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Literaturforum: irgendwie feige


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Forum > Sonstiges > irgendwie feige
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 Thema: irgendwie feige
1943Karl
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80. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 29.06.2008 um 18:10 Uhr

Lieber Matze,
Kultur auf den Wohlfühlfaktor reduziert, wäre reine Unterhaltung. Was nicht heißen soll, dass Kultur nicht auch unterhaltend sein darf.
Kann es sein, dass ich deine Ausführungen zur Literaturkritik so schon einmal beinahe wortgetreu gelesen habe??
Selbst wenn es eine Wiederholung ist, kann ich nahezu jedem Satz davon nur zustimmen.
Lieber Geist,
wage es nicht, mir meine Bücher zu nehmen. Ich könnte mir ein Leben ohne nicht vorstellen.
Gruß euch Beiden
Karl


Bei jedem Irrtum gewinnt die Wahrheit Zeit.
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Der_Geist
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81. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 29.06.2008 um 18:11 Uhr

P.S. an Frau J. (imaginär-virtuell): natürlich habe ich mir diese Schrift ausgedruckt, kann man besser drin rumkritzeln.

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JH
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82. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 29.06.2008 um 19:08 Uhr

Zitat:

Lieber Matze, lieber JH,
wenn ich jetzt auf alle eure Thesen einginge, ging ich vermutlich an Überforderung ein.
(Blöder Kalauer - Entschuldigung)

Wohl eher bei Matze, er hat 1000mal mehr Ahnung.


MASSONI
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Matze
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83. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 30.06.2008 um 10:00 Uhr

Lieber Karl,

durchaus:

Zitat:

Kann es sein, dass ich deine Ausführungen zur Literaturkritik so schon einmal beinahe wortgetreu gelesen habe?

Da ich ein alter Sack bin, zudem durch die Krankheit etwas porös in der Birne, neige ich zuweilen zu kulturpessimistischen Kreiseleien. Ich bitte das zu entschuldigen! Natürlich wird und kann die Diskussion noch kein Ende finden - im Zeitalter der Quoten florieren die Zoten. Die Notwendigkeit des Tabubruches wird und kann vielleicht heute nicht mehr auf die Spitze getrieben werden, da der Umgang hiermit im seichten Sumpf der Konsumierbarkeit versickert. Die Medien sind längst zum Schaufenster banalster Unternehmungen verkommen. Selbst ein Niels Ruf bemühte sich ja schon, Geschmacklosigkeiten als Gags zu verkaufen. Damals reagierten die Fernsehmacher noch mit pingeliger Empfindlichkeit, als sie die Grenze des "guten Geschmacks" überschritten wähnten. Heute hat sich die Grenze zu einem unendlichen Flachland ausgedehnt. Natürlich tummeln sich hierauf kleinste Geister, die vor der Medienplage noch nicht einmal eine Handvoll Zuhörer und Zuschauer hatten. Die Aufregung zwischendurch gehört zum Spiel. Aber auch so mancher Künstler hat ja längst die schmale Nische seiner Aufmerksamkeitsmöglichkeit erkannt. Künstler, die sich auf einer Bühne mit Pfeilen bewerfen lassen (um zu testen, wie weit der Mensch gehen kann!!! Als ob Kriegsbrichtserstattungen dies nicht ausreichend belegen), ein Künstler der eine Kuh aus einem Huschrauber werfen ließ (um anschließend bei VIVA! das Fleischkonsumverhalten der Menschen anzuprangern - wahrscheinlich gab es anschließend im Catering Curry-Wurst) - da lob ich mir doch Herrn Nitsch mit seinen durchaus begründeten Mysterienspektakel. Was heute Ereignis, Sensation, Event usw. alles aussagen möchte. Aber kann man Dummheiten dieser Art heutzutage noch nachhaltig und sinnbringend befragen, wenn uns das Fernsehen den "normalen" Menschen in seinem banalen Alltag täglich in die Stube spült. Talk-Shows, Real-Life-Soaps, Doko-Soaps zeigen uns menschen bei Vaterschafts-testen, toiletten-säubern, Bretterbohren, Unterwäsche durchstöbern bei der Suche nach Partnerschaft, dicke Menschen beim Abspecken, anschließend in der Schuldnerberatung, Schwangerschaftsfaltern, brüllende, keifernde, sabbernde Krass-Gestalten, die nicht in der Lage sind, einfachste Sätze zu formulieren, Politiker in Talkshows mit breitem Grinsen Dringlichkeiten ausspuckend. Wie sang Nina Hagen vor etlichen Jahren "Ich kann mich gar nicht entscheiden, ist alles so schön bunt hier". Künstler wissen, daß Buntheit farblos ist. Die Welt bleibt spannend allemal - auch wenn die Menschen immer häufiger lediglich auf ihr herumtorkeln. Die Dekadenz des guten Geschmacks ziehe ich allemal der eines audgeblähten Nullerlebnisses vor.

