. Wenn niemand lange Haare hätte und dafür einträte, wie könnten lange Haare dann jemals allgemein ohne jeglichen Nachteil akzeptiert werden? Ein freiheitliches Inneres an Geist und Gemüt ist immer nach außen sichtbar. Gestutzte Erscheinung zieht immer gestutzte Gedanken und unfreien Geist nach sich und ist der Ausdruck feiger Kriecherei und opportunistischen Verhaltens. Raimund schonte in seiner vorwurfsvollen Rede sein Gegenüber in keiner Weise, so dass dieser sich beleidigt fühlte und Raimund umgekehrt Vorurteile vorwarf.
Das Gespräch nahm einen unversöhnlichen unguten Verlauf. Raimund fühlte sich in der Minderheit und von daher als der Schwächere, weil dem anderen taten sich alle Wege auf mit seiner Normfrisur. Raimund hingegen würde zusehen müssen, wie er einmal seinen Lebensunterhalt mit seinen langen Haaren bestreiten sollte. Da lag es nahe, klein bei zu geben. Es war verständlich, dass die Mehrheit diesen müheloseren feigen Weg ging, um anzukommen. Jedenfalls war auch mit diesem Mitmenschen kein Freund gewonnen. Raimund würde einsam bleiben, der einsame Kämpfer für die Freiheit der Erscheinung.


Raimund Fellner
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