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Literaturforum: Gendertrouble


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Forum > Aesthetik > Gendertrouble
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 Thema: Gendertrouble
Matze
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 09.09.2007 um 09:57 Uhr

„Das Grundrecht des Menschen ist, Nichts zu bedeuten… Der Sinn ist es, der verstümmelt und fragmentiert.“ (Georges Bataille)

Die Inszenierung von Persönlichkeit in den digitalen Sphären von Personenkult und Idolatrie wird bald einmal vorbildlich sein für jede Art individueller Selbstdarstellung. In der digitalen Welt nämlich wird ein jeder seine Identität nochmals neu ausweisen müssen. Jenseits von Name, Alter, Geschlecht muß er auf einer eigenen Website ein persönliches Profil – mithin seine Bekenntnisse, seinen Stil und Geschmack – zum Ausdruck bringen: mittels Textes, Videos, Designs, Sounds. Da sage noch einer die Postmoderne sei vorüber, die Zeit der spielerischen, narzißtischen Selbstironie sei endgültig vorbei. Dafür blüht sie jetzt im Netz auf und träumt schöneren Zeiten entgegen zwischen Hobby-Enzyklopädisten und rationalen Narren. Die Hauptbeschäftigung der rationalen Narren besteht darin, den Nutzen zu maximieren, den ihr Verhalten für sie selbst erbringen mag. Andere Interessen kennen sie nicht – oder sie kommen in ihren Kalkülen nicht zum Zuge. Rational sind diese Narren darum in einem nur sehr eingeschränkten Sinn. Ihre Rationalität hat irrationale, weltfremde Züge. Sie verkörpern eine Objektivität, der zur Mißachtung elementarer sozialer Sachverhalte führt. Sie tun nämlich so, als sei das, was Menschen schätzen und machen, ganz unberührt davon, daß Menschen sich anderen Menschen zugehörig fühlen, daß sie eine Herkunft haben, in dieser oder jener Kultur leben und dem einen oder anderen Glauben anhängen. Sie verkürzen die Menschen, anders gesagt, um ihre Identität.

Liebe ist, wenn es kein Entrinnen mehr gibt. Von der Rücksichtslosigkeit der Obsessionen sind im postmodernen Zeitalter auch die jungen Anfänger in Sachen Liebe nicht frei. Sie texten SMS im feinsten Technokraten–Deutsch und mit der Herzlichkeit eines Staatsanwaltes, der sich auf Landesverrat spezialisiert hat, verletzt, mit Schmollmund. „In der Repräsentation des Menschen durch die Apparatur“, schrieb Walter Benjamin, „hat dessen Selbstentfremdung eine höchst produktive Verwertung erfahren.“ Alles an diesen Kids ist Abglanz. Sie sind modern genug ist, um Postmoderne buchstabieren zu können und sich dann einen Scheißdreck darum zu scheren. Logos und Zeichen schwirren ihnen entgegen: Der Kl@mmeraffe, die Blockstreifenmuster des Fernsehtestbilds, das große Ypsilon des Yen oder eine heraldische Version des Pudels. Ein dichtes, ikonografisches Gewebe, das zu wuchern scheint und sich in alle Ecken und Enden ausbreitet – im Netz, auf Postern, Postkarten, Zeitschriften und T-Shirts. Ihr Sound ist der passende Klingelton. Mit dem Gameboy proben sie bereits den 4. Weltkrieg. Diese Kids haben so viel Gewalt, Verlust, Gleichgültigkeit und Schmerz erfahren, daß sie diese Erlebnisse mit einer urtümlichen Kraft aus ihrem Körper herausschleudern. Alles ist Inszenierung, alles Show der Jugendlichkeit, die in hundert Variationen ein einziges Gesicht zeigt, alles ist Spiel, selbst das Authentische, das Echte. Sie suchen eine Ausdrucksform, die über hüftschwingende Anleihen aus dem Stripper–Repertoire hinausgeht und die Gewalt der Straße einfängt; als Tänzer vermögen sie der körperlichen Berührung, dem scheinbaren Kampf auf Leben und Tod eine spirituelle Seite abzutrotzen. Diese Kids wissen, daß sie, um glamourös zu werden, Plagiatoren und Schmarotzer werden müssen. Kaum je können sie ihren Abbildern entrinnen, sind umfangen vom eigenen Spiegelbild oder Schattenwurf. Die Idylle der Unschuld trügt. Richtet nicht gerade die erste Liebe die größten Schäden an?

