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Literaturforum: Globale Orgasmen


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Forum > Politik & Gesellschaft > Globale Orgasmen
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 Thema: Globale Orgasmen
Matze
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10. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 26.07.2008 um 05:43 Uhr

Lieber Karl,

Du vermutest richtig, dieser Austausch ist doch das Salz in der Forensuppe.

Zitat:

die Künstler - und vor allem auch die Literaten - lassen sich leicht nach dem scheinbar eindeutigen Motto "Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg" dazu verführen, einen Ersterfolg zu einem erfolgreichen Muster zu vervielfältigen (PR-Gag).

„Das Leben nennt der Derwisch eine Reise,/ Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen / Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter. / Ich will auf halbem Weg mich niederlassen!“ So, gequält von Todesgedanken, der Prinz von Homburg in dem gleichnamigen Schauspiel des Heinrich von Kleist. Die Stelle aus dem deutschen Drama erinnert mich an eine Entwicklung aus den
Niederlanden. Im 17. Jahrhundert spezialisierten die meisten Maler auf eine Malweise, ein Genre oder Detail innerhalb eines Bildes. Malereien entstanden in mehreren, oft von verschiedenen Maler–Spezialisten ausgeführten Arbeitsgängen. Einer übernahm die Leitung bezüglich Komposition, Koordination der Arbeitsabläufe und Finishing. Diese Gemeinschaftsprojekte stellten eine günstige und effiziente Art der Gemäldeproduktion dar. Es gibt viele Theorien über den Ursprung der Abstraktion. Befriedigend sind sie alle nicht. Vor allem erklärt keine, was eine halbe Generation von im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts geborenen Künstlern dazu ermächtigt hat, nach der Jahrhundertwende das Gegenständliche im Bilde zu streichen. Und ‚streichen’ ist etwas anderes, als malerisch über das Erscheinen der Dinge im Bild nachzudenken, wie es Cézanne vorgedacht hat. Es mag auch von heute aus so aussehen, als hätten sich auf den späten Seerosen–Bildern Monets alle Erscheinungen in ihre farblichen Stoffe aufgelöst. In Wahrheit hat der Maler nie etwas anderes als das Wunder des Gartens, das Wunder der Natur gemalt. Streichen ist noch viel radikaler, es meint auch auf das Stoffliche verzichten zu wollen. Es ist dem reizverwöhnten Auge, dem vollends enthemmten Blick kaum mehr vorstellbar, daß es einmal den Kampf um die Bilder gab, daß da heftige Leidenschaften entflammten, bei der öffentlichen Verhandlung der Zumutungssache Kunst. Kann man nach all den Erfahrungen mit dem unüberschaubar gewordenen künstlerischen Artenreichtum noch verstehen, wie die Menschen vor im 20. Jahrhundert Jahren vor Bildern standen, aus denen die Künstler die Gegenstände vertreiben wollten?

Grüßken, Matze

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1943Karl
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11. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 26.07.2008 um 19:44 Uhr

Lieber Matze,
was du zu nachtschlafender Zeit schon alles in die Tastatur hauen kannst. Kompliment.
Im Bereich der bildenden Kunst bin ich allenfalls ein Dilettant. Somit kann ich auch nur Vermutungen über das Verschwinden des Gegenständlichen aus der bildenden Kunst anstellen.
Ich vermute also, die Künstler haben versucht, in Form eines Kunstkults mit Hilfe der Abstrahierung (die ja im eigentlichen Sinne gar nicht nur Entgegenständlichung bedeutet sondern etwas gedanklich verallgemeinern und zum Begriff erheben will) religiöse Vergeistigung zu nutzen. Abstrakte Bilder zwingen den Betracher, Deuter zu werden oder sich die Bilder von Kunstsachverständigen ("Priestern") deuten zu lassen. Ich will das überhaupt nicht bewerten, da Gegenständlichkeit möglicher Weise eher dem Materialismus Vorschub leistet.
Jene abstrahierende Vergeistigung hat für mich selbstverständlich auch einen Eigenwert. Aber irgendwie erinnert mich da alles so an die Aufnahme der leiblich ("gegenständlichen") Gottesmutter Maria in den männlichen Gottesgeisthimmel. Während Jesus als Gottes Sohn mit Rückfahrkarte zur Vergeistigung 33 Jahre Leiblichkeit erleben durfte.
Wahrscheinlich ist das nicht gerade eine kunstwissenschaftlich haltbare Position, die ich mir hier zurecht gelegt habe. Aber irgendwie hatte es die abendländische Kunst immer mit der Religion. Und nach dieser engen Verbindnung kann es doch sicherlich auf seiten der Künstler zu Emanzipationsbedürfnissen gegenüber der sakraklen Kunst kommen, ohne dabei gleichzeitig auf (Kunst-)Anbeter verzichten zu wollen.
Ob ich mit diesen Thesen allerdings Verknüpfungskompetenz beweise, bleibt selbst mir eher zweifelhaft.
Herzlichen Gruß
Karl


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Matze
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12. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.07.2008 um 08:48 Uhr

Lieber Karl,

damit bist Du nicht allein:

Zitat:

Im Bereich der bildenden Kunst bin ich allenfalls ein Dilettant. Somit kann ich auch nur Vermutungen über das Verschwinden des Gegenständlichen aus der bildenden Kunst anstellen.