Literatur ist der Katholizismus der Intellektuellen. Der Katholik glaubt an das Jenseits, und der Schriftsteller und Intellektuelle glaubt an das Jenseits des Werks. Leider täuschen sich beide. Es ist modern, kritische Literatur zu machen. Wenn es aber darum geht, daß nicht nur die Kunst, sondern auch der Autor kritisch sein sollte, ist von kaum jemandem etwas zu vernehmen. Die meisten wollen es sich mit niemandem verderben und meinen, sie seien nur die wehrlosen Opfer des Marktes. Literatur hat sich dem Druck des Marktes ergeben, hat sich ebenfalls in die Marketing–Abteilungen outsourcen laßen und funktioniert dort prächtig. Solange sie nicht wehtut, solange sie schöne Fluchtbedürfnisse in einer kalten Welt bedient. Geschichten werden einem bei jedem Kommerzsender angeboten. Inhalt jedoch heißt erst einmal Stoff und dessen Durchdringung. ‚Aufarbeiteten’ ist als Devise zur Mode geworden. Dabei sind die Dichter, die auf– und umgearbeitet werden, nicht so heruntergekommen wie die verschlissene Garderobe einer armen Familie. Zerschnitten aber werden sie; bleibt nur die Frage, wie viel vom alten Stoff gebraucht und wie gut die Maßschneiderei dem Bewußtsein des Publikums angepaßt wird. Daß die Stoffe auf der Straße liegen, ist blanker Unsinn. Der Stoff liegt nicht auf der Straße, vielmehr hat jeder Autor zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Stoff. Und genau diesen Punkt der stärksten Affinität, der inneren Notwendigkeit, mit dem richtigen Zeitpunkt zu treffen, darum geht es. Das bringt erst den Erzählton hervor. Der Status–Roman gefällt sich als Zumutung und straft jene Leser, die das unvergleichlich schwierige Kunststück nicht zu schätzen wissen, mit Verachtung. Der Kontrakt–Roman hingegen behandelt den Leser und seine Bedürfnisse deshalb mit Respekt, weil er ihn nicht dafür bestrafen will, diesmal nicht ins Kino gegangen zu sein. Die Literatur hat sich aufgespalten in ein zeitgeistiges Element der Wohlfühlkultur und die Sinnsuche der alten Wahrhaftigkeit. Damit ist sie ein Spiegelbild der aktuellen geistigen und politischen Zerrissenheit. Wenn man von Anfang bis Ende nur vom Glück erzählt, würde man sich zu Tode langweilen. Geschichten leben von Kontrasten. Am Ende läuft es doch darauf hinaus, daß der Künstler nicht selbst leiden muß, um Leiden zeigen zu können. Man muß das Leid verstehen und die Geschichten, die daraus entspringen. Das nennt sich atma, das Selbst, ein Ozean des reinen Bewusstseins. Es heißt, erkenne dich selbst, das ist das Feld, das ist es, wo alles herkommt, uns eingeschlossen, das ist unsere Heimat. Man ist hier und genießt es und versteht immer mehr, und man wird ganz verrückt und steht frühmorgens schon auf mit einem Kopf voller Ideen, und alles, was einen bis dahin gequält hat, hebt sich wie ein Gewicht von dir. Die Propheten des neuen Irrationalismus überleben innerhalb des von immer wechselhaften modischen Strömungen unterwanderten Literaturbetriebs vermutlich nur, wenn sie sich stilistisch eine gewisse Souveränität bewahren. Der Literaturbetrieb funktioniert sehr gut, wenn es um Karrieren geht; er funktioniert weniger gut, wenn es um Kreativität geht. Als die literarische Vereinigung Gruppe 61 gründete, war der Niedergang des Steinkohlenbergbaus bereits in vollem Gange. Das Problem kannten auch die Vertreter des Bitterfelder Weges in der DDR Anfang der 1960-er Jahre. Die Grenze zwischen schreibendem Arbeiter und arbeitendem Schriftsteller ließ sich durch Kommuniqués oder guten Willen nicht aufheben. Die alten Begriffe von Arbeit in der Literatur taugen nicht mehr. Heute faßt der Begriff des Prekariats, der, in Analogie zum Proletariat, die schlecht abgesicherten, hoch flexiblen, meist gut ausgebildeten, aber kaum organisierten Freiberufler zusammen. Man kann Literatur jedoch nicht konsensuell machen. Dann ist man dumm. Oder feige oder zynisch.