Schuldkomplex. Christliche Bußübungen. Versöhnungstamtam. In komplexen Gesellschaften besteht ein öffentliches Bedürfnis nach neuen Erklärungsmustern, nach neuen Geschichten. Platon unterschied Eros – die begehrende, sinnliche Liebe – von Philia, der Freundschaft, und Agape, der selbstlosen Nächstenliebe. Daneben beschrieb er auch die verwandte Stoika, die Hingabe an ein Interesse. Über die abendländische, christliche Geschichte gab es ungezählte Auslegungen dieser ersten Theorie, die aber meist in der Gegenüberstellung von Gottes–, Nächstenliebe und erotischer Liebe endeten. Noch die sogenannte sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts behauptete sich als Befreiung einer zuvor unterdrückten körperlichen Liebe. Doch diese Behauptung ist im 21. Jahrhundert nicht nur in ihrer Vermeintlichkeit, sondern auch in ihren unfreien Konsequenzen offenbar geworden. Die ‚freie Liebe’ hat die Menschen weniger befreit als sie schutzlos und unmittelbar unter die Herrschaft der Körper und Medien gebracht. Der Jugendwahn der westlichen Gesellschaften gründet sich schließlich auf der verinnerlichten Annahme, daß jeder einzelne für die Jugend und Schönheit seines Körpers und damit für sein Lebens– und Liebesglück verantwortlich ist. Die richtigen Glücksvorstellungen sind dabei vorgegeben und können entsprechend nachgelebt werden. Es ist kein Zufall, daß Papst Benedikt I. seine erste Enzyklika der Liebe widmet. Er erörtert den Begriff im Rückgriff auf Platons Liebesbegriff und im Vergleich von Altem und Neuem Testament, selbstverständlich rund um die christliche Einsicht, daß Gott die Liebe ist: Er ist derjenige, der Liebe schenkt und der sich verschenkt, um die Menschheit zu retten und die Liebe in der Welt zu halten. Jede Liebesgeschichte kennt den Rest der Tragik und das schale Ende der Verführung. Die immer neuen Anläufe der Liebe, hinterlassen unter dem prosaischen Signum der ‚Patchworkfamilie’ ihre Kollateralschäden. „Das Familienleben ist ein Eingriff ins Privatleben“, hat Karl Kraus notiert. Die Grenzen zwischen den sexuellen Ausrichtungen werden ebenso fließend wie die zwischen Gut und Böse, Selbstbehauptung und Selbstausbeutung. Weiblichkeit bedeutet Inszenierung und anstrengende Zurichtung, das Geschlecht auch soziales Rollenspiel jenseits von Testosteron und Östrogen. Diese Art von Sexualität hat viel mit der Energie und dem Einsatz zu tun, Weiblichkeit immer wieder neu in Form zu bringen, um Stellung zu behaupten in einem Kleinkrieg gegen die eigene und die fremde Wahrnehmung, um sich so überhaupt ihrer selbst zu versichern. Erlösungssüchtige Frauen treffen auf beziehungsunfähige Männer. Während der Kopf sagt, daß die Beziehung in einer Katastrophe enden wird, rebelliert der Körper. Sexuelle Dominanz verschafft keine Befriedigung. Sie sind Gefangene ihrer Körper, irr–sinnig Liebende, Geißeln allesamt. Frausein ist eine Disziplin, ein Trainingsprogramm und Operationsplan, aber auch ein flirrend leichtes Spiel mit den Täuschungseffekten von Genderrollen. Das bürgerliche Lebenskonzept steht nicht mehr in ausschließlicher Opposition zum Selbstverständnis von Queerness oder Transsexualität, sondern darf plötzlich durchaus auch als erstrebenswert angesehen werden. So freiheitsfreudig, hedonistisch und jederzeit spaßbereit wie gewohnt kann es aller Voraussicht und allgemeiner Erkenntnis nach jedenfalls nicht ewig weitergehen. Die aussterbenden Y-Chromosomen durchschauen das Versteckspiel um ihre Geschlechtszugehörigkeit, verleugnen den Schock jedoch auf die Macho–Art, es geht bei den postmodernen Paaren nicht um die Abwehr fremder Sexualität, sondern vielmehr um die elementaren Fragen gegenseitiger Offenheit. Untersucht man den neuen Narzißmus ist dem postmodernen Menschen zumindest eines zu bescheinigen: Erfolgsorientiertheit. Sie wollen postmodern sein, ohne immer die ganze Bürde des Neoliberalismus tragen zu müssen und versuchen vor der totalen Ernüchterung ihre letzten Träume zu retten. Wie werbewirksam das Brechen von Tabus ist, bewiesen zuletzt der Sexschockerstreifen »Baise–Moi«, Michel Winterbottoms »Nine Songs« oder die Hysterie um die Pornovergangenheit Sebil Kekillis, der Hauptdarstellerin aus Fatih Akins »Gegen die Wand«. Hier wird die Ehrlichkeit der Pornographie gegen die Verlogenheit des Kulturbetriebs ausgespielt. Wer bisher glaubte, Charles Bukowski habe keine Erben hinterlassen, den belehrt Helen Walsh eines Besseren. Sie verwendet verstaubte Klischees als literarisches Rohmaterial und läßt sie dann in einer effektvollen Inszenierung in neuem Glanz leuchten. Millie, die Protagonistin ihres Romans, ist eine verloren geglaubte Tochter – eben ein richtiger Kerl: sie säuft, flucht, kokst und vögelt, was das Zeug hält. Millie malträtiert heruntergekommene Huren mit Bierflaschen, findet pubertierende Mädchen "sterbensfickbar" und ist ganz ungehemmt unterwegs auf ihrem Egotrip. Obszönität ist bei Helen Walsh keine Haltung, sondern Mittel zum Zweck. Porno ist chic. Zusammengeschrieben aus dem Vokabular der einschlägigen Literatur – von Henry Miller, über Irvine Welsh, bis Houellebecq – fackelt sie ein Tischfeuerwerk pornographischer Ruppigkeiten ab. Wie viel harte Fakten, wie viel ungeschminkte Sexualität in Bücher paßt, haben zuvor schon Nelly Arcan mit »Hure« oder Christine Angot mit »Inzest« ausprobiert. Diese Texte changieren zwischen Essay, Reportage, Soap Opera und fiktionalem Text. Ein Vergleich mit der amerikanischen Fernsehserie »Sex and the City« liegt nahe, denn in beiden Fällen geht es um eine Gruppe von Frauen, die sich vorwiegend mit Gender–Troubles herumschlagen. One–Night–Stands, Internetkontakte, zudringliche Typen in allerlei Variationen. Diese Leute leben in einer Welt von Zuschauern, die von ihren Logenplätzen herabblicken. In der Postmoderne pflegt man so etwas Differenz zu nennen, und mit Differenzen dieser Art beschäftigen sich diese Autoren gerne. Helen Walsh stellt sich, etwas verspätet, hinten mit an – eine Spur härter und im Gewand des Authentischen. Literarisch reizlos, bleibt Millie letztlich aber auch pornographisch wirkungslos. Gerade weil das Buch auf den Skandal hin geschrieben ist, dann aber einen Rückzieher macht, scheitert es. Die großen Gefühle sind auf das Essenzielle verkürzt und im Playmobilformat für die Gegenwart erschlossen. Den postmodernen Menschen geht es um Erfahrungen von Verlust und Selbstverlust, den Salonnihilisten unter ihnen um das ‚unbehauste Subjekt’. Ihr Unglück besteht darin, nicht das Leben zu führen, das sie führen wollen, sondern irgendeines, das nach all den gescheiterten Versuchen für sie übrig bleibt. Mode im Frühjahr, Design im Sommer, Fotografie im Herbst und Architektur im Winter sind die Pfeiler ihres Programms gegen die Lebenslangeweile. Die Normalität schon ein löchriger Rost, durch den beim kleinsten Fehltritt jeder fallen kann. Deshalb wird das Echte und Einzigartige immer rastloser repräsentiert. Im Netz stehen Authentizitäts-Placebos und Subjekt-Simulationen: Blogs, SMS und Community-Portale. Im Web gibt es mittlerweile einen Trend zur persönlichen Preisgabe, als moralisch wertvoll gilt das Private, der Körper bleibt als Rest zurück, wenn seine Daten auf die Reise gehen. Es geht ihnen um das Durchdeklinieren von Möglichkeiten, die es nicht mehr bringen, die wirre Lust, sich im Leben an den großen Themen zu probieren, ohne daß sie Lösungen versprechen würden, wie zum Beispiel die bürgerliche Ehe. Das Gesetz sichert jedem Individuum das Recht zu, grundsätzlich zu bestimmen, in welchem Ausmaß seine Gedanken, Gefühle und Empfindungen anderen mitgeteilt werden. Die postmodernen Menschen stehen vor einer unmöglichen Entscheidung: Sich entweder der Gesellschaft zu entfremden, oder aber sich selbst. Die Vermählung von Schmerz, Sexualität und Erleuchtung: Wie lang hat es das nicht gegeben?

