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Literaturforum: Lebenszeit als Belichtungszeit


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Forum > Aesthetik > Lebenszeit als Belichtungszeit
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 Thema: Lebenszeit als Belichtungszeit
Matze
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 13.04.2006 um 22:41 Uhr

Nach den Ausstellungen in der Produzentengalerie "Der Bogen" in Arnsberg, der Galerie co/10 in Düsseldorf und bei Kultur Ruhr in Essen, Aufführungen bei den Literaturtagen in Wuppertal und auf den Hörspieltagen im Literarischen Colloquium in Berlin ist das Multimediaprojekt »Schland« nun digitally remastered auf DVD erhältlich.

»Schland« ist der Versuch, den Blick gleichsam zu konservieren und mit der Kraft der Vergewisserung die Seele des Augenblicks festzuhalten. Diese multimediale Arbeit beschreibt einen akustischen Raum in einem räumlichen Behältnis, dem „neuen“ DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Schland folgt dem poetischen Kernsatz: „Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige Wahrheiten verunstaltet wurde.“ Schland ist nicht nur ein Acker in Herdringen, auf dem Milchproduzenten umherlaufen, Schland ist überall. Es geht (ganz im Sinne Poes: „Man sieht es und sieht doch hindurch“) um den Blick, das Sehen, die Kurzsichtigkeit. Peter Meilchen geht mit seiner Kamera so dicht an die Dinge dieser Welt heran, dass diese ihren Anspruch aufgeben, Dinge dieser Welt zu sein – und zum Bild werden können. Sein ´Sehen´ ist kein Begaffen, sondern existenziell vollzogen.

Weil die Grenzen der Sprache zugleich die Grenzen der Welt sind, betrifft die meisten Menschen nur die Welt der Mitteilbarkeit und ihr gemeinsames Symbolsystem, Peter Meilchens Welt hat andere Grenzen, in ihr können Bilder vorkommen, die sich selbst bedeuten. Keineswegs ist die Welt also nur alles, was der Fall ist, der Künstler kann es so zeigen, dass sie uns auf fremde Weise vertraut vorkommt.

Im Gegensatz zum oft beliebigen High–Tech–Bilderschaschlik wurde das Ausgangsmaterial von Schland mit einem scheinbar antiquierten Bildträger gedreht: Super 8 S/W–Material. Mit seiner Hinwendung zum Zelloloid formuliert Peter Meilchen das Bedürfnis der Rückkehr zu einem Nullpunkt alles Bildnerischen. Die Urbilder verkörpern die geistige Welt des Neuanfangs, gleichzeitig die Auflösung alles Figürlichen. Die Nachbearbeitung mit Tipp–Ex, Tinte, Farbstiften und das partielle Zerkratzen der Filmoberfläche kommentiert und verfremdet den Film zugleich. Sein Material wirkt frisch und vital in der Verbindung der Fotografie mit der Malerei.

Weit weg davon, ein Fotorealist zu sein, befragt er die Realität der heutigen Bildwelten. Der bewegte Körper wird in seinen Bildern zur signifikanten Form ohne jede Alternative. Und damit gelingt Peter Meilchen die Verklärung des Gewöhnlichen, denn der Körper und seine Gebärden, die ihn interessieren, sind vergleichsweise alltägliche Körper und Gebärden. Peter Meilchens Arbeiten sind kühn, weil er damit das konventionelle Sehen in der Kunst, die zwangsläufige "Erkennbarkeit" von Bedeutetem und Bedeutendem, für überholt erklärt. Er schafft eine Kunst, die keine Pflicht hat, sich durch Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit zu legitimieren. Der Hinweis auf die "bildnerische Autonomie", die Freiheit der Kunst, auf alles Neue, Unbekannte zuschreiten zu können und zu müssen, nach einer eigenen, inneren Logik, und keinerlei Abbildungsauftrag mehr gehorchen zu dürfen, bereitete eine Debatte vor, in der die moderne Kunst den flachen Bildmedien den Prozess machen soll. Das Outsourcing der Motivsuche an vorgefundene Fotos befreit Peter Meilchen von der Pflicht zum Bekenntnis, statt dessen verwendet er als Ausgangspunkt für seine Suche die behauptete Realität der Fotografie, der er misstraut, wie aller Darstellung von Realität, und letztlich wie der Wirklichkeit selbst.