Der Konflikt moderner Kunst in zwei knappen Sätzen resümieren. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ sagt Joseph Beuys. „Jeder Künstler ist ein Mensch“, entgegnet Martin Kippenberger. Der eine will hoch hinaus, will mit Kunst die Welt heilen, der andere viel lieber zurück auf den Teppich. Die eine Seite reklamiert Ideologie für alle, die andere Anarchie für sich selbst. Im Zeitalter der Kunst als Aktie, kann man sicher sagen, daß die Person Beuys zwar berühmter, Kippenbergers Programm aber weitaus zeitgemäßer ist. Mit dem Untergang des Bürgertums verabschiedet sich die Kultur, die Entwicklung des globalisierten Kapitalismus breitet sich als kalte, hoch reflektierte, gefühllose Welt aus, die von Prinzipien der Effizienz, der Kalkulation und der Rationalisierung beherrscht wird, also in entfremdende Lebensformen mündet. Nicht zuletzt die Psychoanalyse Freudscher Prägung hat Einzug in die Mitarbeiterrekrutierung der Unternehmen gehalten. Die Wirtschaft erkennt, daß sich der Profit steigern läßt, wenn sich die Mitarbeiter nicht nur den Abläufen gut anpassen können, sondern wenn sie in diese Abläufe auch eine anregende Emotionalität einzubringen verstehen. Verkaufspersonal, das bei seiner Einstellung anhand von Tests seine emotionale Kompetenz beweisen muß, erhöht den Umsatz. Wer über emotionale Kompetenz verfügt hat bessere Berufsaussichten, vor allen Dingen in vielen Berufen der Mittelschichten, für die diese emotionale Kompetenz zu einer wichtigen ökonomischen Ressource avanciert - was sich auch auf deren Internet gestütztes Paarungsverhalten positiv auswirkt. Wenn die Zeitgenossen zunehmend von den traditionellen Lebenswegen abweichen wollen oder müssen, wenn es ihnen dabei schnell an Orientierung mangelt, dann verheißen Psychotherapien ihnen mit einem höheren Maß an Selbstverwirklichung ein größeres Maß an Glück. Peinlich nur, daß sich das zumeist als Illusion herausstellt. Denn je mehr solche Therapien um sich greifen, umso kränker werden die Menschen und nicht etwa gesünder. Freud hat uns alle zu Neurotikern erklärt und damit einen gewaltigen Markt geschaffen - längst nicht nur für Psychoanalytiker. Therapeuten wie Pharmaindustrie entwickeln denn durchaus ein gesteigertes Interesse daran, daß die Menschen zunächst einmal erkennen, daß sie überhaupt krank sind, oder wenigstens ihre emotionale Kompetenz verbessern sollten - was vielleicht auch das eine oder andere Beruhigungsmittel bewirkt. Das Böse erregt wahrhaft Schrecken, wenn es unvermittelt auftritt, urplötzlich, wie aus dem Nichts kommend, autonom - Karl Heinz Bohrer hat dieser Problemlage eine ganze Kunstphilosophie gewidmet. Sie gilt auch für die so genannte Globalisierung.

Zitat:

Ich vermute also, die Künstler haben versucht, in Form eines Kunstkults mit Hilfe der Abstrahierung (die ja im eigentlichen Sinne gar nicht nur Entgegenständlichung bedeutet sondern etwas gedanklich verallgemeinern und zum Begriff erheben will) religiöse Vergeistigung zu nutzen. Abstrakte Bilder zwingen den Betracher, Deuter zu werden oder sich die Bilder von Kunstsachverständigen ("Priestern") deuten zu lassen.