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Matze
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 09.09.2007 um 09:58 Uhr


Seitdem man entdeckt hat, daß zwei Drittel aller Bücherleser Leserinnen sind; daß Frauen die Einschaltquote im Fernsehen bestimmen und die Auflage von Zeitschriften und Zeitungen in die Höhe treiben können, versucht der Markt, ihre Kaufkraft restlos abzuschöpfen. Wie ich lese hat sich ein neues Genre etabliert: Chick–Lit. Diese “Freche Frauen“–Romane haben in der Unterhaltungsliteratur einen beispiellosen Bücher–Boom ausgelöst. Die rahmglacfarbenen Buchdeckel und Titel wie „Die Schnäppchenjägerin“, „Die Naschkatze“ oder „Liebling, vergiß die Socken nicht!“ lassen auf wenig Unverschämtes schließen. Man sieht die Buchcover der Romane von Marc Levy, mit Titeln wie „Wo bist du?“, „Sieben Tage für die Ewigkeit“ oder „Bis ich dich wieder sehe“, Titel, auf denen eine Frau in violettfarbenem Kleid einsam am Strand steht, während im Blau des Himmels zwei Liebende sich zum Küssen neigen; Titel, auf denen ein Babyspeck–Amor Pfeile schießt und bunte Schmetterlinge zartflüglig vor rosa Hintergrund tanzen. Man sieht einen Titel wie „Regenbogenträume“, der in reizender Schreibschrift eine rote Blume umkringelt, wobei das „Für immer vielleicht“ und „P. S. Ich liebe Dich“ der Cecelia–Ahern–Romane wie mit Flugzeugkondensstreifen in den Himmel geschrieben scheint. Man sieht die „Jenseits von Afrika“–Anmutung auf Erfahrungsberichten wie „Mit der Liebe einer Löwin“ oder eine im Wind schwingende Schaukel vor Landidylle auf Nicholas Sparks „Wunder eines Augenblicks“. Diese Texte zeigten, daß sie nicht mehr länger dem Standard der Männerwelt oder dem doktrinär–feministischen Zwang zur weiblichen Selbstbestimmung nacheifern müßten. Postfeministisches Schreiben heißt, daß Frauen tough im Berufsleben und gleichzeitig sexy sein dürfen: „Karrieremädels auf der Suche nach Liebe“. Statt mit einer Form von Befreiung wird Chick–Lit mit kaufsüchtigen, den ominösen Mr. Right jagenden Thirty–Somethings konnotiert. Klassische Ingredienzien sind die ausschließlich heterosexuelle Liebesgeschichte, die glücklich, jedoch selten mit Heirat endet, sowie Sexszenen, wobei darüber reden wichtiger ist als Details. Die Frauen sind berufstätig, vorzugsweise im Mode–Journalismus, und urban, was allerdings beides meist nur Staffage zur Lovestory ist; die ehrgeizige Andrea in Lauren Weisbergers „The Devil Wears Prada“ ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Aussehen und Shopping sind jene Schlüsselmerkmale, an denen denn auch die Kritiker den konservativen Backlash des Genres festmachen. Bereits wieder für tot erklärt ist „lad lit“, die von bindungsscheuen Berufsjugendlichen handelt, schon an der Tatsache, daß Männer kaum Romane lesen. Frauen dagegen interessieren sich nicht dafür, da explizite Beschreibungen von Besäufnissen und Bettgeschichten nun einmal jeden Ansatz von Phantasie im Keim ersticken, Gespräche mit dem eigenen Penis wiederum der weiblichen Phantasie wohl zu viel abverlangen.

