Matze
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Eröffnungsbeitrag |
Abgeschickt am: 11.12.2009 um 06:41 Uhr |
Von einem Essayisten erwartet man ebenso wie vom Scharfrichter, daß er sich ständig entschuldigt. Dieser muß Abbitte leisten, weil er zu tödlich ist, jener, weil er nicht tödlich genug ist. Dem Essay hängt der Ruf an, zu klein und zu nebensächlich, eine seltsame, irgendwie veraltete Form des Journalismus zu sein. Zwar ist der Essay kein langer Roman, auch keine wissenschaftliche Abhandlung, im Idealfall aber verbindet er die Qualitäten der Gattungen. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.
Falls ich richtig gezählt habe, sind bei der Gattung „Essay“ drei Haupttypen auszumachen, alle gleichermaßen in jener Tradition, die Michel de Montaigne einstmals begründete. Zum einen eine Mischung aus Rezension und Reportage, dann den Essay über entlegene Dinge, und zu guter Letzt nennt den Erinnerungsessay. Der Essay ist eine Form, die in der deutschen Literaturgeschichte nicht viele Gewährsleute hat. Adorno und Hans Magnus Enzensberger beklagten sich darüber schon in ihren literaturkritischen Essays, die sie zu den wenigen deutschsprachigen Vertretern dieser Gattung machten. Immer wieder haben hier einzelne Autoren Essays geschrieben, wie Thomas Mann, doch eine dichte Tradition wie im angelsächsischen Raum gibt es nicht. Was Essays die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen man das Material unterwirft. Wir haben nicht viel Übung mit dieser Art des Schreibens, die weder Fisch noch Fleisch ist. Der Verlag weiß nicht, ob er den Essay in der Sachbuch– oder Belletristik–Vorschau ankündigt, der Buchhändler weiß nicht, in welches Regal er ihn stellt; und die Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer geistigen Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem essayistischen Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber offenbar doch etwas Exemplarisches meint. Es gilt die metaphorischen Stecknadeln im www zu finden.
Mein liebster „Schrottplatz“ ist www.vordenker.de. Dort findet sich das von mir lektorierte Projekt Kollegengespräche. Als Rollstuhlfahrer habe ich das Glück, in A.J. Weigoni einen Betreuer zu haben, der mich fordert. Da Weigoni die "Drecksarbeit" für mich erledigt, unterstütze ich ihn als Lektor. Ich beneide Menschen, die waidgerecht eine Metapher ausnehmen, eine Figur in einem Satz festnageln, sich an Geopolitik oder Neurochemie wagen können, ohne daß ihnen dabei der Schweiß auf der Stirn steht. Ich beneide sie um das Gefühl für die Richtigkeit ihres Tuns.
Wenn ich beobachte, wie sich jemand bückt, um einem anderen zu helfen, glaube ich, daß er die Arbeit aller tut, den menschlichen Job. Ich bewundere diese Menschen, aber ich beneide sie nicht. Nicht zuletzt Paul Celan hat auf die etymologische Verwandtschaft von Denken und Danken hingewiesen.
Mit Schriftstellern ein Interview zu führen, ist schwierig. A.J. Weigoni ist überzeugt davon, daß ein Gespräch zwischen Menschen, die sich nicht kennen, unmöglich ist, Menschen die ein Gespräch führen wollen, sind verdächtig. Weigonis launige Unterhaltungen mit Journalisten sollten nicht als Kommunikation verstanden werden, sondern als Verweigerungskunst und virtuose Rollenprosa. Deshalb hat sieht Weigoni im Projekt »Kollegengespräche« eine eigenständige literarische Form, die sich auch als Inszenierung oder Ritual beschreiben läßt. Er hielt dem jeweiligen Partner nicht einfach ein Mikrofon entgegen, er brachte vor allem seine eigenen Erfahrungen mit ein. Ausgangspunkt der Kollegengespräche war die Rezeption von Literatur im neuen Deutschland. Mit seinen Gesprächspartnern stimmte Weigoni weitestgehend darin überein, daß man Literatur nicht nur den "Fachleuten" überlassen sollte. Der Begriff ‘Immunität’ hat unsere Weltanschauung, das Selbst– und Weltbild des modernen Menschen, nachhaltig geprägt. Sprache ist demzufolge ein Virus, das sich – von Mund zu Mund, von Buch zu Buch, von Website zu Website – schneller vermehrt, als die Diskurspolizei erlaubt. Das scheint ganz besonders für die Sprache der Infektion selbst zu gelten, von der Semantik der Ansteckung. Dies geschieht umso leichter, wenn die fraglichen Wörter ihrerseits bereits mit Bildern infiziert sind, die ursprünglich nicht der wissenschaftlichen Sphäre entstammen, sondern der poetischen. Kann es eine Sprache zwischen Buchdeckeln geben, die den Lesern nicht auf die Nerven geht?