Das erinnert mich an eine Analyse von Robert Walser, die er unter "Bedenkliches" publizierte hat, eine Kriegserklärung an die literarische Gesellschaft. Walser sagt darin, er habe genug von dieser "schwatzhaften Moderne". Und er empfinde es als einen Verrat an der Poesie, wie man in Berlin die Literatur betreibt. Er sprach von der "dummen Erfolgsfabrik". Walser hat das Gefühl gehabt, daß dieser Betrieb umfassend zynisch ist, daß alle Artisten, das, was sie tun, eigentlich verachten und nur um der gesellschaftlichen Geltung und des Erfolgs willen handeln. Mein Interesse an der Wirklichkeit, ihren Bedingungen und Äußerungen, gilt seit den 1970-ger Jahren gesellschaftlichen Systemen mit ihren Verflechtungen von Politik, Wirtschaft und Kultur. Das große Geld, das früher in alte Meister, Impressionisten oder die Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts ging, sucht neue Wege. Diese Werke sind fast ausverkauft, für einen Warhol oder eine Arbeit von Jasper Johns werden Millionen gezahlt. Die jungen Reichen beginnen mit Kunst des 21. Jahrhunderts. Für sie macht es wie bei der Börse keinen Sinn, eine Aktie auf dem Höchststand zu kaufen, sie erwerben lieber Aktien von einem jungen Unternehmen, also einem kommenden Maler oder einer bestimmten Richtung. Zum Beispiel die Leipziger Schule – da spielt es keine Rolle, wie gut das Bild ist, denn wenn ich zu den Käufern der ersten Stunde gehöre, selbst wenn es sich später als Makulatur herausstellen sollte, gibt es zunächst eine Preissteigerung. Nahezu siebzig Prozent der Kunstkäufe werden spekulativ getätigt. Die Qualität des Bildes selber ist nicht tangiert. Bei den rasanten Wertsteigerungen kommen die Investmentberater ins Spiel. Die Banken bilden Kunstfonds, die Anlegern für ihr Portfolio Anteile an Bildern empfehlen. Das geschieht vor dem Hintergrund knapper Ware, denn Kunst ist eben nicht wie Funktionsgüter zu steigern. Das Museum ist ebenfalls involviert – bis hin zur Tragik. Es hat seinen ursprünglichen Anspruch nahezu verloren. Das Museum muß Erfolge nachweisen, um Budgets zu erhalten. Die Auseinandersetzung mit der Kunst allein bringt noch keine Besucherzahlen. Früher waren die Museen durch ihre Käufe noch richtungsweisend. Heute können sie bei den ungeheuren Preissteigerungen weder mithalten noch diese beeinflussen. Dennoch müssen sie Werke der berühmten Künstler zeigen. Womit sie im Schlepptau von Sammlern und Händlern sind. Gleichzeitig spült der Markt in immer kürzeren Abständen Künstler nach oben. Die Schätzpreise in den Auktionskatalogen liegen bei 100 000 Euro. Diese Preise entstehen ausschließlich durch Spekulation. Künstler ohne Museumsausstellungen und öffentliche Auseinandersetzung werden plötzlich hoch gehandelt werden. Es werden ca. 50 % der Werke über das Internet an unbekannte Kunden verkauft. Es geht gar nicht darum, das Original zu erleben, sondern etwas Wertsteigerndes zu erwerben. Die ungeheure Geschwindigkeit von Produktion und Vermarktung kann der Kunst nicht förderlich sein. In seiner Vorrede zum „Sachsenspiegel“, dem wichtigsten Rechtsbuch des Mittelalters, wünschte Ritter Eike von Repgow 1236 all denjenigen Aussatz und Hölle, die sein Werk entstellen – heute würde man sagen: die es überschreiben und remixen. Remixen ist natürlich auch eine Leistung. Das „geistige“ Eigentum ist so flüchtig wie nie; es bezeichnet nicht nur die darin investierte Substanz, sondern auch den Aggregatzustand dieses Eigentums.

Zitat:

Aber irgendwie erinnert mich da alles so an die Aufnahme der leiblich ("gegenständlichen") Gottesmutter Maria in den männlichen Gottesgeisthimmel. Während Jesus als Gottes Sohn mit Rückfahrkarte zur Vergeistigung 33 Jahre Leiblichkeit erleben durfte. Wahrscheinlich ist das nicht gerade eine kunstwissenschaftlich haltbare Position, die ich mir hier zurecht gelegt habe. Aber irgendwie hatte es die abendländische Kunst immer mit der Religion. Und nach dieser engen Verbindung kann es doch sicherlich auf seiten der Künstler zu Emanzipationsbedürfnissen gegenüber der sakraklen Kunst kommen, ohne dabei gleichzeitig auf (Kunst-)Anbeter verzichten zu wollen.