Wer Tiefe sucht, muß in Abgründe blicken. Im achten Buch der „Madrigali“ legt Claudio Monteverdi die Grundzüge seiner musikalischen Poetik dar, mit denen er Gefühle wie Wut, Entsetzen, kriegerische Ungeduld und die Liebe ausdrücken wollte: „Mir sind grundverschiedene Affekte begegnet, die es zu vertonen gilt: der Krieg, das Gebet und sogar der Tod“. Dieses Zitat nennt die Säulen und Kreuze unseres Lebens und verschiedene Abstufungen der Gewalt, wenn man der Tod als gewaltiger Akt gegen den Lebensfluß betrachtet. Es ist diese flirrende Grenze mit ihren Öffnungen, die Monteverdi sichtbar macht. Wir können uns nicht sattsehen an den Barockopern, an den himbeerroten und zitronengelben Bühnenbildern, den mondän hochtoupierten Frisuren und der vielen grellen Schminken, Inszenierungen, in denen sich die Herrscherfiguren regelmäßig in lächerlich verzappelte, kleine Machtkasper verwandeln und sexgierige Vamp-Frauen zur Liebesarie ihre Edeldessous zeigen. Alte Muster leben fort. Bereits Klaus Theweleit hat im »Buch der Könige« seine Zweifel, als er das "und" zwischen Orpheus und Eurydike entschieden durchstrich und den Beweis führte, daß Eurydikes Tod kein Unglück, sondern geplantes Opfer ist. Orphée scheint nicht recht zu wissen, ob er Euridice oder die Liebe selbst begehrt. Orphée steigt dann nicht in den Hades, um Euridice durch die betörende Gewalt seiner Stimme zu befreien. Im Konflikt der wieder Vereinten um das von den Göttern verhängte Blickverbot hat die lüsterne Frau Liebe ihre Finger im Spiel: Euridice stirbt erneut, diesmal durch Orphées Blick. In der Geschlechterbeziehung treffen sich die Parallelen erst im Unendlichen. Andachtsbilder ihrer eigenen Schönheit und Vergänglichkeit. Wo eine Bosheit, da ein Wille, wo ein Wille, da ein Mensch. Daß Verbrechen die Öffentlichkeit aufwühlen, ist eine uralte Geschichte – und doch ist sie fast täglich neu. Die Irritationen der Bürger sind umso heftiger, je länger eine Mordserie nicht aufgeklärt wird. Wie im Berlin der 1920–er Jahre, in denen nicht nur politische Tötungsdelikte zur Destabilisierung der Weimarer Republik beitrugen, sondern auch "Hamann mit dem Hackebeilchen" Schabefleisch aus seinen Opfern machte. Nicht Jagdglück hat den Menschen geprägt, sondern Angst vor der Bestie. Nicht nur die Urmenschen haben gejagt, auch Raubtiere haben Jagd auf Menschen gemacht. Hyänen, Krokodile oder Raubvögel haben unsere Altvordern verschleppt, oder zumindest Einzelteile von ihnen. Eine Beute kann sich der Mensch mehrfach im Leben entgehen lassen, selbst Beute sein dagegen nur einmal. Dieses Gefühl bestimmt die Menschen bis zum heutigen Tag. Wer „in ein offenes Fenster schaut“, schreibt Baudelaire, „sieht nie so viele Dinge wie einer, der auf ein geschlossenes Fenster blickt“. Akute Gefahr und topografische Desorientierung sind äußere Zeichen für die innere Ziellosigkeit. Verhandelt wird hier auch das Problem sich vernutzender medialer Bilder. Mit Blick auf Gott als bilderzeugendes Subjekt hat sich die Rede vom „Menschenbild“ als ethisch sinnlos. Jeder Einzelne ist sehr viel mehr und anderes, als er von sich selbst wahrzunehmen vermag. Kaum jemand geht in den Bildern auf, die andere sich von ihm gemacht haben. Der Bilderkrieg hat eine gänzlich andere Bedeutung bekommen, er bezeichnet die gegenwärtige Politik der Bilder oder Politik mit Bildern, die in den globalen Medien als Waffen eingesetzt werden und als solche mehr Breitenwirkung erreichen als langatmige Texte, die auch der sprachlichen Übersetzung bedürfen. „Wir sehen nicht, was wir sehen. Wir sehen, was wir sind“, ist im »Buch der Unruhe« bei Pessoa zu lesen. Die Wirklichkeit wird zur Attrappe. Der alte Wunsch, in dieser Welt zu leben und keineswegs zur Heimatlosigkeit verurteilte Gespenster oder Fremde auf der Erde zu sein, dies grundlegende Daseinsgefühl, das mit dem Authentischen verknüpft ist, verschwimmt. Die postmodernen Menschen haben immer Leidenschaft gesucht und sind letztlich auf einer lauwarmen Zufriedenheitsstufe gelandet. Sie wissen, wie es ist, ein leeres, unbeteiligtes Leben zu führen, wie man gerade dadurch Schuld auf sich lädt. Sie haben ihre Berufe und doch wirkt sein Aktenstudium ebenso kindlich gespielt wie ihre Bilderbuchillustrationen. Sie haben ein angenehmes Äußeres und sie scheinen dennoch auswechselbar. Sie blicken zurück auf Spuren einer Vergangenheit und wirken dabei trotzdem seltsam distanziert und unbeteiligt. Alle beide bleiben in ihren Lounges leer und hohl wie Pappfiguren, farbenfroh koloriert und hübsch anzusehen vielleicht, aber ohne Tiefe. Schuldig werden an sich selbst und an anderen, das kann man nämlich auch, indem man gar nichts tut. Dadurch, daß niemand diese Schuld je beim Namen nennt, vollzieht sich bei ihnen die Sprachlosigkeit und weist damit viel deutlicher auf diese Schuld durch Unterlassen hin, als man es mit Worten je könnte. Sie gehören zu einer Welt, wo die Politik nicht in Staatstätigkeit aufgeht; ihre Welt ist eine politische Kultur des Widerspruchs, in der die kommunikativen Freiheiten der Bürger entfesselt und mobilisiert werden können. Sie pflegen ihre Hysterie über die Vogelgrippe und ihre Vorlieben für Katastrophenfilme über Sturmfluten oder die dunkelsten Abgründe der deutschen Geschichte. Ist Furcht ein evolutionärer Anachronismus?