Genauso, wie der Blick manipuliert wird, hat A.J. Weigoni in dem Ohr-Ratorium die Tonspur bearbeitet. Wir hören als Kontinuum: Zikaden aus dem Mittelmeerraum, Kühe vom Niederrhein, Kuhglocken aus dem Zillertal und Unken aus dem Aquazoo. Die heile Welt als virtuelles Ereignis.

Das Gehirn beschäftigt sich zu 80 Prozent mit der so genannten Verarbeitung visuell–haptischer Eindrücke. »Warum auf Bildern geweint wird und warum Bilder zum Weinen bringen«, lautet der Titel eines Buches von James Elkins. Wer das Phänomen unterschätzt, dass Bilder emotionale, körperliche Reaktionen hervorrufen können, wird sich der Problemtiefe, die von visuellen Phänomenen ausgeht, überhaupt nicht nähern können. Die Bilder gehören nicht der Kunstgeschichte. Sie gehören jedem. Zwischen den rein abstrakten und der rein realen Komposition liegen die Kombinationsmöglichkeiten der abstrakten und realen Elemente in einem Bild. Diese Kombinationsmöglichkeiten sind mannigfaltig. Das ist der offene Horizont, vor dem sich die Moderne konstituierte. Jede Form ist vielseitig, also mehrsinnig.

Eine furiose Analyse eines Bildes des spanischen Hofmalers Las Meniñas diente Michel Foucault dazu, dem Westen die Krise der Repräsentation zu erklären wie einen Krieg. Foucaults Fragen gibt der 1948 in Linz am Rhein geborene, in Arnsberg lebende, Peter Meilchen zurück an die Kunst: Was ist eigentlich zu sehen?

Wer als Betrachter auf eine einfache Antwort hofft, wird vor Meilchens Arbeiten kapitulieren müssen. In der Perpetuierung des Veränderlichen ist die Zeitlichkeit beschlossen – und mit ihr natürlich die Vergänglichkeit, das Abschnurren der Zeit, wie es in Meilchens Werk vorgeführt wird. Das Foto hört auf, die Wahrhaftigkeit des Dargestellten zu behaupten. Es ist kein Beweis mehr. Es geht um das Bild, nicht um die Wirklichkeit. So sind bei seinen Arbeiten eigenartige Verschiebungen entstanden, die doch aber auch eine gewisse Faszination auslösen. Diesen Effekt hat Roland Barthes mit dem “punctum” für das Betrachten von Fotografien beschrieben: Der Reiz liegt oft in den unbeabsichtigten Nebensachen, einem Blick, einem Detail, das nicht ins Bild passt und gerade deshalb besticht.