"Worauf bin ich stolz – und darf ich stolz sein als Künstler?", fragt sich der Romantiker Friedrich Schlegel um 1800 und gibt gleich die Antwort, "auf den Entschluß, der mich auf ewig von allem Gemeinen absonderte; auf das Werk, was alle Absicht göttlich überschreitet; auf die Fähigkeit, was mir entgegen ist, anzubeten." Von Wackenroder über Wagner bis zur Weihedichtung nationalsozialistischer Thingspiele, von Schinkel über Bruno Taut bis Speer müht man sich um eine Gemeinde bildende Kunstpraxis. Die mehr oder weniger großen Gemeinden scharen sich dabei um ein Künstlergenie, umgeben von der Gloriole eines Heiligen oder seines Apostels. Stets tritt dabei die Kunst mit dem totalitären Anspruch auf, einen besseren Menschen zu bilden – am Ende bereit dafür zu segregieren, auszumerzen, "Gemeine" zu tilgen. "Die Kunst ist eine erhabene und zum Fanatismus verpflichtende Mission", verkündete Adolf Hitler. Was ich bei Neo Rauch faszinierend finde, ist, dass sein Werk eigentlich Ernst–Jünger–artig anfängt: Der fragmentierte Offizier, der Handwerker auf der Suche nach Beschäftigung inmitten einer konservativ–surrealen Welt. In dieser Phase konnte man ihn einen konservativen Modernen nennen, dessen Werk etwas über die Gesellschaft aussagt, über den Verlust des Manuellen zum Beispiel. Er beschreitet nun aber den Weg dieses Könnertums immer weiter. Das ist auch logisch und erfreulich, aber sein Werk ergeht sich jetzt in Einfällen: Frauenaugen verwandeln sich in Spiegeleier, die Bücher lesen, welche in gotischen Lettern gefasst sind, die wiederum von Triangeln gefasst werden, während sich von oben links interessant und faszinierend gemalte Monster nähern – und im Hintergund entfalten sich vielfarbige Horizonte. Er ist der Meister der irren Effekte, der faszinierenden Einfälle, aber ideologisch gesehen ist diese Malerei Elfenbein: ein verrückter Surrealismus. Ein Mann tagträumt sich durch die Welt. Auf einem hohen Niveau. Aber ich finde seine Bilder vor allem gut als abstrakte Bilder. Bei ihm bleibt das Virtuose insofern experimentell, dass man immer überrascht wird von den Oberflächeneffekten. Jede Marke, jedes Produkt, das mit Kunst und Kunstsponsoring beworben wird, funktioniert über diese geborgte beziehungsweise gekaufte "spirituelle" Schiene, den Transfer des Außerordentlichen, des Heiligen. Heiligung und Auratisierung selbst noch hier: Noch bevor Kunst und Künstler der diesjährigen Documenta 12 bekannt gegeben sind, wird mit einer neuen Ausstellungshalle, die wie eine postmoderne Saint–Chapelle in der Kasseler Karlsaue liegen soll, für das große Ereignis geworben. Bei jedem Museumsbesucher ist ein Rest religiöser Devotionspraxis zu beobachten, wenn er sich zu dem Schildchen mit Werktitel und Künstlername neigt. Und hat er sich nicht, bevor er ins museale Allerheiligste eintrat, wie der Kulturtourist an der Saint–Chapelle schon Stunden vorher in eine Schlange eingereiht, die an kirchliche Bitt– und Bußprozessionen früherer Zeiten erinnert?

Soweit das Wort zum Sonntag, Matze

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Matze
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13. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.07.2008 um 12:25 Uhr

Ein Nachtrag: Wie ich lese sind Festspiele fast so alt wie die Geschichte Europas. Schon die Griechen der Antike kannten verschiedene Formen von Festspielen, die zumeist eng mit Religion und Politik verbunden waren. Wo es festliche Aufführungen von Tragödien gab, galten diese nie nur als theatrale Ereignisse, sondern hatten stets auch einen kultischen und politischen Charakter. Antike Festspiele waren zum einen "Gottesdienste", in denen die Handlungen der Götter und ihr Eingreifen ins menschliche Leben dargestellt wurden, zugleich aber auch ihr Schutz herbeibeschworen wurde.

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1943Karl
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14. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 27.07.2008 um 17:00 Uhr

Lieber Matze,
es ist für mich immer wieder faszinierend, zu welchen Schlüssen und Verbindungen du über meine gehaltlich eher geringfügigen gedankliche Anstöße kommst. Dabei will ich mich übrigens hier nicht als der geniale Vorlagen-Geber präsentieren. Im Gegenteil - ich profitiere vor allem von deinem offenbar nahezu unbegrenzten Wissen.

