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Literaturforum: Der Zyniker


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 Autor
 Thema: Der Zyniker
Wittgenstein
Mitglied

20 Forenbeiträge
seit dem 30.07.2006

     
Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 30.07.2006 um 18:15 Uhr

Der Zyniker

Der Zyniker bahnte sich seinen Weg durch das Unterholz. Links und rechts des Pfades, den er sich mit breiten Hieben seiner Machete aushob, befand sich nichts. Es roch nach nichts, es schmeckte nach nichts, er konnte nichts hören und auch nichts sehen. Das ist klar – der Zyniker hatte sich soweit von allem entfernt, dass er nichts mehr wahrnehmen konnte. Wenn er versuchte die Luft, die durch das Unterholz waberte, in ihrem Geschmack zu bestimmen, kam er zu keinem Urteil. Früher war es ihm leicht gefallen, Dinge zu schmecken, die in der Luft lagen. Inzwischen – je weiter er sich den Weg durch das Unterholz schlug, umso stärker beschlich in dieses Gefühl des Entfernt-Seins – war die Würze der Luft zur Geschmacklosigkeit geworden. Geschmacklos wie die Urteile, die er über seine Umwelt fällte. In diesen Gerichtsverfahren – und der Zyniker hatte es sich angewöhnt äußerst häufig zu Gericht zu sitzen – war er Ankläger und Richter. Die Angeklagten wurde sorgfältig ausgewählt, ihre Verteidigung durch sorgfältige Analyse in ihrem Gehalt bestimmt und durch erkalteten Zorn in die Lächerlichkeit getreten. Macht und Kraft des Verfahrens hatte der Zyniker an sich gerissen. Das Verfahren fand jedoch weit außerhalb der Zivilisation statt. Die anderen Leute – und hier war es weniger von Bedeutung ob es sich auch Zyniker oder gewöhnliche Menschen handelte, die sich einen geeigneteren Ort, auf die Welt zu blicken erbaut hatten – hatten sich aus der Reichweite der Machete des Zynikers entfernt. Der Zyniker konnte somit nur mehr bis zur Spitze seines Buschmesser blicken, die Orientierung wurde zu Qual, das Nichts um ihn herum fraß die andren Leute auf. Die Machete wurde somit zum doppelt wirksamen Werkzeug: Es erzeugte den Weg, auf dem er sich durchs für ihn so bedrohliche Unterholz bewegen konnte und sorgte zugleich dafür, dass die Richtung des Pfades, den es erst zu schlagen galt, völlig im Dunkeln verblieb. Es war dem Zyniker klar – und ich denke auch Dir liebe LeserIn, sollte das klar werden – der Weg konnte nur im Nichts enden, da er mit jedem Hieb seines Waffenwerkzeugs etwas verlor. Es ist daher augenscheinlich, dass der Zyniker bald nachdem er zu dieser Erkenntnis gekommen war, nichts mehr hatte. Es war also für den besitzlosen Zyniker Zeit, zu sterben. Mit einem weiten Wurf beförderte er die Machete ins Unterholz-Nichts, das ihn noch immer umgab. Er setzte sich hin, versuchte die Luft zu schmecken. Er schmeckte nichts. Er starb einen elendigen, langsamen Tod; das Unterholz-Nichts wuchs auf der Schneise, die er mühevoll geschlagen hatte wieder zusammen und verarbeitete die Substanz des Zynikers in eine dürre Masse, aus der Blumen wachsen sollten, die mit freundlichem Blüten liebevoll in die Welt blickten.


ICH-AG. Hauptaktionäre Mami und Papi.
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