Peter Meilchen lässt sich Zeit, indem er von der Zeit eingeholt zu werden, indem er sich dem reinen Schauen hingibt. Sein Geheimnis bleibt es, wie er aus der gelassenen Betrachtung Funken hervorzaubert, wie aus Beiläufigkeit Farben entstehen. Es ist schwer zu sagen, was die Bilder von Peter Meilchen zu Resonanzräumen macht; ihr Echo hallt lange nach. Gleichzeitig haben die Aufnahmen eine Präsenz, deren unmittelbarer Appell wie ein Zauberstab wirkt. Seine Fotografie stellt nicht nur die Frage der Ähnlichkeit, sondern auch die nach der Identität. Diese Identität mit dem abgebildeten Objekt ist, wie schon Roland Barthes festgestellt hat, eine Fiktion: „Eine Fotografie ähnelt immer nur einer anderen Fotografie“, schrieb er in dem Essay »Die helle Kammer«. Das trifft auf die Bilder von Peter Meilchen zu, dessen betonte Gleichartigkeit nicht der Einfallsarmut, sondern der Konzentration auf ein Thema entspringt, in besonderem Maße zu. Er inszeniert lokale Eskalationen, von der Umgebung unbeachtete kreatürliche Exzesse, Momente des Kontrollverlusts und der energischen Entfaltung, in denen sich das Archaische inmitten urbaner Architekturen gegen jeden Ordnungswillen Bahn bricht. Einer Gesellschaft, die widerstandslos auf den Fortschritt einschwenkt, so diagnostiziert der Künstler, machen das kulturelle Unbewusste, die verdrängte Naturzugehörigkeit, der Körper, ein Wachstums– und Entfaltungswille den verdienten Strich durch die Rechnung. Die Bilder von Peter Meilchen zwingen die Welt in den Paarlauf, unversöhnlich und untrennbar in eins. So sind all die Zwillinge oder Doppelgänger nur eine Übertreibung des Wunsches, auf Erden nicht ganz alleine zu sein.

In seiner kombinatorischen Bildregie zapft er verschiedenste Quellen an, die Fremdheit ist in der Kunst ein kostbares Gut, das es erlaubt, die Wahrnehmung des Alltäglichen zu brechen und ihr die nötige Distanz zur Gewohnheit einzuhauchen. Peter Meilchens Bilder haben eine spezifische Signatur und einen speziellen Ort. Vielleicht ist es die irgendwie aufgelöste Atmosphäre der untergegangenen BRD, und doch formulieren die Bilder den Einspruch, dass wir auch angesichts ihrer Melancholie gar nicht anders können, als uns den Rätseln des bösen Märchens, das man das Leben nennt, immer wieder zu stellen. Es ist diese doppelte Botschaft, die Peter Meilchens Fotografien die ungeheure Spannung verleiht – zart und grimmig zugleich.

Dem Augen-Blick in seinem wörtlichen, wie auch übertragenen Sinn kommt im Schaffen Peter Meilchens eine entscheidende Bedeutung zu. Sowohl das mit dem Sinnesorgan Auge aufgenommene Bild, als auch die kurze Dauer seiner Wahrnehmung spielen eine wichtige Rolle. Auf diese Weise erhält dieses Werk gerade durch seine Weltzugewandtheit jene Beimischung von Melancholie, die für eine wahrheitsgemässe Beschreibung der Wirklichkeit unerläßlich ist. Weil die fotografischen Bilder nicht bewegt sind wie unsere unmittelbare Wahrnehmung der Welt, können Repräsentation und Mimesis nicht die angemessenen Dimensionen ihrer Beurteilung sein. Eher lebt Fotografie von dem Begehren, die Welt zu besitzen, und steht deswegen auch in einem komplizierteren Verhältnis zu den Werten öffentlicher Aufklärung und ethischer Sensibilisierung, als man es gemeinhin annimmt.