Der Abschied von alten Denkmustern fällt immer schwer, aber wer unsere Zeit verstehen will, muß sich damit abfinden, daß das von Trendforschern ausgemachte Globalisierung mit den Kategorien rechts und links, konservativ und progressiv nicht zu fassen ist. Die Behauptung vom „Krieg der Kulturen“ ist nicht von Samuel Huntington erfunden worden. Vom "guerre des cultures" schrieb Julien Benda in seinem 1927 erschienenen Buch »La Trahison des Clercs«: „Daß der politische Krieg den Krieg der Kulturen impliziert, ist eine Erfindung unserer Zeit, und sichert ihr einen herausragenden Platz in der Moralgeschichte der Menschheit. Heute stellt jedes Volk selbstverliebt seine ganze Kultur „allen anderen Völkern entgegen.“ Bis jetzt sind intra-kulturelle Konflikte blutiger verlaufen und haben weit mehr Opfer gekostet als Kriege zwischen den Kulturen. Benda fragt sich, seit wann innerhalb des christlichen Abendlandes Kriege durch den Rückgriff auf kulturelle Wertvorstellungen gerechtfertigt wurden. Die mörderische Gegenwart besteht nicht zuletzt aus den Ausläufern der altvorderen Zeiten. Zu denken ist an den "Vampirismus" von Elisabeth Bathory, die im Blut junger Mädchen gebadet haben soll, und an die königlichen Grausamkeiten eines Louis XI, Zeitgenosse von Vlad Tepes, der seine sich schuldig gemachten Untertanen enthäutete, kastrierte, zerstückelte, ihnen die Gedärme ausnahm und die Glieder entriß; die Geldfälscher ließ er angeblich verbrühen, den Verbrechern riß er die Augen aus, den kleinen Dieben schnitt er die Nase oder die Hand ab. Und der Fürst von Walachien, "Drakula", der alle Bettler, Kranken und Traurige, alle Leidenden nach der Spendierung einer üppigen Mahlzeit verbrennen ließ? Der Hexenjagd? (thematisiert auch von Arthur Miller). Die Inquisition? Der Tod von Galilei? Goyas Monster? Es gibt durch die Epochen eine Analogie, wenn nicht sogar eine Identität der tiefen Gesetzte des Pathologischen und des Normalen (die Claude Bernard in den Annuaires de la Physiologie unterstreicht). "Normales", Paranormales (Dämonisches) und Psychotisches werden in unserer Zeit neu beigemischt und als Kunst salonfähig gemacht. Die moderne Gesellschaft hat sich in Täter, Voyeure (passive Mittäter) und Flüchtlinge immer mehr verzweigt. Eine Gesellschaft, die das fremde Unglück pervers und schadenfroh konsumiert: Es sind die Anderen, die sterben, möglichst an fernen Stränden, dann ist die Spendenbereitschaft besonders hoch! Kosmopolitisch sein zu wollen, ohne die äußerst heterogene Kultur verinnerlicht zu haben, ist ein Oxymoron, und außerdem natürlich ökonomisch äußerst kontraproduktiv. In diesen gibt es keine kulturellen Ressentiments; It´s the economy, stupid – in der gehobenen Klasse, die um die Ökonomie herum gruppiert ist und vorwiegend mit kulturellen Codes agiert, ist diese Form der Abgrenzung vollkommen sinnlos. Es gibt jedoch Konstanten in der Geschichte, wie auch im Vergleich mit den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Immer sind es Männer, die mit Macht und Geld – in Abwesenheit beider auch mit Angeberei – die Regeln diktieren, Business–Machos, die dauernd entweder nach der Trophy–Woman oder dem Zweit– oder Drittnest in den wechselnden Metropolen suchen. Ohne solche Typen scheint keine Modernisierung der Geschäftemacherei vonstatten gehen zu können. Gehören dazu: Das tägliche Mobbing? Der Psychoterror? Die Pornographie bis zur Übersättigung? Die Demagogie bis zur Übersättigung?