Vielleicht liegt es nur an meinem naiven Idealismus, der den Markt aus dem Kunstbereich wenigstens teilweise herausdrängen möchte. Grade auch Kunst-Spekulationen werden ja weniger durch den ideelen Wert des Werkes in die Millionen-Euro-Bereich getrieben. Sondern sie gehorchen eher den Gesetzen der Auktion nach dem Motto, wenn schon Millionär NN so hoch bietet, dann muss mit diesem Kunstwerk noch mehr Gewinn zu machen sein. Auch die Fußballstars an sich spielen ja eigentlich, obwohl ihr Marktwert ständig steigt, nicht wirklich von Jahr zu Jahr immer besser und besser. Nur einst wurde für die möglicher Weise sogar noch großartigere sportliche Leistung (da auch ohne Doping) weniger Geld geboten.
Letztlich denke ich sogar, das künstlerische Niveau muss fallen, obwohl von Jahr zu Jahr mehr dafür geboten wird.
Eigentlich ist Geld doch nur das Mittel, das den bedingten Reflex auslöst, für den der Pawlowsche Hund (sprich Kunstgenießer) schließlich nicht einmal mehr ein kleines Stück Futter bekommen wird.
Und möglicher Weise verhält es sich mit dem kultischen Gewinn der Kunst demnächst ebenso.
Lieber Matze, was denkt du dazu?
Herzliche Grüße
Karl


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Matze
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15. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 28.07.2008 um 10:07 Uhr

Diese Nachricht wurde von Matze um 10:09:34 am 28.07.2008 editiert

Lieber Karl,

leider ist et esu:

Grade auch Kunst-Spekulationen werden ja weniger durch den ideelen Wert des Werkes in die Millionen-Euro-Bereich getrieben. Sondern sie gehorchen eher den Gesetzen der Auktion nach dem Motto, wenn schon Millionär NN so hoch bietet, dann muss mit diesem Kunstwerk noch mehr Gewinn zu machen sein. Auch die Fußballstars an sich spielen ja eigentlich, obwohl ihr Marktwert ständig steigt, nicht wirklich von Jahr zu Jahr immer besser und besser. Nur einst wurde für die möglicher Weise sogar noch großartigere sportliche Leistung (da auch ohne Doping) weniger Geld geboten.

Der Geist, so hat Hegel gelehrt, ist nicht ein Ruhendes, sondern vielmehr „das absolut Unruhige, die reine Tätigkeit.“ Die Geisteswissenschaften definieren sich mit und über Sprache, und die Sprache ist die stärkste Klammer, die die Geisteswissenschaften zusammenhält. Eine starke Klammer ist angesichts der Vielfalt der geäußerten Ansichten über Sinn und Zweck der Geisteswissenschaften auch vonnöten. Kants Kritik der Vernunft muß zu einer Kritik der Kultur werden. Es liegt ausschließlich an den Artisten, sie müssen gegen den Nivellierungstrend andere Maßstäbe setzen. Künstler wie Margareta Hesse, Peter Meilchen, Heimo Hieronymus, Tom Täger, Holger Benkel, Francisca Ricinski, A.J. Weigoni pflegen die Kunst des Möglichen – desjenigen Möglichen, das Wirklichkeit werden kann. Wissen, politische und soziale Erfahrung allein sind noch kein Garantieschein für künstlerische Meisterschaft. In der Persönlichkeit von Hans Haacke ist all dies vereint: ein Künstler, wie es ihn so nicht mehr gibt, und mehr als nur ein Künstler. Der Bankier Hermann Joseph Abs schenkte dem Kölner Wallraff-Richartz-Museum 1968 einen Manet. Als sechs Jahre später der vom gleichen Museum zu einer Ausstellung über ´Kunst am Anfang der siebziger Jahre´ eingeladene Künstler Hans Haacke vorschlug, die Geschichte des Bildes und seiner Besitzer zu ermitteln und diese Recherche als Kunstwerk im Museum auszustellen, lehnte der Museumsdirektor es ab, dieses Werk zu zeigen: ´Ein dankbares Museum´, so das Argument, müsse ´Initiativen so außerordentlichen Charakters vor jeder späteren, noch so leicht verschattenden Interpretation´ bewahren. Der Schatten, den Haacke in seiner Arbeit nicht verschweigen wollte, war die Rolle, die Abs im Dritten Reich bei der ´Arisierung´ jüdischen Vermögens gespielt hatte und wegen der ihm bis zu seinem Tod 1994 die Einreise in die Vereinigten Staaten verweigert wurde. Die Deutsche Bank und Daimler–Benz, zwei im Kunstsponsoring tonangebende Wirtschaftsriesen, sperrt Hans Haacke in seiner 1987 entstandenen Arbeit «Kontinuität» zusammen. Über dem Logo der Bank, dem die Fotos einer Massenbeerdigung von Opfern einer Polizeiaktion in Südafrika implantiert sind, kreist der Mercedes–Stern. Gerahmte Text– und Bildtafeln klären auf über die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der Großfirmen mit Nazideutschland und dem Apartheidregime in Südafrika. Auch Saatchi & Saatchi und der Rembrandt–Gruppe erteilt Haacke in den achtziger Jahren Lektionen, bei denen es um Kunstförderung als Mittel der Ablenkung von einträglichen Geschäften mit dem südafrikanischen Unrechtsregime geht. Diese Gesellschaften verkauften die mit Hypotheken belasteten Immobilien untereinander, ein Eigenhandel, der Steuervorteile brachte. In Diagrammen, die nach futuristischen Konstruktionen aussahen, wurden die verworrenen Eigentumsverhältnisse dargestellt; zum Bild der Fassaden kam das Bild der Stadt als ein Dickicht ökonomischer Interessen und Machtstrukturen. Der Direktor des Guggenheim, Thomas Messer, lehnte die Ausstellung ab; als Edward Fry, der Kurator der geplanten Schau, das Projekt verteidigte, wurde er entlassen. Für das Unerträgliche eine künstlerische Form zu finden, die alle verstehen, ist Haackes Intention. Und so nutzt er letztens die Glasfassade des Akademieneubaus für ein Epitaph. Weiße, schwarz bedruckte Papierbahnen erinnern an Menschen, die in unserer Zeit in Deutschland ermordet wurden, „weil sie nicht deutsch aussahen“. Der Titel „Kein schöner Land“ schlägt den Bogen zu Haackes Widmung „Der Bevölkerung“ im nahe gelegenen Reichstagsgebäude. Die im Jahr 2000 entstandene Installation wird dann im Innern der Akademie mit Fototafeln und einer Videoaufzeichnung der parlamentarischen Debatte dokumentiert. Haackes Bildkommentare „Zur Lage der Nation“ fallen beeindruckend rigide aus.