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1943Karl
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84. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 30.06.2008 um 17:25 Uhr

Lieber Atze,
deine Nörgelei hat m.E. ihre Berechtigung und ist selbstverständlich weit mehr und niveauvoller als jenes Gejammer, dessen Tonfall man u.a. aus Ärzte-Wartezimmern kennt.
Ich beobachte natürlich auch jene Verflachungstendenzen. Kabarett verkommt zur Comedy, Humor verkommt zur Albernheit,
Politische Reden verkommen zur Talkshow und Literatur offensichtlich zur gehobeneren Beliebigkeit.
Nun bin ich kein begnadeter Schreiber und kann zu meinem Leidwesen meinen literarischen Ansprüchen nur durch seltene Glückstreffer nachkommen. Daher empfinde ich mich manchmal, wenn ich mich zu irgendwelchen Verrissen hinreißen lasse, eher als überheblich.
Dennoch kann ich deiner Literatur-(kritik-)Kritik immer nur wieder zustimmen.
Herzliche Grüße
Karl


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Matze
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85. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.07.2008 um 05:56 Uhr

Lieber Karl,

ein wenig Polemik sollte schon sein:

Zitat:

Daher empfinde ich mich manchmal, wenn ich mich zu irgendwelchen Verrissen hinreißen lasse, eher als überheblich.

Die écriture automatique von Breton, Soupault, Aragon hat mich verführt und tief geprägt. Das war eine Freiheit des Ausdrucks, die ich zuvor nicht kannte. Bücher stehen nicht mit dem Rücken zur Wand. Solange dieser Grundsatz des ordentlichen Bibliothekswesens gilt, muß man sich keine Sorgen machen. Begriffe wie „Klassiker“ oder „Meisterwerk“ stammen aus dem Bildungsbürgertum; sie implizieren eine Lesehaltung der Ergriffenheit oder Bewunderung, der wir nicht mehr trauen. Selbst Germanistikstudenten flüchten sich gern in Ironie und sprechen von „Höhenkammliteratur“, wenn sie die Leitzordnerliteratur von Goethe, Kafka oder Thomas Mann meinen. Im Grunde haben uns die Vorgenannten nichts mehr zu sagen, ihre Relevanz ist der Glaube daran, daß ihre Schriften zeitlose Werte enthalten. "Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors", forderte Barthes in seinem Text »Der Tod des Autors«. Er erklärte alle Leser für verrückt, die erst eine Biografie des Autors wälzen, um einen Roman zu verstehen. Der Text, das "Gewebe von Zeichen", könne für sich selbst sprechen und brauche keinen "Autor–Gott" zur "Fixierung des Sinns". Michel Foucault legte nach mit der Frage "Wen kümmert´s, wer spricht?" und stellte lakonisch fest: "Man kann sich eine Kultur vorstellen, in der Diskurse verbreitet würden, ohne daß die Funktion des Autors jemals erschiene." Eine Kultur, in der Romane keine Autorennamen tragen. Der Bildungsbürger, bisher geborgen in der gesellschaftlichen Mitte, ist eine aussterbende Spezies. Die künstlerischen Beobachtungskuppeln sind ins Wanken geraten und im Verschwinden begriffen. Die Berserker stehen am Pranger, das Erhabene ist wieder gefragt. In Krisenzeiten soll wenigstens die Kunst Halt geben. Das Abstrahieren von äußerlichen Lebensprozessen auf die Existenz, auf das nackte Dasein, das die Existenzialisten vor über einem halben Jahrhundert vom modernen Menschen gefordert hatten hat zwangsläufig stattgefunden. Mit der Bestimmtheit, mit der das globale Erklärungsmodell Arbeit aus der Gesellschaft verschwindet, finden sich die literarischen Figuren vor diese tiefste, diese philosophischste Aufgabe gestellt: ein ganzer, ein glücklicher Mensch zu sein, jenseits aller Zuschreibungen und Lebensläufe. Wenn die Arbeit abgeschafft wird, rückt das Leben in den Mittelpunkt. Was für eine Literatur entsteht aber dort, wo der Ort der Kunst, die einst so betriebsamen Schreibstuben, Seminare, Modeateliers, Designbüros, selber zum Unort geworden ist, wo der Intellektuelle die Gesellschaft nicht mehr bloß beschreibt, sich über die Ränder seiner gesicherten Existenz beugend, sondern selber an ihre ausfransenden Ränder geraten ist? Wo zuletzt auch die Ratio schlicht wegrationalisiert wird?

