Der Square Gilbert Thomain lag auf halbem Wege zwischen dem Bahnhof Bécon-les-Bruyères und der Rue Balzac, in der Gilberte wohnte. Morgens war er immer noch geschlossen, denn sie begab sich sehr früh zu ihren Pflegepersonen. Am Nachmittag jedoch - auf dem Rückweg - durchquerte sie mit umso wacheren Augen diese, ihr schon allein namentlich nahestehende Anlage.
Mehrmals war ihr in der letzten Zeit eine junge Frau, oder eher noch deren selbstgestrickter halblanger Kapuzenmantel, in den sie sich zu verkriechen schien, aufgefallen. Ein kleiner hellblonder Junge, der wohl zu ihr gehörte, lief zögernd ein bisschen umher, so als sei ihm das alles ganz und gar nicht geheuer.
Ihr gab dieser Anblick jedes Mal einen Stich. So hätte das Kind von Werner aussehen können ...
Doch noch im gleichen Jahr, 1943, hatte sie den alternden Monsieur Bourrèsche geehelicht; diesem eine Tochter zur Welt gebracht, in den darauffolgenden dreißig Jahren den Ehemann alsbald wieder verloren und von der Tochter nichts als Ablehnung geerntet.
Seit diese selbst Mann und Kind hatte, versperrte sie ihr mit allen erdenklichen Mitteln den Zugang, dabei nicht abgehend von der immer wieder vorgebrachten Behauptung, dass sie ja vollkommen verrückt sei und in eine Anstalt gehöre.
In diese Gedankenkette hinein drang ein Ruf, der von diesem Kind kommen musste. »Mami, Mami!«, rief es mit dünner, ängstlicher Stimme. Aber wieso denn »Mami«? Die Frau da konnte doch nie im Leben schon Oma sein.
Und dann kam es - wie von weit, weit her. Die Deutschen, die sagen das anstelle von »maman«. Also mussten das Deutsche sein.
Verdammt nochmal - das ist doch irgendwie verrückt, und ich bin wohl immer noch verrückt nach Werner.
Ganz wie von selbst und etwas lauter in deren Richtung gesprochen kam die Frage. Vous-êtes du quartier? Ob sie hier aus der Gegend sei? Und umgehend kam zurück. Oui, on habite là-bas! Dass sie gleich da drüben wohnten!.
Mais vous n´êtes pas d´ici, non? Dass sie wohl aber nicht von hier sei, folgte gleich darauf. Und auf die Bestätigung dessen dann weiter. Mais d´oû venez-vous? Quand même pas de l´Allemagne? Woher sie denn komme? Doch nicht etwa aus Deutschland?
Si, si, mais de l´Allemagne de l´Est! Aus Deutschland schon, aber aus Ostdeutschland.
Aha, daher die Eigenheiten. Das Kind um diese Zeit nicht in der Schule! Das war aber völlig bedeutungslos im Moment. Da war jemand, der Werners Sprache verstand, dem sie die Briefe von damals zeigen konnte, der ihr vielleicht genauer sagte, was darin stand, wie es gemeint war.
Zwei Stunden später stand sie damit vor der Wohnungstür im fünften Stock. Eine sehr knapp bemessene Puppenstube unterm Dach und ein größeres Mädchen empfingen sie. Der Tisch war schon gedeckt mit diesen deutschen Kaffeetassen. Nicht einmal der Streuselkuchen fehlte.
Nahtlos reihten sich in dieses Stimmungsbild die Briefe ein, und alsbald stellte sich heraus, dass darin nichts Verletzendes stand. Es hatte immer nur so scheinen wollen. Und selbst wenn sie dem alliierten Geheimdienst ein bisschen zuviel erzählt hatte - das konnte sich jetzt auch nicht mehr dazwischendrängen.
Sich erhebend, zum Gehen anschickend und sich vielmals bedankend, hatte sie den Eindruck, dass die Sache nun endlich erledigt sei, sie alles auf sich beruhen lassen könne.
Wenn nicht, just in dem Moment, der »Papi« nach Hause gekommen wäre. Fassungslos stand sie vor dem hochgewachsenen, blonden Mann, der sie freundlich, aber ohne besondere Aufmerksamkeit begrüßte.
- Als wäre Werner nach Hause gekommen, zu mir nach Hause ... -
Und als sie ihre Wohnung betrat, schien diese plötzlich ein Teil dieses Universums geworden zu sein.