Letztlich denke ich sogar, das künstlerische Niveau muss fallen, obwohl von Jahr zu Jahr mehr dafür geboten wird. Eigentlich ist Geld doch nur das Mittel, das den bedingten Reflex auslöst, für den der Pawlowsche Hund (sprich Kunstgenießer) schließlich nicht einmal mehr ein kleines Stück Futter bekommen wird.
Und möglicher Weise verhält es sich mit dem kultischen Gewinn der Kunst demnächst ebenso.

Fatal ist, daß die Museen in dieses Fahrwasser geraten sind. Die deutschen Museen haben sich in den letzten 20 Jahren nicht ernsthaft genug mit den Provenienzen ihrer Bilder befaßt. Ich wäre nervös, wenn sich in meinem Hause eine Arbeit befände, deren Vorgeschichte ich nicht kenne. Daß nachher Eigennutz und Vermarktung im Vordergrund steht, ist menschlich. Denn wenn Anwaltskanzleien 50 Prozent vom Erlös bekommen, lohnt es sich, bei Millionenobjekten scharf vorzugehen. Beim Berliner Kirchner–Bild hätte die Brücke–Direktorin sofort in die Öffentlichkeit gehen müssen – zusammen mit dem Kirchner–Archiv. Vielleicht wäre dann Hilfe vom Bund und den Ländern gekommen. Nun ist das Bild in New York zu sehen. Vielleicht müssen wir uns in der Globalisierung von dem Gedanken befreien, wem was gehört. Hauptsache, es bleibt der Öffentlichkeit erhalten. Eine öffentliche Sammlung ist eine Summe von Einzelwerken, die Additionen, aber auch Subtraktionen zuläßt, oder ein historisch gewachsenes, unteilbares Ganzes, das an einem Ort verwurzelt ist: Wem gehören die Werke in staatlichen Museen: den Direktoren und Politikern oder dem Volk? Und letztlich: Sind Museen Unternehmen und ihre Namen Marken?

Fragt sich, Matze

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16. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 28.07.2008 um 17:11 Uhr

Lieber Matze,
auch heute wieder herzlichen Dank für deine gehaltvolle Antwort.
Die Kunst des Möglichen, das Wirklichkeit werden kann... ja, damit könnte ich mich als Wert anfreunden. Ich habe mich bisher mehr der gesellschaftlichen Kritik gewidmet, allerdings mit dem Ziel, aus dem Kritisierten heraus zu positiven Ergebnissen anregen zu wollen.