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1943Karl
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86. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 01.07.2008 um 15:26 Uhr

Lieber Matze,
gerade sehe ich, dass ich bei meiner letzten Antwort deinen Namen in "Atze" verstümmelt habe. Entschuldige, war keine Absicht.
Ich glaube, wer unbeeinflusst von Werbung und Massenmedien schreiben will, der braucht ein verdammt dickes Fell, wenn es denn überhaupt möglich ist, sich diesen Einflüssen zu entziehen. Außerdem
denke ich, wir bewegen uns auf eine grenzenlose Gesellschaft hin. Globalisierung einerseits und das Eindringen in die Intimsphäre andererseits heben äußere wie innere Grenzen auf. Gleichzeitig gehen damit immer mehr Tabus verloren. Es gibt Leute, die das Grenzenlose als paradiesisch betrachten. (Obwohl - wenigstens das christliche Paradies - auch Grenzen hatte.) Mir macht Grenzenlosigkeit Angst. Mein Sohn - er ist gerade 19 und hat soeben sein Abitur bestanden - geht wesentlich bedenkenloser mit der Aufhebung von Grenzen um. Grenzenlosigkeit wird, so fürchte ich, die Beliebigkeit (auch in der Literatur) weiter befördern. Ich finde es äußerst schwierig Beliebigkeit zum Inhalt eines Gedichts oder eines nicht essyistischen Prosatextes zu machen. Denn beliebig über Beliebigkeit zu schreiben wäre ohne literarischen Wert.
Siehst du einen Weg aus diesem Dilemma?
Ich bin gespannt auf deine Antwort.
Herzliche Grüße
Karl


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Matze
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87. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 02.07.2008 um 06:54 Uhr

Lieber Karl,

Die Kulturpraktik steht nicht solitär da, sie ist Teil einer Gesamtinstallation, zu ihrer Bewertung kann ich genauso gut Vergleiche mit populärkulturellen Medien wie Kino, Fernsehen, Musik herbeiziehen. Es gibt keine E– und U–Kunst mehr, keine high– und low–brow–culture. Literatur muß sich mich nicht mehr bloß an sich selbst messen laßen, sondern in erster Linie an allem andern. Ich muß zuhause nicht die große Bibliothek der Weimarer Klassik stehen haben, um ein Gedicht für mich fruchtbar machen zu können, nein, ich brauche ein Sammelsurium an assoziativ passenden Filmen, Musikstücken, zeitgenössischen Techniken undsofort. Die Vergangenheit und die Geschichte eines Stückes interessiert mich höchstens noch in einem sehr geringen Masse, ist aber für die Verfertigung meiner Kritik nicht wichtig. Ich blicke nicht vor mich und nicht hinter mich, sondern um mich.

Zitat:

Denn beliebig über Beliebigkeit zu schreiben wäre ohne literarischen Wert. Siehst du einen Weg aus diesem Dilemma?

