michy
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 20.08.2010 um 14:55 Uhr |
Er hat gerade sein Buch aufgeschlagen, angefangen zu lesen, als der Zug in den Bahnhof Wedding einfährt, dort ein Mann mit Rottweiler einsteigt, den der an kurzer Leine führt, der sich trotzdem - wie im Vorübergehen - das Buch von Felix schnappt, wütend reinbeißt, knurrt, es schüttelt und spielerisch in die Luft wirft.
„Ein belesenes Tier“, lästert Felix sarkastisch, und hebt das sichtlich vollgespeichelte Buch vom Boden auf.
„Den musste erst mal erleben, wenn der Alk getrunken hat!“, johlt der Mann, „haste was, oder soll ich ihn mal auf dich hetzen ...?
Dreiundzwanzig Takte Anton Dvorak 9. Sinfonie, einem einzigen Seufzer seiner gequälten Seele gleich. Dann strahlend das Englische Horn in Allegro con fuoco. Das ist es. Das hält ihn. Das erleichtert die Qual seiner Entscheidung.
„Wenn der Köter mich auch nur berührt, schieße ich ihm den Kopf ab. Und deinen gleich mit!“, droht Felix dem Mann, und lässt zur Bekräftigung seiner Worte die Waffe sehen.
„... und, hast du das nun auch verstanden?“
„Ja, habe ich ...“
„Gut!, dann putz das Buch blitz-blank sauber und dann sind wir quitt.“
„Wie denn - putzen?“
„Das ist mir egal. Mach es einfach sauber, Mann!“
„Ist ja schon gut!“ Und damit ist für Minuten Ruhe.
„So - und nun verschwinde. Und komm mir nie wieder unter die Augen!“, rät Felix dem Typen, als der Zug im Bahnhof Gesundbrunnen hält.
Dann hat er Kopf- und Bauchschmerzen, fühlt nichts mehr. Weder Freude noch Trauer. Sonst was. Aber es ist längst nicht so schlimm wie beim allerersten Mal. Und doch. Es bleibt - was es ist - eine psychische Störung. Seine Depression. Ähnlich die seiner Mutter, die wegen ihrer zig Tiefs schon knapp ein Dutzend mal stationär aufgenommen worden ist, weil sie ab und an zu Hause nicht mehr zurechtkommt - ohne ihren Mann, seinen Vater - und dann akut Suizidgefahr besteht.
Es ist erblich, wie der Charakter, ist Felix sicher. Auch die Albträume. Die Unruhe. Das Chaos der Stadt. Das ganze abartige Treiben in multikultureller Mischung. Die Nazis. Und die Gewaltbereitschaft überall. Wie ein- und ausfahrende U-Bahn-Züge ist die Gewalt nun auch in ihm, hervorgerufen durch seine Behinderung. Und Aspirin hilft dagegen gar nicht. Im Gegenteil, es steigert ihm alles ins Pirouettenhafte. Wie seine Schlaflosigkeit. Die Zuneigung zu Aische, die er Liebe nennt, die aber mit einem Schatten behaftet ist: Hassan.
Aische, Hassan. Namen, die davongetragen werden im Rattern der S-Bahn auf den hundertjährigen Schienen, dem Sog der sogenannten pulsierenden Stadt, als er einschläft, den Leinenbeutel mit einer Hand festhält, die andere Hand darin ruhen lässt - mit Finger an Griffschale und Abzug. Immer bereit. Allzeit bereit. Pionier gegen die Gewalt, mit der Lizenz auf Ausübung von Gewalt. Ein körperlich Behinderter 007 mit behindertem Denken im bam, ba - da - bam, bam - bam eines schroffen Blues Shuffle von Bo Diddley im Berliner S-Bahn Ring gefangen.
„Fick dich ins Knie, Alter!“ von einer Stimme, direkt in sein linkes Ohr hinein, wird er wach. Sieht neben sich eine Frau, die vom Alter her seine Mutter sein könnte, sonst nichts, - diese Schlampe...
„Für’n Heiermann blas ich dir einen“, geht das Angebot weiter.
„Lass mal“, sagt er, „ich will nicht!“
„Bin dir nicht gut genug, Junge, was?“
„Doch - doch, du bist schon in Ordnung ...“
„Wo dran hapert es denn?“
„Ich will nicht!“
„Dann mach’s dir selber, du Wichser!“
„Danke für den Tipp.“
Und er weiß, zumindest ahnt er, wo und was die Musik wirklich spielt. Wie das Leben ist. Nämlich Wahrheit. Ohne echten Anfang, - ohne wirkliches Ende. Immer volle Pulle Gegenwart, immer dabei sein. Alles andere bleibt offen. Und jetzt die Reise in seine Seele. Sehnsucht nach ihrem Gesicht, nach ihrer Nähe: Aische. Die sein Denken bestimmt, aber nicht sein Handeln. Noch nicht. Denn er sitzt in der alten Sperrholzkiste S-Bahn und fährt durch den ehemaligen Osten, dessen Himmelslicht kühl und eigentümlich unberührt scheint, wie der runde Mond mit grauem Halbschleier darum.
Aus dem S-Bahnfenster blickt er auf Mauern, die noch im Augenblick reglos stehen, bunt sind, Fenster haben - dunkel wie Augenhöhlen eines Sterbenden. Aus denen Plakate hängen mit einer Faust darauf und Sprüchen. Wo niemand vor Angst schreit, als plötzlich schrill ein Horn tönt, obwohl alle wissen, was passiert. Und dann die Mauern, die diese Häuser halten, mit grässlichem Ton explodieren. Das gesamte Gebäude wie von einem Riese Faust getroffen nach hinten fällt, in einer grau-weißen Wolke liegen bleibt. Er sieht einen Menschen, der aus dem Staub taumelt, in diesem irren Moment, in Wirklichkeit, in diesem bös beschissenen Traum für Arme, der Reiche reicher macht und alle anderen nicht. Mit diesem Brandgeruch in der Luft, dem Gestank von verschmortem Menschenfleisch, den Sirenen von Polizei und Feuerwehr - und dem Gefühl, wie leicht es ist, aus Hausbesetzern Obdachlose zu machen, gar Tote zu produzieren.
August 2010 Michael Köhn
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