Dass die Museen in jenes Fahrwasser gerieten, ist nicht verwunderlich. Die öffentliche Hand zieht sich immer mehr aus der Finanzierung der "Kunsttempel" zurück und zwingt damit die öffentlichen Galerien sich stärker wirtschaftlichen Kriterien zu unterwerfen und u.a. über Sponsoren zu finanzieren. Und die kommen vorwiegend aus der Wirtschaft, wollen in der Regel für sich werben etc. ... Damit geht auch der einst öffentliche Kunstbetrieb automatisch immer mehr den Weg, den z .V. die kommerziellen Privatsender gehen. Der Erfolg der Museen richtet sich somit letztlich auch nur nach Quoten und Werbekunden. Superlative Massenevents sind gefragt. Die Leute werden an den berühmten (bzw. berühmt gemachten) Disponaten vorbeigeschleußt. Es ist wichtig, sie gesehen zu haben. Von eingehender Betrachtung und gar anschließender Reflektion kann nicht mehr die Rede sein. Die Masse der Besucher macht das Kunstwerk interessant. Das Kunstwerk selbst hat nur zweitrangigen Wert. Die Masse macht´s und das, obwohl alle Welt vom Individualismus spricht.
Gruß
Karl


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17. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 29.07.2008 um 06:20 Uhr

Lieber Karl,

erschwerend kommt hinzu, daß den Artisten Copyright-System als Einnahmequelle wegbricht. Große Internetfirmen wie Yahoo und Google beabsichtigen, das Internet in aufzuspalten, in einen kommerziellen und einen kostenfreien Teil. Eine solche Entwicklung ist schädlich für Innovation und Wachstum. Die wichtigste bauliche Eigenart des ursprünglichen Internets ist, daß die ganze Kraft von seinen Rändern ausgeht. Menschen, die sich mit dem Netzwerk verbinden, wählen aus, was sie ins Netz stellen wollten. Die Provider können dabei nicht mitreden; sie stellen nur die Bits zur Verfügung. Wenn man anfängt, die Macht in das Zentrum des Netzes zu verschieben, schwächt dies die Innovationskraft des Internets. Wird nun für einen kostenfreien Teil Gebühren erhoben, kann man sich gleichsam von urheberrechtlichen Ansprüchen freikaufen, es entsteht eine Art Copyright-Flatrate. Es gibt eine Tradition, die fängt in der Antike an, bei Ovid, und geht über das ganze Mittelalter, Hieronymus im Gehäuse, über jeden Mönch, der etwas abschreibt. Diese Stellung des Autors beruht auf Beobachtung, nicht auf Ich–Erzählung. Ovid hat sich keineswegs versteckt. Er sagt bisweilen Ich. Wenn er in Rom Dichtung vortrug, waren dies fünf Prozent eigener Text – und dann ex tempore. Da, im Kommentar, darf der Dichter seinen Auftritt haben. Aber in dem geschriebenen Text soll er zurücktreten. Bisher funktionierte im Netz das "read-only" Modell. Ein Provider verkauft beispielsweise einen Hörspiel. Man hat das Recht, sich dieses Hörspiel anzuhören. In solch einer Welt ist das Digital Rights Management-System völlig in Ordnung, da es die Anzahl der Kopien kontrolliert und die Künstler für die Verwendung entlohnt. Aber die neue Entwicklung im Internet ist nicht, wie die Nutzer Inhalte konsumieren, sondern wie sie Contend produzieren, teilen und weiterentwickeln. Jugendliche nehmen sich beispielsweise Songs, remixen sie oder basteln aus vier oder fünf Filmen einen neuen zusammen für ein Schulprojekt. Diese Menschen gehen mit den digitalen Technologien anders um, sie remixen. Die Frage dies sich Rerchteverwerter deshalb stellen: „Sollten wir deshalb aufhören, dem Künstler eine Kompensation zu geben?“

Zitat:

ja, damit könnte ich mich als Wert anfreunden. Ich habe mich bisher mehr der gesellschaftlichen Kritik gewidmet, allerdings mit dem Ziel, aus dem Kritisierten heraus zu positiven Ergebnissen anregen zu wollen.

