Thema: Gabriel Kuhn - Jenseits von Staat und Individuum
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Mitglied 25 Forenbeiträge seit dem 11.12.2007
Eröffnungsbeitrag
Abgeschickt am: 11.12.2007 um 21:14 Uhr
STAATSFREIER INDIVIDUALISMUS
Gabriel Kuhn, Jenseits von Staat und Individuum
(UNRAST-Verlag, Münster 2007) 168 S., €14.-
Wie lassen sich Individualität und autonome Politik´ (Untertitel) in einer Gesellschaft ohne bürgerlichen Konkurrenzegoismus verwirkli-chen?! Das ist die zentrale Problemstellung dieses Buches.Wie läßt sich ein Individualismus definieren und praktizieren, der nicht in Opposi-tiopn zur Kollektivität steht - welche sich aber auch nicht in reaktionärer Gemeinschaftlichkeit erschöpfen darf?! In einer historischen Reflexion der Geistesgeschichte gelangt Kuhn zu einer weiteren zentralen Kategorie: worauf beruht Ich-Identität (Gott - Vernunft - Nicht-Identität)? In-teressant ist, daß für ihn "Robonson Crusoe der Beginn einer im Beste-hen begriffenen Gesellschaft des Individualkultes markiert." Andererseits ist eben Verantwortungsempfinden aus der Kollektivität entstan-den. Daraus entwickelte sich ein ambivalentes Verhältnis des Indivi-duums zum Staat, der es einerseits schützt, dem es sich andererseits ausgeliefert fühlt. Der Staat schützt die Freiheit der Individuen, indem er sie einschränkt. Und er bedient sich einer transzendenten Wertstiftung zur Schaffung und Stabilisierung fiktiver Kollektivität(en). Hart am Ran-de des Begriffswirrwarrs manövrierend versucht Kuhn eine Theorie der "antiindividualistischen Individualität" aufzustellen.
Zunächst plädiert er für eine individuelle Verantwortlichkeit, welche staatliche Institutionalisierungen überflüssig macht. Damit im Zusammenhang steht der Selbstrespekt "als wesentlicher Bestandteil antristaatlicher Individualität." Selbsterkenntnis und Kreativität sind weitere Erfordernisse im Sinne eines staatsfreien Individualismus. Dadurch soll verhindert werden eine Totalisierung der Lebensgemeinschaft. Stattdessen soll sich eine Pluralität an Talenten und Fähigkeiten entfalten. Insgesamt entsteht schließlich eine "soziale Dynamik", indem wir "unsere Positionen in unseren Lebenszusammenhängen ständig reflektieren und redefinieren." In diesem Sinne spricht Kuhn von "Subjektivierungen" als stetem Prozeß anstelle von fixen Subjekten - er definiert "Individualität als soziale Singularität."
Erforderlich ist die Distanz zu indoktrinierenden Mächten (Staat, Religion, Medien). Dabei besteht die große Kunst gesellschaftlicher Praxis darin, gleichzeitig solidarisch und unterscheidbar zu werden. Basis müßte sein eine soziokulturelle Ethik, die ein "Ensemble fakultativer Regeln" entwickelt. Kuhn empfiehlt im gesellschaftlichen Prozeß "transformative Handlungswesen", welche übernommene Rollen "schrittweise verschieben". Dabei gilt es auch soziokulturelle und ökologische Zusammenhänge zu begreifen und mit zu gestalten. Der Traum einer solidarischen Kollektivierung nicht manipulierter Individuen wird womöglich scheitern müssen an der fortschreitenden Anonymisierung territorialer Gesellschaften und der Globalisierung unseres Planeten zum ökonomischen Umverteilungsladen.
Zum Ende seiner Abhandlung kann Kuhn eigentlich nur ganz zutrau-lich die "Hoffnung" äußern, "daß die Einzelnen, die lebenspraktisch an der Transformation ihrer Individualität im Sinne antiindividualistischer Lebensformen der Kollektivität arbeiten, immer wieder zueinander finden und vielfältige antistaatliche Lebenswelten entstehen lassen." Ein Begriff ist hier noch gar nicht gefallen, weil er inhaltlich korrumpiert ist: es bedarf einer ungeheuerlichen existentiellen Disziplin, um eine harmonische Anarchie zu begreifen und aggressionsfrei zu praktizieren. Und diese Disziplin darf eben nicht ideologisch verseucht sein.