Jean–Luc Godard beschrieb das Eindringen von Soldaten in ein anderen Land nicht nur als kriegerischen „Akt“, fast könnte man meinen, er wurde aus den »Madrigali guerrieri ed amorosi“ zitieren. Es scheint zwischen Männern und Frauen des 21. Jahrhunderts so zuzugehen, wie im Kampf zwischen Tancredi und der Sarazenin Clorinda. Ihre inhaltliche Ratlosigkeit angesichts der faktischen Probleme verstecken die postmodernen Menschen also hinter der bewährten Geste der Überlegenheit. Die Ratlosigkeit des Ernsthaften liegt woanders, aber sie hat mit der Liebesfähigkeit zu tun. Liebe als Dokumentation, Krieg und als etwas aus der Form geratener Shop voller rätselhafter Artefakte. Der täglich anwachsende Chor von Beziehungen scheint ein rein sprachliches Phänomen zu sein. Das Ganze wirkt wie ein Vogelschwarm, in dem zunächst Einzelne zu krächzen beginnen, andere darauf antworten, nach und nach immer mehr einstimmen, schließlich alle sich äußern, nur – der Schwarm fliegt nicht los. Die wahre Liebe wurde zur Ware Liebe. Das Ziel der postmodernen Menschen ist nicht Freiheit, sondern Bindung, doch darum ist ihr individuelles Streben nach anarchischer Freiheit keineswegs erloschen. Sie wollen beides haben, Freiheit im Swingerclub und zugleich Geborgenheit im Eigenheim, und insbesondere sind es die Massen, die ohne Zaudern das Widersprechendste auf einmal verlangen. Obszönität ist eine verdammt schwierige Pose. Dieser Generation geht um den pünktlichen Eisprung und nicht mehr um Leidenschaft. Die Suche nach dem richtigen Partner wird mindestens so ernsthaft und professionell betrieben wie einen Job. Sie interessiert es zu einem Ornament mit der Masse zu verschmelzen, so ergeben einzelne Piktogramme ein Superzeichen. Hinter dieser scheinbaren Affirmation von Konsum, Dienstleistung und dem Warencharakter der Liebe steht das Bedürfnis, alle Verbreitungsmöglichkeiten einer Konsum– und Mediengesellschaft zu nutzen. Liebe ist für die postmodernen Menschen das natürlichste Schmerzmittel der Welt. Sie bedienen die gängigen psychoanalytischen Interpretationsmuster, die ihre Körperlandschaften, ihre silikonierten Brüste und ihre phallische Pharmazie hervorrufen, so offensiv wie ironisch, jeden Moment bereit, das Gegenteil zu behaupten. Cherchez la femme! Frauen sind es müde geworden, das Ideal des Mannes zu sein, der zur Idealisierung nicht mehr die rechte Kraft hat, und haben es übernommen, sich ihr eigenes Wunschbild auszudenken... Sie wollen überhaupt kein Ideal mehr sein, sondern Ideale machen, zu ihrer Bildung beitragen, wie es die Männer tun. Zu beobachten ist die bis zum Krampf energische große Gebärde, daß sie sich festbinden wollen an der Notwendigkeit, aber an der höchsten, an der, die über allen Satzungen und gleichsam der geometrische Ort aller denkbaren Satzungen ist. Das emanzipierte und anspruchsvoll gewordene Ich sucht nach Bindungen, die ihm gewachsen sind, die seiner gesteigerten Distanzierungsfähigkeit standhalten. Partneragenturen helfen bei der Selbstfindung, sie liefern der Auseinandersetzung konkrete Inhalte und sorgen so dafür, daß es nicht zu einer Selbstverwirklichung ohne Selbst kommt. Die elementaren Fragen bleiben sich gleich: Womit das Leben füllen? Woran sein Herz hängen?