- Was könnte ich ihm und den Kindern vorsetzen? Kalbsleber, Filetsteak, Grüne Bohnen, nur das Allerfeinste, so wie ich es ja auch gewohnt bin. Dagegen kommt die junge Frau, die bestimmt ganz einfach kocht, schon mal nicht an. -
-Dem Mädchen werden sogar ein paar Sachen von mir passen. Und wenn ich bedenke, wie exquisit die sind ... -
-Diese Personen wirken doch ein bisschen wie aus dem Nest gefallen - ich werde mich um sie kümmern müssen. -
-Und dann mache ich Werner ausfindig. Rufe ihn an. Wer weiß! -
Werner, der wusste wohl mehr. Er meinte bloß, dass sie ja immer noch nicht deutsch könne. Tant pis! Was soll´s! Da war ja noch der andere junge Mann - der sprach beide Sprachen, der holte die Kinder ab, die in der ersten Zeit dreimal in der Woche eingeladen wurden. Der brachte ihr , wenn sie wieder einmal ganz zerstreut die Brille hatte liegen lassen, diese auch noch am späten Abend nach.
Doch weiter ging er nicht auf sie ein. Stur - eben auch ein sturer Boche. Na, das kannte sie ja zur Genüge.
Aber auch die junge Frau legte sich an so manchem Feiertag ins Zeug und tischte auf für fünf oder auch mal sechs - ein vorsichtig ausbalanciertes Schweben über so manchem Abgrund.
Und dann kam nach zwei Jahren endlich der Tag, an dem diese ihr anvertraute, dass sie sich in jemanden verliebt habe. Es sei nicht das Übliche, aber umso unwiderstehlicher. Sie wisse gar nicht, wie sie damit umzugehen habe.
Ihr, ausgerechnet ihr erzählte sie das! Die hatte wohl noch nicht mitgekriegt, was für eine Freundin sie an ihr hatte? Na, ega! Je schneller und tiefer sie sich dahinein verstrickte - umso besser. Umso besser!
Als zwei weitere Jahre so recht und schlecht vergangen waren, und diese unverzeihlich gutgläubige junge Frau sowieso schon nicht mehr zu retten war, und so, als habe sie noch nicht genug an Madame Bourrèsche, drängte sie ihren eher zurückhaltend reagierenden Mann dazu, seine Mutter doch einzuladen, damit man ihr etwas beistehen könne nach dem ganz plötzlichen Tod ihres Lebensgefährten - wohl wissend, dass diese ihr nie gut gesinnt gewesen war.
So verfiel die auch gar nicht erst auf die Bezeichnung »junge Frau«. Sie fand die Frau einfach nur völlig verbraucht - sie hatte ausgedient. Und als dagegen aufbegehrt wurde, und zwar so, dass die Worte nicht ungehört verhallen konnten, wurde es bloß noch als verrückt hingestellt, als gefährlich, kommend von einer, die lieber heute als morgen in eine Anstalt solle und vor der man am besten die Kinder wegschließe.
Was sollte der Mann dazu groß sagen? Dieser Frau gegenüber war das unmöglich, war es immer unmöglich gewesen. Als sie ihn dann aufforderte, ihr nun den Arm zu reichen, damit ein kleiner Spaziergang gemacht werden könne, schien dem Paroxysmus schon nichts mehr hinzugefügt werden zu können.
Doch wie konnte es auch anders sein. Auch Madame Bourrèsche hatte ihre Schritte in diese Straße gelenkt und plötzlich stand man sich unvermittelt gegenüber. Und nachdem die Höflichkeitsformeln abgehandelt worden waren, ging es zur Sache.
Ganz wie von selbst, und etwas lauter gesprochen, bahnte sich alles seinen Weg. Es sprudelte nur so heraus, ganz wie es wollte.
Und nun stellt sich auch die Erregung ein, man weiß nicht mal mehr, was man alles von sich gibt - im Halbdunkel der sich niedersenkenden Nacht, beleuchtet vom angehenden Licht der Schaufenster, zeitweilig grell angeleuchtet vom Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Wagens, umspült vom Strom der Passanten.
Und doch kein Zweifel, dass jedes Wort den Weg in offene Ohren geht.
Und wie von ganz weit herkommend enfalteten sich die Worte derjenigen, die von der in dieser Straße gesprochenen Sprache kaum eine Ahnung hatte. Da waren sie wieder - diese Laute! So hatte das damals geklungen!
Und doch war da noch jemand, der jedes Wort übersetzte, der kein Missverständnis aufkommen ließ, der rührenden Aufmerksamkeit seiner Mutter nichts abstrich.
Und plötzlich wusste sie - elle était là son attention exclusive - da war sie, seine Aufmerksamkeit - die uneingeschränkte.
Hatte sie sich jemals mehr mit jemand eins gefühlt!