Kritik im Panoramablick der Globalisierung. Das Leben als Serie von Parallelschicksalen. Die vermeintlich individuelle Figur als Produkt mehrerer Realitätsfragmente. Portfolio–Existenzen. Linearität ist tot. Ein einzelner Song von Phillip Boa ist als Schlüssel möglicherweise genauso wichtig wie der ganze Goethe. Auch die Kritik selbst kann – oder muß – innerhalb dieses Wahrnehmungsgeflechts keine isolierte Existenz mehr führen. Es bleibt das schlichte, aber ehrliche Eingeständnis, daß Kunst und Kritik immer in Symbiose leben, daß es das eine ohne das andere nicht gibt, daß die Kunst Kritik zum Zweck der Öffentlichkeitsarbeit, der Multiplikation, manchmal auch der Skandalisierung braucht, und daß der große Reiz an der Kritik darin besteht, im inspirierenden Nahkontakt mit der Kunst existieren zu dürfen. Alles andere wäre gelogen.

In Zeiten zunehmender Kommerzialisierung und abnehmender Staatsgewalt werden Intellektuelle unwichtiger, sind nicht mehr auf historischer Mission, werden nicht mehr für die Stimme des Volkes oder Berater der Mächtigen gehalten. Die so genannte ‚Internetliteratur’ beschert in der elektronischen Kommunikation den Lesern eine Informationsverstopfung, die künstliche Intelligenz geht mit einem Verfall der Fantasie und Intelligenz der Menschen einher. Diese Autoren sind nicht einmal Randfiguren der holzverarbeitenden Industrie. In der Marktwirtschaft ist ihre Literatur ein Sozialfall. Ein Schriftsteller ist jemand, der aus wirklichen Stimmen andere Stimmen heraushört. Das literarische Feld, das durch diese zugleich literarische und politische Gruppierung geprägt war, läßt sich unter dadurch beschreiben, daß seine Zentralfiguren aus ihrem kulturellen Erfolg das Recht zu dissidenten politischen Stellungnahmen ableiteten. In gewisser Weise haben es Publikum, Kritik und Standesorganisationen sogar als den wirksamsten Maßstab des kulturellen Erfolgs gewertet, mit wie abweichlerischen politischen Ansichten man in der öffentlichen Diskussion durchkam, ohne daß einen die eigenen Leute zur Ordnung riefen. Die Autoren sind "Mitarbeiter einer Großindustrie, die hinter einer rational getarnten Kalkulationsmystik ihre Ausbeutung verschleiert", schrieb Heinrich Böll 1969. Unter all den am Produkt Buch Beteiligten ist der geistige Urheber der am schlechtesten Bezahlte. Die singuläre Tätigkeit, die kein anderer leisten kann, wird ökonomisch gesehen am geringsten geschätzt, auch das ist ein Gradmesser für Kultur. Es gilt gegen eine Wand des falschen Bewußtseins anzureden, der Lüge, Leugnung, Unterdrückung, der Spaltung, der Infantilität und zynischen Paralyse, die Kerkerwand des Hochmuts, der erstarrten Potenz, die Glaswand der Unwirklichkeit und die isolierende Wahnwand der Verzweiflung, die zu durchschreiten ist. Literatur zeigt wieder den Entwurf für das, was möglich ist. Wir dürfen die Wörter nicht in Büscheln hinwerfen, so wie sie gerade kommen. Wir müssen Sträuße daraus binden. Ansonsten gehen wir in diesem Ozean aus Wörtern unter. Und anstatt den Zugang zur Kultur zu erleichtern, würde wir ihn nur erschweren. Wenn diese Etüden der Leere gemeint sind, dann hätten die Kritiker Recht, auch wenn es sich um Ausnahmen handelt, nicht selten um Fälle aus der ästhetischen Provinz. Es lohnt sich diesem Affekt nachzugehen, denn in ihm wohnt, wohlwollend formuliert, ein Bedrohungsgefühl, eine symptomatische Furcht. Es ist das Gefühl, daß wir nicht wahllos mit Gedichten, mit Geschichten und Erzählungen verfahren können, weil der Mensch ein selbstinterpretierendes Wesen ist, das ohne Traditionen und Bilder verloren ist. Im Symbolischen steckt etwas von ihm selbst – und wer es zertrümmert, behält nur die negative, die bilderlose Freiheit zurück. Aus der Zerstörung von Harmonien laßen sich neue, zufällige Zusammenhänge konstruieren, welche die diffus versprengte Gleichzeitigkeit der Weltwahrnehmung weit authentischer widerspiegelt und zugleich einem momentanen Gefühl Ausdruck gibt. Es gibt Vater–Sohn–Dramen, Vater–Tochter–Dramen, mit Migranten– und ohne Migrantenhintergrund, Berlin–Romane, Leipzig–Romane, Stipendiaten–Romane, Internats–Romane, von allem etwas, alles beachtlich. Aber richtig begeistert ist niemand. Nicht einmal verärgert. Wir beurteilen Bücher, die sich auf Wirklichkeit berufen, Autobiografien, aber auch "historische Romane" nicht allein nach ästhetischen Maßstäben. Literatur erzählt Fiktionen, erfindet Geschichte und Geschichten. Das Bestreben nach Einfachheit, Halt und Bedeutung wird von Romanen stets besser befriedigt als von der Wirklichkeit. Die Literatur hat eine ethische Aufgabe: Sie hat die ungekämmte, struppige Wirklichkeit zu frisieren, in eine tröstliche Form zu bringen. Niemand würde sie deshalb heute mehr wie einst Platon der Lüge und Täuschung bezichtigen. Was aber, wenn sich die Literatur auf die Wirklichkeit einläßt? Wenn sie reale Geschichte nacherzählen will wie im historischen Roman oder im Drama? Kann sie dann lügen? Maria Stuart und Elisabeth I. etwa waren zum Zeitpunkt ihres Konflikts um einiges älter als bei Schiller – war diese Verjüngungskur nun ein genialer Kunstgriff oder eine Verfälschung der historischen Wahrheit im Dienste des Kitschs?

