Die Diskussion über dieses Thema weitet sich offenbar national zu einer grundlegenden Moraldebatte aus.
Alexander Mitscherlich, über seinen Tod hinaus angesehener kritischer Geist, formulierte bereits in "Die Unfähigkeit zu trauern" (Piper, München 1967) folgendes:
Zitat:
...Die mit dem Führerkult verbundenen Gruppenbildungen wie HJ, BDM etc. entsprachen einem genuinen Bedürfnis der Adoleszenten nach gegenseitiger Identifikation per Gruppe der Gleichaltrigen... In der damaligen Zeit pflegte dies zudem mit dem blinden Einverständnis der Eltern einher zu gehen. Von einem Massenidol wie Hitler, das die Wertwelt der Eltern weitgehend in den Schatten drängte, um neue Werte zu diktieren, gingen starke Anregungen zu solcher Gruppenidentifikation aus. Die Möglichkeit solcher Beeinflussung junger Menschen wurde im Dritten Reich sehr geschickt manipuliert...
Daraus resultiert die "Relativierung der Moral":
Zitat:
Wir finden Moral immer als etwas Fertiges vor. Auch wenn sie sich wandelt, der Prozess, in dem wir sie erlernen während unserer Kindheit und Jugend, gibt uns den Eindruck von etwas Abgeschlossenem und Unveränderlichem. Die Menschen aller heute lebenden Kulturen erwerben subjektiv für die in der jeweiligen Kultur gültige Moral den gleichen Eindruck... und es überfällt uns später leicht eine Art Schwindel, wenn wir uns davon überzeugen müssen, dass man sein Leben auch unter einer anderen moralischen Formel führen kann als der, die uns in unserer Kindheit als die selbstverständliche übermittelt worden ist...
Natürlich ist Grass Schriftsteller, natürlich steht er damit als moralische Instanz im Visier der Öffentlichkeit, aber natürlich ist er - wie wir alle - nur ein Mensch, der einmal ein unreifer Jugendlicher war.
Und wie Nietzsche schon wusste: "Auch der Mutigste von uns hat nur selten den Mut zu dem, was er eigentlich weiß.". Gezeitenlos
Matze
Mitglied 719 Forenbeiträge seit dem 09.04.2006
P.S. Auch ein anderer Gebißträger hat ins Klo gegriffen. Gabriel Garcia Marquez hat in der kubanischen Parteizeitung Granma eine Lobeshymne auf den großen Caudillo Fidel Castro abgeseicht, das peinlich Elaborat beginnt mit: "Seine Hingabe an das Wort." Danach geht es um Inspiration, Leidenschaft, Anteilnahme, eine eiserne Konstitution, um intellektuelle Neugierde, Kombinationsvermögen, gigantischen Lesehunger und andere Tugenden des charismatischen Führers. Da fallen mir nu noch die Worte des verehrten Trappa Toni ein: "Was erlauben, Strunz:"
Herr Aldi
Mitglied 106 Forenbeiträge seit dem 21.05.2005
Da fallen mir nu noch die Worte des verehrten Trappa Toni ein: "Was erlauben, Strunz:"
Der Ball ist rund. Ein Spiel dauert neunzig Minuten. Abseits ist, wenn der Schiedsrichter pfeift. So wird versalia nun auch noch zum Fußballforum.
Grass´ spätes Eingeständnis lässt seine Kritik an der Nazi-Vergangenheit anderer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mehr als scheinheilig und selbstgerecht erscheinen, insofern darf er sich über das, was nun an Scheinheiligem und Selbstgerechtem zurückkommt, eigentlich nicht beschweren. Was solls, die Diskussion lässt mich irgendwie recht kalt, gibt es momentan keine wichtigeren Probleme, über die nachgedacht werden sollte? Wie entwürdigt man den Tod am besten? Indem man den Willen hinterlässt, im Sarg auf den Bauch gelegt zu werden. (Wolfgang Hildesheimer)
Hermes
Mitglied 447 Forenbeiträge seit dem 23.01.2006
Diese Nachricht wurde von Hermes um 23:37:41 am 16.08.2006 editiert
Zitat:
Was solls, die Diskussion lässt mich irgendwie recht kalt, gibt es momentan keine wichtigeren Probleme, über die nachgedacht werden sollte?