Für diese Form von Gesprächen nahmen sich die Schriftsteller Zeit. Viel Zeit. Oft mehrere Monate. Mit einem etwas veralteten Medium – dem Briefeschreiben – stellten sie sich Fragen, die auch eine breitere Öffentlichkeit interessierte. Im Laufe der Zeit ergab das allmählich die Form einer journalistischen Gattung, des Interviews, bei dem im günstigsten Fall zwei Insider über das reden, von dem sie mehr verstehen als "Literatur–Wissenschaftler".
Deutschsprachige Literatur als demoskopisches Küchenstück?
In den Gesprächen mit den AutorInnen: Karlheinz Barwasser / Holger Benkel / Patricia Brooks / Barbara Ester / Klas Ewert Everwyn / GRAF–X / Wolfgang Kammer / Bruno Kartheuser / Axel Kutsch / Jens Neumann / Ulrich Peters / André Ronca / Ioona Rauschan / Dieter Scherr / Robert Stauffer / Angelika Voigt / Dieter Walter / Eva Weissweiler können wir einen Blick in die Arbeitszimmer der Schriftsteller der 1990–er Jahre tun. Wir erfahren viel über ihre Arbeit an Lyrik, Prosa, Drama und über Arbeitstechniken im Studio, auf der Bühne oder im Internet. Und das nicht über "Literatur–Wissenschaftler", sondern aus erster Hand. Die Verflechtungen von Poesie, Kunsttheorie, persönlicher Biographie und politischen Ereignissen, von Leben, Film und Literatur, von Querverweisen zwischen Literatur und Kunst und von Bezugslinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und schließlich sogar der Zukunft machen die „Kollegengespräche“ zu einer komplexen Lektüre. Die Unmittelbarkeit und Dringlichkeit des Schreibens aber wiegen die Beschwernis der labyrinthischen Gedankenwege, die lesend nachvollzogen werden müssen, wieder auf. Ich bin entschieden der Auffassung, daß die Literatur eine Dimension beiträgt, die für die Gesellschaft völlig unverzichtbar ist. Literatur ist nicht nur Dekor des Lebens, das neue Gesellschaftsmodell benötigt neue Literaturformen. Über Verfremdungen drückt Literatur die Befindlichkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen aus. In Zeiten tiefgreifender Veränderungen verschwimmen deshalb auch die Grenzen zwischen den so genannten Literaturproduzenten und dem so genannten Publikum.
Als Nachwort für dieses Projekt gelten die »Verweisungszeichen zur Poesie«. Dieser hat Peter Valentin so zugesagt, daß er ihn – wie auch die beiden anderen Essays, in seiner Literaturzeitschrift Eremitage veröffentlicht hat. „Um eine Existenzberechtigung zu besitzen, muß die Kritik parteiisch, leidenschaftlich und politisch sein“, schrieb Charles Baudelaire 1846. Wer sich hingegen im Unverbindlichen verschanzt, befördert die Literatur ins Niemandsland der Beliebigkeit. Dieses Verständnis von Literatur entstammt dem 19. Jahrhundert, als man an das höhere Wesen des Schriftstellers glaubte. Das 20. Jahrhundert hat die Leser dazu aufgefordert, in ein persönliches Verhältnis zur Literatur einzutreten. Den meisten Menschen des 21. Jahrhunderts ist bewußt, daß Literatur nicht unbedingt die Realität aufscheinen lassen muß. Und ebenso vertraut ist es ihnen, daß auch die elektronischen Medien nur eine Version von Wahrheit verbreiten: alle Erkenntnis ist vom Standpunkt des Erkennenden bestimmt. Poesie ist aktuelle und akute Gegenwart, nicht im journalistischen Sinne, sondern in ihrem Streben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Bewußtsein zusammenzuführen. Gerade weil sich die Leser selbst eine Wahrheit zutrauen, sind sie an Entschiedenheit interessiert.