Peter Meilchen ist ein Leser, Privatgelehrter, Autor, immer hart am paradoxen Kern von Werkimmanenz und Anthropologie. Aber was er zu zeigen hat, ist nicht erdacht. Er weiß, dass Verständnis und Bedeutung eines Kunstwerks sich in der Art und Weise der Platzierung im Raum zeigen müssen. Während viele Artisten in teleologischen Phrasen gefangen sind und glauben, Künstler würden "Grenzen überschreiten", hat er erkannt, dass und wie sich künstlerische Werke aufeinander beziehen: geistig. Seine Fotografie fixiert den Augenblick, als würde er ihn einfrieren. Was in der Dunkelkammer verborgen ist, wird an das Tageslicht geholt. Wer in einem Labor war und die Geburt eines Lichtbilds zwischen Essenzen, Dämpfen und den Schemen der Laborwelt herbeigeführt hat, der weiß, was für ihn verloren ist, wenn er es nicht bewußt kultiviert: die Dunkelheit, die Langsamkeit, das Prozesshafte, die Chemikalien, der Gestank und das lange Warten auf das Bild. Peter Meilchen sucht den ungewohnten Ausschnitt, wählt den schrägen Blick, findet das Detail, die Momente einer heilsamen Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch. Seine Absicht ist es nicht, mit dem Fotoapparat zu knipsen, sondern ein Bild zu machen. Als Künstler führt er dem Betrachter mit seinen Bildern immer wieder Wunder und Macht seines Mediums vor. Das Wunder, dass Fotografie Weltfragmente so inszenieren kann, dass sie sich als Puzzleteile in ein mögliches Ganzes fügen, und so einen Eindruck einer sichtbaren Realität geben, die wir selbst nie kennengelernt haben. Und die Macht der Fotografie, die uns zeigt, wie es gewesen ist – obwohl es nie so war.

Träumen ist das wahre Wachsein. Und das Fantastische ist das Wirkliche. Im Medium der Fotografie produzierte dies Paradoxon nicht nur Bilder sui generis, sondern hatte auch die Möglichkeit der Verbreitung in Magazinen und Zeitschriften. Peter Meilchens Bilder halten fest, was nicht festzuhalten ist: die Erscheinung einer Landschaft, eines Gegenstands, eines Menschen. Indem seine Fotografie den Zeitfluss unterbricht, vollzieht sie eine Inventarisierung der Sterblichkeit. Seine Bilder springen ins Auge. Am zutreffendsten ist für sie das Eigenschaftswort packend. Seine Schland–Stücke ergreifen uns. Ein Fingerdruck genügt, um dem Augenblick eine postume Ironie zu verleihen.

Mit der Erkenntnis, dass in jeder scheinbar noch so objektiven Darstellung immer auch subjektive Wahrnehmung steckt, lässt sich niemand mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Dass die Frage nach der Wiedergabe von Realität noch immer ein interessanter Ausgangspunkt für fotografische Unternehmungen sein kann, zeigt Peter Meilchen. Bei aller Medienreflexivität und dem Bewußtsein für historisches Gepäck scheint er sich seinen persönlichen Vorlieben gern hinzugeben. Genau das macht den Reiz dieser Arbeiten aus. Er eignet sich die bildnerischen Verfahren seiner Vorgänger an, um Irritationen einzufügen, die wie ein mitunter sehr humorvoller Metatext funktionieren. Daher ist es nur konsequent, »Schland« zu transformieren und digitally remastered auf DvD anzubieten. Diese Umwandlung führte bei der analogen Fotografie von der fotografierten Realität ins digitalisierte Bild und befragt damit die Relevanz des Mediums. Das ist das Unvergleichliche an Peter Meilchens Kunst: Sie erträgt nicht nur die Vieldeutigkeit, ja sogar den Widersinn. Sie setzt die andere Möglichkeit der Deutung geradezu voraus. Man braucht sich nicht auf die eine und allein gültige Botschaft festzulegen. Seine Bilder sprechen zum Betrachter in vielen Sprachen. Erst wenn wir fähig werden, die zahlreichen und ganz anders lautenden Botschaften zu entschlüsseln, die das Kunstwerk bei umsichtigem Befragen aussendet, begreifen wir das Wesentliche. Vieles im Leben ist eindeutig und unmissverständlich. Damit haben wir uns letztlich abzufinden.

Matthias Hagedorn

Bestellmöglichkeit der DVD: 02932 / 82471

Nächste Ausstellung: MÄANDER, am Sonntag, den 30. April 2006
ab 17.00 Uhr
im Kunstraum Klaus Krumscheid
Asbacherstrasse 2 in 53545 Linz an Rhein

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