Sicher, aber da mittlerweile über dreissig Antworten zum Thema vorliegen, drängt sich mir der Verdacht auf, dass wohl eher nicht - in Bezug auf die Literatur.
In "aspekte extra" stellte Martin Walser heute abend übrigens folgende These auf:
Der spezifische Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit habe es Grass unmöglich gemacht, mit seinem Bekenntnis zu einem früheren Zeitpunkt an die Öffentlichkeit zu gehen...
Nebenbei: Die Autobiographie "Beim Häuten der Zwiebel" soll nicht erst wie ursprünglich geplant ab dem 01. September 2006, sondern ab sofort erhältlich sein... Diffuses Halbwissen.
Gast873
Mitglied 1457 Forenbeiträge seit dem 22.06.2006
Derweil gab der Steidl Verlag bekannt, dass das neue Grass-Buch "Beim Häuten der Zwiebel" ab sofort im Handel sei. Der ursprünglich für den 1. September vorgesehene Verkaufsbeginn sei angesichts der aktuellen Debatte um Grass vorgezogen worden. Die Startauflage des Buches betrage 150.000 Exemplare. Beim Internetbuchhandel Amazon steht Grass´ Kindheits- und Jugend-Autobiografie auf Platz eins der Vorbestellungsliste. Diffuses Halbwissen.
Matze
Mitglied 719 Forenbeiträge seit dem 09.04.2006
Daraus ein Auszug. In dem Kapitel „Wie ich das Fürchten lernte“ beschreibt GraSS seine Erinnerungen an die Kriegszeit. Er nennt die näheren Umstände seines Einberufungsbefehls nicht und beschreibt die Zeit bei der Waffen-SS ab der Seite 121, wie in folgenden Wortlaut-Auszügen dokumentiert:
„Der Zwiebelhaut steht nichts eingeritzt, dem ein Anzeichen für Schreck oder gar Entsetzen abzulesen wäre. Eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben, die jeweils dann zum Einsatz kam, wenn ein Fronteinbruch abgeriegelt, ein Kessel wie der von Demjansk aufgesprengt oder Charkow zurückerobert werden mußte. Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig. Dem Jungen, der sich als Mann sah, wird vor allem die Waffengattung wichtig gewesen sein: wenn nicht zu den U-Booten, von denen Sondermeldungen kaum noch Bericht gaben, dann als Panzerschütze in einer Division, die, wie man in der Leitstelle Weißer Hirsch wußte, neu aufgestellt werden sollte, und zwar unter dem Namen ´Jörg von Frundsberg´. Der war mir als Anführer des Schwäbischen Bundes aus der Zeit der Bauernkriege und als ´Vater der Landsknechte´ bekannt. Jemand, der für Freiheit, Befreiung stand.
Herr Aldi
Mitglied 106 Forenbeiträge seit dem 21.05.2005
Gestern sah ich - eher ungewöhnlich für mich - die 19-Uhr-Nachrichten im ZDF. Gegen Ende der Sendung gab es auch einen Bericht über Günter Grass, der unter anderem Stimmen aus der deutschen Literaturwelt beinhaltete. Erschrocken hat mich die Zusammensetzung derjenigen, die da öffentlich ihren Senf dazugaben: zunächst, mit Zornesröte im Gesicht, Hellmuth Karasek (Jahrgang ´34), dann Walter Jens (Jahrgang ´23), schließlich noch angesprochener Martin Walser (Jahrgang ´27). Das passt zwar einerseits zu einer Diskussion über einen, der selbst 1927 geboren wurde, andererseits - ist das die deutsche Literatur? Ein abgehobener Altherrenverein? Wie entwürdigt man den Tod am besten? Indem man den Willen hinterlässt, im Sarg auf den Bauch gelegt zu werden. (Wolfgang Hildesheimer)
bodhi
Mitglied 741 Forenbeiträge seit dem 08.12.2004
Das passt zwar einerseits zu einer Diskussion über einen, der selbst 1927 geboren wurde, andererseits - ist das die deutsche Literatur? Ein abgehobener Altherrenverein?
Wen hätte man denn Deiner Meinung nach hinzuziehen sollen? Diffuses Halbwissen.