DENNOCH
Ida Cermak, Ich klage nicht
(Diogenes Verlag, Zürich 2006) 336 S., € 11,90
„Wenn ich nicht schreibe, werde ich krank“ - diese Aussage von Paul Nizon müßte geradezu zynisch klingen, wenn man sich mit einem Buch konfrontiert sieht, in dem die Wehwehchen und Krankheiten etlicher Schriftsteller und Intellektueller dargestellt werden: ‚Begegnungen mit der Krankheit in Selbstzeugnissen schöpferischer Menschen’ (Untertitel). Cermak möchte v.a. herausfinden, welche Zusammenhänge zwischen der Krankheit und dem jeweiligen Weltbild der Betroffenen bestanden. Verglichen wird auch die jeweilige subjektive Einschätzung der Krankheit mit dem objektiven ärztlichen Befund. Da nach Kierkegaard das Leben ohnehin eine „Krankheit zum Tode“ ist, bleiben die Varianten der Akzeptanz oder der Verleugnung bzw. Gegenwehr interessant bis brisant.
Von den zahlreichen Betroffenen hat wohl Heinrich Heine sein Rückenmarkleiden in seiner „Matratzengruft“ mit am intensivsten empfunden. Er nennt sich eine „arme, unbegrabene Leiche“ - er haßt sein Leiden. Christian Morgenstern entwickelte zu seiner ererbten Lungentuberkulose ein quasi sachliches Verhältnis, er empfand sie als „nebensächlich“. So wie etwa auch Jaspers oder Goethe sieht er seinen Geist vom körperlichen Leiden unbeeinflußt und schreibt und lebt hartnäckig weiter. Morgenstern schwingt sich sogar zu der These auf: „Kein wahrhaft freier Mensch kann krank sein“ - er wehrt sich dagegen, der „Sklave seiner Krankheit“ zu werden - er lebt ein konsequentes Dennoch. Freud hat einmal über seinen Verzicht auf Schmerzmittel zu Stefan Zweig gesagt: „Ich ziehe es vor, bei Qualen klar zu denken und lieber zu leiden“ - so duldete er in klagloser Resignation.
Ein besonderes Kapitel ist den Autoren Proust, Rilke, Wolfe, Keats, Gide und Dauthenday gewidmet, die von Kindheit bzw. von Jugend an durch ihre Krankheit auf den Tod hinorientiert waren. Dem äußeren geht sozusagen ein inneres Absterben voraus - der Betroffenen hat ein verändertes Zeiterleben: im Zeitraffer oder in Zeitlupe. Prousts assoziatives Schreiben resultiert wohl aus seinem Sammeln von Erinnerungen, da er meint, sein schweres Bronchialasthma werde ihn nicht lange leben lassen. Rilke versuchte aufgrund seiner Leukämie seinen Körper zu schonen, für ihn gehören Schmerz und Freude untrennbar zusammen, wobei er durchaus nach dem tieferen Sinn seiner Krankheit fragte. Konsequenter im Diagnosebereich der Anorexie wünschen sich Gide, Lawrence oder Turgenieff ihren tod herbei.
Kafka, bei dem Mitte 30 eine Lungentuberkulose diagnostiziert wurde, hatte nie Hoffnung auf Heilung. Obwohl er eigentlich die Gesundheit und Tüchtigkeit des guten Bürgers bewunderte, brachte ihn seine Krankheit dazu, die Welt als eine gefürchtete, feindliche darzustellen. Er hat sich viel mit Kierkegaard auseinandergesetzt, aber es fehlte ihm dessen Vertrauen in Gott - er sagte einmal zu Brod: „Wir sind nihilistische Gedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.“ Autoren wie Novalis oder Nietzsche haben quasi eine Philosophie der Krankheit entwickelt. Der lungenleidende Novalis sieht Krankheit als „schmerzliches Vergnügen“ (...) Das Ideal einer vollkommenen Gesundheit ist bloß wissenschaftlich interessant. Krankheit gehört zur Individualisierung.“ Das klingt in der Theorie großartig abgeklärt - aber wehe die Schmerzen werden übermächtig!
Cermak beendet ihr Buch sinnigerweise mit der erstaunlichen Krankengeschichte Goethes, die ihn bekanntermaßen nicht daran hinderte, 86 Jahre alt zu werden. Bei allen gesundheitlichen Schwankungen versuchte er sich nach einer Maxime zu verhalten, die er im Jahr 1830 Eckermann mitteilte: „Es ist unglaublich, wieviel der Geist zu Erhaltung des Körpers vermag. Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibs, allein der geistige Wille und die Kräfte des oberen Teiles halten mich im Gange. Der Geist muß nur dem Körper nicht nachgeben.“ In diesem Sinne kann uns dieses Buch zum überzeugten Dennoch erziehen - ein wahres Vademecum für Krankheitsbetroffene - solange der Geist noch in der Lage ist, die Gemütsverfassung wirklich zu beeinflussen. KS