„Heiraten ist der erste Fuß im Sarg.“, sagt ein japanisches Sprichwort. Männer wollen junge, schlanke Frauen, die nicht so schlau sein müssen, Frauen wohlhabende Männer, die älter sein dürfen. Der Traum von der Liebe auf den ersten Blick, die so stark ist, daß sie alle Widrigkeiten überdauert, ist ausgeträumt. Verloren - die romantische Zuneigung als schicksalhafte Quelle der Partnerschaft. Nach Jahrzehnten der Freizügigkeit breitet sich die Sehnsucht nach Stabilität, nach Dauer und Familie aus. Selbstverständlich ist das auch ein Diskursphänomen: Während Filme, Musik, Literatur und Medien die Hemmungslosigkeit feierten, ergeben Umfragen unter Jugendlichen wie beispielsweise die Shell-Studie seit Jahren ein konstantes Bekenntnis zu Partnerschaft und Familie. Kaum ein Single will immer jagen, und wenn die Goldene Hochzeit nicht zu schaffen ist, dann zumindest die sequenzielle Monogamie. Der Traum von einer erfüllenden Partnerschaft besteht unverändert fort, aber die postmodernen Menschen gehen nicht mehr davon aus, daß ihnen die große Liebe in den Schoß fällt. Liebe kann man lernen, so lautet das neue Versprechen; Glück läßt sich planen, optimieren und bewirtschaften wie einen Hedge-Fonds. Die Wissenschaft steht mit knusperfrischen Erkenntnissen aus Neurobiologie, Evolutionspsychologie und Hormonforschung zur Seite. Im Internet laden Singlebörsen dazu ein, das eigene Profil mit jenem künftiger Bewerber abzugleichen. Betreutes Flirten für Greenhorns in der emotionalen Prärie. Daß Paare Klassen überspringen, wird immer unwahrscheinlicher, weil sich die Partner bereits in vorselektierten Kreisen bewegen. Ausgerechnet die selbstbestimmten Internet-Nutzer überlassen eine so wichtige Lebens-Vorentscheidung fremden Dienstleistern: Partnerschaftsvermittler, Dating–Kurse, Single–Kontaktbörsen, Heiratsanzeigen. Die emotionale Unsicherheit zwischen Männern und Frauen wächst im Zeitalter der totalen Kommunikation, das Geschäft mit der Liebe boomt. „Die Ehe ist der Versuch, zu zweit mit den Problemen fertig zu werden, die man allein niemals gehabt hätte.“, sagt der Regisseur Woody Allen. Sein Kollege Alfred Hitchcock sieht in der Heirat: „… die einzige lebenslängliche Verurteilung, bei der man aufgrund schlechter Führung begnadigt werden kann“. Derlei melancholisch–bißige Betrachtungen teilen die meisten Menschen, was sie jedoch keineswegs davon abhält, es immer wieder aufs Neue zu überprüfen… auch wenn es im Zeitalter des Lebensabschnittsgefährten nicht mehr für ewig ist. Der Mensch bleibt nun einmal nicht gern allein. Einsamkeitsgefühle dürften denn unter den rund 18 Millionen Alleinstehenden im deutschsprachigen Raum weit verbreitet sein. Nur wo und wie soll man den Partner fürs Leben finden?

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Matze
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 09.09.2007 um 12:29 Uhr

Die westliche Kultur ist keine Ars erotica, sondern eine Scientia sexualis. Der Eros ist Imaginär und spätestens seit dem Sieg des Cartesianismus über den Montaigneismus auf der Flucht. Der modernitätsbegeisterte Soziologe sieht die "Gefühlsmagie" der "Gegenmoderne" ihr Unwesen treiben. Der Schatten des Eros heißt in unserer Kultur Anteros. Den Alten war er der rächende Genius verschmähter Liebe. Der Knabe Meles zwang Timagoras, den Fremdling, zum Beweis seiner Liebe von der Akropolis zu springen. Nachdem es Timagoras getan hatte, sprang Meles aus Reue hinterher. So töteten sich beide. Was bei den griechischen Atriden die Erynnien waren, nicht abzuschüttelnde Plagegeister, die an alte Schuld erinnern, das sind in der Moderne die Neurosen. Die Psychoanalyse hat die inneren, die Seelen– und Gewissensverstecke des Menschen zerrissen. Die zum Bildjargon heruntergekommene Psychoanalyse ist nicht mehr Enthüllungstechnik, sondern das Medium selbst, in dem die Inszenierung von Sexualität atmet. Medienmenschen haben keinen Unterleib, sie sind eine Fehlkonstruktion, ein schlecht funktionierendes Normprodukt, und die Büste als Gefäß, dem nicht Seele, wie in der Antike vorgestellt, sondern das Geld Gestalt verleiht. Das lateinische ‚bustum’ bedeutet Leichenbrand beziehungsweise Grabstätte, und als Bildhauerthema geht die Büste auf römische Grabstelen zurück. Wie keine andere Porträtgattung hat sie Verweischarakter, deutet sie auf einen toten oder zumindest fernen Menschen hin. Die neuen Medien sind der Ort, an dem Schrecken, Scham und Begehren für alle sichtbar ausgestellt werden. In einschlägigen Foren im Netz kann man Menschen dabei zusehen, wie sie sich selbst befriedigen. Wenn man sich den Betrachter dieser Bilder vorstellt, hat man einen Eindruck, wie einsam es um das postmoderne Individuum bestellt ist.
Dazu passend bietet die Intimchirurgie "Schamlippenverkleinerung mit Klitorismantelstraffung" an. Daß die verlautbarte Sexualität einen normierenden Charakter hat, dem sich der Einzelne mit seinem Erleben unterwirft, ist eine Erkenntnis, die fast so alt ist wie die sexuelle Revolution. Die verlautbarte Banalisierung der Sexualität hat einen normierenden Charakter. Michel Foucault hat die Behauptung der sexuellen Befreiung gegen eine vorherige sexuelle Repression in seinem Buch »Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I« wunderbar als neue Variante der Predigt vom Paradies aus den Angeln gehoben. Für ihn findet "die Disziplinierung" der Menschen und ihrer Körper nach demselben Muster nur mit anderen Worten statt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat man einfach kein sexuelles Problem mehr zu haben. Die Kluft zwischen Enttabuisierung und wirklicher Freiheit im Umgang mit seinem eigenen Körper wird im Zeitalter der Koitus- und Orgasmus-Counts eher größer als kleiner. Die Vermutung liegt nahe, daß sich Paare immer noch Orgasmen vorspielen. Nichts bleibt. Jeder hat seinen Willen, aber keiner findet ein Ziel, einen Halt im Sein. Die Wurzeln dieses egalitären Selbstverständnisses gehen in Deutschland auf die erste Generation nach Goethe und Hegel zurück. Die unruhigen Literaten und Privatdozenten aus dem Kreis des Jungen Deutschland und der Linkshegelianer haben das Bild vom freischwebenden, spontan eingreifenden, oft larmoyanten, aufgeregt–polemischen und unberechenbaren Intellektuellen genauso wie die anhaltenden Vorurteile gegen ihn. Drei Erfindungen der Philosophen haben die Menschen in Atem gehalten: die Seele, das Atom, die Werte. Der Großmeister der Wert–Rhetorik, Friedrich Nietzsche, hat der Nachwelt die entscheidenden Formeln überliefert: Menschen sind es, die Werte setzen, entwerten, umkehren und zerstören. Die „freie Liebe“ ist das Avantgarde–Signal schlechthin. Ihre zunächst horizontal veranschaulichte Überlegenheit wird, vertikal gewendet, zum Vorsprung. Zurück bleibt der, dem noch etwas wichtig ist, der noch an etwas hängt, wie etwa an seine etwas wichtig ist, der noch an etwas hängt, wie etwa an seiner Identität. Wer jedoch auch bei der Identitätsarbeit versagt, als Konstrukteur seiner Biographie nicht zurechtkommt und regressive Antworten sucht, weil er die Wonnen des Relativismus nicht genießen kann und die Globalisierung als Schicksal nicht akzeptieren will, der bekommt immerhin noch Hartz IV. Leben ist gefährlich. Am Ende steht immer der Tod. Schreiben ist gefährlich. Am Ende des Schreibens steht der Essay. Der Bricoleur denkt: „Jedes Lesen, das nicht sklavisch treu bleibt, soll also stracks zur Hölle fahren.“ Für wen das nicht reicht, gilt im Zweifelsfall Marcel Duchamps lebensfroher Zynismus: „Ce sont toujours les Autres qui meurent.“ (Es erwischt immer die anderen.)