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1943Karl
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88. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 02.07.2008 um 15:06 Uhr

Lieber Matze,
Menschen leben auch von Mythen, die häufig Idealen näher sind als die Realitäten. Damit entstehen Ansprüche an die Art, wie wir Menschen leben könnten,. Ich meine, diese "moralische" Aufgabe sollte Literatur auch weiter erfüllen dürfen. Selbstverständlich lassen sich Mythen auch missbrauchen. Im so genannten Dritten Reich dienten die germanischen Mythen den Machthabern für deren unmenschliche Zwecke. Aber auch das christliche Buch der Bücher wird bis heute machtmissbräulich eingesetzt, obwohl es Liebe verkünden will.
Aber auch die lässt sich (offenbar ähnlich wie der Koran) bekanntlich missbrauchen.
Ich gebe dir recht: Als zeitgemäßer Autor geht es darum, aus der Realität Geschichten und Situationen herauszufiltern (u.a. durch Recherche) und diese so zu Gedichten, Geschichten etc. weiterzuschreiben, dass sie den Lesern Reflexion und Weiterentwicklung ermöglichen.
Ich hoffe, ich habe dich richtig verstanden.

Danke für deine ertragreichen Ausführungen
und herzliche Grüße
Karl


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Matze
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89. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 03.07.2008 um 05:53 Uhr

Lieber Karl,

wohl wahr, bei der B’russia texteten die Fans den lächerlichen Slogan: „Der Mythos kehrt zurück.“

Zitat:

Menschen leben auch von Mythen, die häufig Idealen näher sind als die Realitäten. Damit entstehen Ansprüche an die Art, wie wir Menschen leben könnten,. Ich meine, diese "moralische" Aufgabe sollte Literatur auch weiter erfüllen dürfen