Wir leben, wenn man den gängigen Theorien glauben darf, in der Wissensgesellschaft. Was ist eigentlich Wissen? Unter dem Titel „Über die Schulmeisterei“ kann man bei Michel de Montaigne folgendes lesen: „Ich kenne einen, der, so oft ich ihn frage, ob er dies oder jenes weiß, ein Buch von mir verlangt, um es mir darin zu zeigen, und sich nicht getrauen würde, mir zu sagen, er habe die Krätze am Hintern, ohne auf der Stelle im Lexikon nachzuschlagen, was Krätze ist und was Hintern.“ Um zu verdeutlichen, was er sagen will, fügt Montaigne erläuternd hinzu: „Wir nehmen die Gedanken und das Wissen anderer in Obhut, und das ist alles. – Wir müssen sie uns aber zu eigen machen.“ Diese Montaignesche Unterscheidung erscheint mir wegweisend: der Gegensatz zwischen totem Buchwissen und einer lebendigen, neue Informationen, Methoden und Perspektiven ins eigene Selbst– und Weltverstehen integrierenden Intelligenz. Was Wissen erst wirklich vital macht ist die Fähigkeit, selbständig mit ihm umzugehen. Vertiefendes findet sich in Weigonis Essay »Produktorientiertes medienpädagogisches Arbeiten
mit Jugendlichen«, in dem er die literaturpädagogische Arbeit beschreibt.
Welche labyrinthischen Gedankengänge bei diesem Auswahl– und Transformationsprozess durchlaufen werden, wie schnell ein brauchbarer Gedanke zu Abfall und Nebensächliches fruchttragend werden kann, beschrieb Weigoni in seinen Reflexionen über das Gedichte-Schreiben: »VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie«. Seine Gedichte haben als Experimentierfeld des Geistes eine analytische Genauigkeit, die man sonst eher in Essays findet; diese Poesie ist ein Akt des Denkens. Seine Verse sind Denkbilder, die sich dem vorschnellen Zugriff entziehen. Es ist diese leichthändige Souveränität, die Freude am Gedankenspiel, die dem Hörer Vergnügen bereitet; ein gelungener Beweis dafür, daß Denken Spaß machen kann. Philosophie und Poesie treten in eine fruchtbare Konstellation, wenn die eine nicht versucht auszusprechen, was die andere ohnehin sagt. Dieses Schreiben ist ein vom Körper nicht ablösbarer Akt, in dem der Schreibende mit der weißen Fläche des Papiers und den darauf gesetzten Zeichen eins wird. Die Schrift: nicht eigentlich Ausfluss, sondern selbst Glied, nicht eigentlich nur Spur, sondern spürbar Teil des Körpers, nicht eigentlich niedergelegt, sondern immer noch in Beziehung zum Körper als stets wachsender generativer Faden, den der Schreibende sein Leben lang hervor spinnt. Sein eigenes offenes Ende.
Links:
Kollegengespräche: http://www.vordenker.de/kollegen/kollegen.htm
Verweisungszeichen: http://www.vordenker.de/kollegen/geteilt.htm
Literaturpädagogik: http://www.vordenker.de/weigoni/mpaed.htm
VerDichtung: http://www.vordenker.de/weigoni/verdichtung.htm
Eine Werkschau von Weigonis Hörspielen findet sich unter: http://www.hoerspielprojekt.de/MetaPhone/
Die Aufnahmen sind in HiFi-Stereo-Qualität erhältlich über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de
Außerdem erschienen: »Vignetten«, Novelle von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2009 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover
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