Matthias Hagedorn

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Hermes
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.10.2007 um 00:11 Uhr

Na und?


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Matze
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4. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.10.2007 um 05:15 Uhr

"Wie sind in die Welt gevögel worden und haben nicht fliegen gelernt"

So schauts aus, sammer sich ehrlich!

Grüßken, Matze

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baerchen
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5. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.10.2007 um 15:59 Uhr

zitat:
"Wie sind in die Welt gevögel worden und haben nicht fliegen gelernt"
Sollte das die Quintessenz sein?
Na schön, dann brauche ich ja die langen Texte vorweg gar nicht zu lesen.
´...haben nicht fliegen gelernt.´ ...dann wird es aber Zeit, flügge zu werden.
Grüße, b.


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Mania
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6. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.10.2007 um 17:56 Uhr

Zitat:

zitat:
"Wie sind in die Welt gevögel worden und haben nicht fliegen gelernt"
Sollte das die Quintessenz sein?
Na schön, dann brauche ich ja die langen Texte vorweg gar nicht zu lesen.
´...haben nicht fliegen gelernt.´ ...dann wird es aber Zeit, flügge zu werden.
Grüße, b.


Hmmm... Der lange Text nur für den einen Satz? Warum nicht gleich den einen Satz?

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baerchen
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7. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.10.2007 um 17:59 Uhr

Diese Nachricht wurde von baerchen um 17:59:37 am 01.10.2007 editiert

@mania
"Warum nicht gleich den einen Satz?"

Vielleicht war er noch nicht flügge? (der Text)
:-))


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Gast873
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8. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.10.2007 um 18:12 Uhr

Diese Nachricht wurde von Hyperion um 18:42:27 am 01.10.2007 editiert


Behauptungen behaupten und in den Wald hinein schreien, und dann erwarten, dass am Ende das Publikum jubelt, ist eine maßlose Unterschätzung des denkenden homo sapiens, wie er auf Versalia doch so manches Mal vorbei schaut. Mit Worten auf leinschaftlich dilettantische Art und Weise zu jonglieren ist keine Kunst, sondern eine Invektive. Augen auf beim Lesen, und noch besser: beim philosophischen Denken!

Matthias vermag durchaus interessanten Worten noch interessantere Wendungen zu verleihen, auch wenn nach dem Inhalt kein Hahn danach kräht. Es ist dennoch keine brotlose Kunst, es ist sprachlicher Witz, vielfach banal geschwängert von der Wut schreiben zu müssen, jedoch den Inhalt in leeren verschränkten Worthülsen schmackhaft machen zu wollen, ist kein besonders hoher, geschweige denn ein philosophischer Anspruch. Es ist die Sprache, um der Sprache willen, wie ich sie liebe z.B. bei Wieland, nur dass beim Letzteren auch der Inhalt mit dem Telos Sinn macht.

Und noch nen lieben Gruß hinterher,
ein Anspruchsvoller

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baerchen
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9. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.10.2007 um 18:59 Uhr

Vielleicht muss ich jetzt doch den ganzen Text vom Anfang her lesen?
*stöhn*
(na gut. Er hat ihn ja auch vom Anfang her geschrieben...)
Und ich dachte schon, ich käme darum herum, indem er eine ´So schauts aus, sammer ehrlich´- Zusammenfassung gibt...
Gut. aber dieses Jahr wirds nix mehr mit dem Lesen.
Liebe Grüße von einem Anspruchslosen.


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