Im alten Griechenland war der günstige Augenblick ein Gott: Kairos, der Moment, in dem Entscheidendes geschieht, was weder vorher noch hinterher so hätte geschehen können. Maetre Bourdieu demonstrierte, was die einen an den anderen auszusetzen haben, an dem Spiel um Distinktionsgewinne teilhat, das die kulturelle Form der aktuellen Klassenkämpfe darstellt. Alles, was Adorno über die Kulturindustrie, über den Kunst– und Musikgeschmack der Massen geschrieben hatte, war als wahrhaft kritische Theorie verloren zu geben. Niklas Luhmann arbeitet scharf Ideen aus, die Freud 1925 über "Die Verneinung" formuliert hatte: einen zentralen Mechanismus der gesellschaftlichen Systembildung. Verneinung, Negation (Kritik) erlaubt, adverse Themen und Informationen ins individuelle Bewußtsein respektive die gesellschaftliche Kommunikation aufzunehmen und zu bearbeiten – die endgültige Vernichtung dagegen folgt der berühmten Hamburger Devise: gar nicht erst ignorieren. Luhmanns Beobachtungen gelten auch für die kulturelle Opposition. Verrisse bereiten die Kanonisierung vor. Seine Beobachtungen haben ein allgemeines Kontingenzbewusstsein befördert, das die ästhetische Kritik gründlich entmächtigt hat. Es ist eben unmöglich, ein Buch, ein Bild, ein Musik– oder Theaterstück, einen Film durch scharfe und genaue Kritik aus dem Wahrnehmungsraum wieder zu vertreiben, im Gegenteil, das sind alles Einbürgerungsmassnahmen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts versteckt sich das Göttliche in den Verehrungsritualen der Pop–Literatur, und auch der Kairos hat hier seinen Ort gefunden. Immer wieder geschieht es, daß aus dem Nichts welche auftauchen, die den richtigen Ton zur richtigen Zeit treffen, und alle wissen plötzlich: Das ist es. Diese Magie scheint zyklischen Gesetzen zu folgen: Manchmal kann ein Prinzip, eine Geste, ein Gefühl nach Jahrzehnten wieder richtig sein, obwohl es zwischendurch ganz falsch war. Doch fassen und in Quartalspläne und Umsatzprognosen eintüten kann man den göttlichen Kairos nicht – zum Leidwesen der Plattenindustrie, die seinen Glanz zu verwalten und in Business zu verwandeln hat. Interpretation muß nicht Reduktion auf Eindeutigkeit sein, sie muß das kunstvoll Verdichtete nicht geschwätzig aufblasen zu ausufernder Redundanz. Sie kann auch die Mehrdeutigkeit bewußt machen und sich als hilfreich erweisen beim Verständnis von Strukturen, die sich gerade nicht ohne Rest auflösen laßen in Sätze der Alltagslogik. Die offene Gesellschaft stößt nicht nur auf Widersacher, die von außen kommen. In ihrer Mitte leben Menschen, die der Offenheit und der damit verbundenen Anstrengungen – unendliche Diskussionen oder verschärfte Selbstverantwortung – müde werden. Die Feinde der Freiheit und die von der Freiheit Überforderten sind es, die mich zu einem Bekenntnis bewogen haben. Ich lege es stellvertretend für die Moderne ab und fordere die Leser dazu auf, es mir gleichzutun. Gewiß, das Bekenntnis ist nicht gerade das typische Medium einer Zivilisation, die den Zweifel, die Skepsis und die Kritik kultiviert hat. Aber, bedrängt von vormodernen Glaubensbekenntnissen, sieht sich auch die Moderne, ohne selbst eine Religion zu sein, dazu herausgefordert, durch öffentliche Artikulation ihrer Prinzipien genau das zu leisten, wozu Glaubensbekenntnisse in der Religionsgeschichte immer gedient haben: Selbstvergewisserung und Grenzziehung. Dabei will mein Bekenntnis zur einen Kultur des Abseitigen keines des unverbrüchlichen Glaubens sein, sondern ein Vermutungsbekenntnis. Dieser Vorsicht entspricht, daß die Selbstvergewisserung nicht in ein – sprichwörtlich stinkendes – Selbstlob abgleiten soll. Für die Zukunft des Westens ist es entscheidend, das Augenmerk auf das Privatleben zu lenken und es als Quelle des Selbstbewusstseins zu erschließen. Die Menschenrechte und den Rechtsstaat zu verteidigen, reicht nicht hin. Ausgeblendet wird dabei dasjenige, wofür unabhängige Literatur gut sein soll, zu welchem Zweck also die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens geschaffen worden sind: nämlich für die individuelle und höchstpersönliche Suche nach Erkenntnis. Nachdem das Steigerungsspiel die Moderne motorisiert und den Horizont der Möglichkeiten ins Unendliche erweitert hat, ist es dringend nötig, an den Fähigkeiten zu arbeiten, die gewonnenen Spielräume mit Sinn und Verstand auszukosten. Die Talente sind dem Menschen zur Glückssuche mitgegeben, sie müssen gepflegt und vermehrt werden, eine Moral der Selbstentfaltung ist erstrebenswert, wenn die Moral der Selbstbezogenheit zu einer Moral wird, die mich anderen verpflichtet.

Grüßken, Matthias Hagedorn

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