Das Urheberrecht berührt den Teil der produktiven Kapazitäten von Wissenschaft und Kunst. Im Feld der digitalen Technologien indes produziert beinahe jede einzelne Nutzung eine Kopie. Nicht jeder Bereich, in dem wir unsere Kultur erfahren und verwenden, wird reguliert. Das System des Urheberrechts ist zugeschnitten auf die kommerzielle Seite der Kreativität. Google beispielsweise betreibt das Projekt Buchsuche, bei dem 18 Millionen Bücher gescannt werden sollen, so daß man in diesen 18 Millionen Büchern genauso suchen kann, wie man das sonst im Netz macht. Von diesen Büchern ist bei 16 Prozent das Copyright ausgelaufen. 9 Prozent sind noch urheberrechtlich geschützt und auch lieferbar. Das bedeutet, daß die übrigen 75 Prozent dieser 18 Millionen Bücher urheberrechtlich geschützt waren, aber nicht mehr lieferbar. Nun erfordert das Urheberrecht nach Meinung der Verlage, daß man jeden Urheber um sein Einverständnis fragt, wenn das Buch digitalisiert wird und zugänglich gemacht wird, obgleich es gar nicht mehr gedruckt wird. Ein kleiner akademischer Verlag veröffentlicht spezielle Werke, sagen wir zur mittelalterlichen Geschichte. Der Verlag hat Vollzeitlektoren, die die Texte, die gedruckt werden, auswählen und verbessern. Dieser Verlag ist so spezialisiert, daß seine Bücher fast ausschließlich an öffentliche Bibliotheken verkauft werden. Nun wird debattiert, ob man den öffentlichen Bibliotheken erlauben sollte, das Buch zu scannen und auf den Monitoren der Bibliothek zur Verfügung zu stellen. Die Auswirkungen auf den Absatz des Verlages sind vermutlich verheerend. Hier findet ein, im wahrsten Sinne des Ortes, Rückfall ins Mittelalter statt und alles finden das cool und sexy.

Zitat:

Dass die Museen in jenes Fahrwasser gerieten, ist nicht verwunderlich. Die öffentliche Hand zieht sich immer mehr aus der Finanzierung der "Kunsttempel" zurück und zwingt damit die öffentlichen Galerien sich stärker wirtschaftlichen Kriterien zu unterwerfen und u.a. über Sponsoren zu finanzieren. Und die kommen vorwiegend aus der Wirtschaft, wollen in der Regel für sich werben etc. ... Damit geht auch der einst öffentliche Kunstbetrieb automatisch immer mehr den Weg, den z .V. die kommerziellen Privatsender gehen. Der Erfolg der Museen richtet sich somit letztlich auch nur nach Quoten und Werbekunden. Superlative Massenevents sind gefragt. Die Leute werden an den berühmten (bzw. berühmt gemachten) Disponaten vorbeigeschleußt. Es ist wichtig, sie gesehen zu haben. Von eingehender Betrachtung und gar anschließender Reflektion kann nicht mehr die Rede sein. Die Masse der Besucher macht das Kunstwerk interessant. Das Kunstwerk selbst hat nur zweitrangigen Wert. Die Masse macht´s und das, obwohl alle Welt vom Individualismus spricht.


Ein Jahrhundert nach dem Traum von einer L´art pour l´art im bürgerlichen Zeitalter, von einer Kunst an und für sich, schwebt dem nach allen Seiten offenen Medienmenschen nun das Idealbild eines Stars vor, der sich selbst genügt, die Viertelstunde Ruhm auf ewig ausdehnt und zur Marke wird. Es gibt kein ökonomisches Geheimnis mehr. Damit ist auch die Aura abgeschafft. Einfalt trifft auf Vervielfältigung, selbst für Windows hängt sich Robert Fripp aus dem Fenster. Für die neue Software komponierte er einen Erkennungston, die durch eine symmetrisch gebaute, aufsteigende Folge von zwei Quartintervallen bestimmt wird, die durch einen Großsekundschritt getrennt sind und eine Oktave in zwei Sprüngen mühelos durchmessen - daher der positive Charakter des Ganzen. Weil dabei aber nicht der Grundton, sondern die dominante fünfte Stufe der Tonleiter erreicht wird, entsteht ein Gefühl offener Spannung, deren Ziel, die Tonika, in greifbarer, für jeden erreichbarer Nähe scheint. Und weil der erste und dritte Ton wie Vorschläge aufmunternd, aber durchaus nicht aggressiv auf Ton Zwei (erste Stufe) und Ton Vier (fünfte Stufe) hinspringen, kommt ein sympathisch auf Aktivität gerichteter Impetus ins Spiel. Solche Methoden sind typisch für die Madrigalisten des 16. Jahrhunderts, während die unterschiedliche, aber stets ins metallisch Strahlende Einfärbung der Klänge in die Moderne verweist. Sie signalisiert höchste Vielfalt auf knappstem Raum, dessen Stimmigkeit durch den Kadenzrahmen garantiert wird. Diese Kurzanalyse der vier Sekunden dauernden Software-Ouvertüre beweist einen an Anton Webern erinnernden Strukturreichtum - kein Wunder, daß das Produktionsteam eineinhalb Jahre an diesem Stück gearbeitet hat.

"Eine leicht fassliche Methode zur Erlernung des Wahnsinns für jedermann" nannte der Dada–Künstler Kurt Schwitters die 1922 geschriebenen Memoiren seiner Angebeteten, Anna Blume. Der aufmüpfige Geist und die klischee–triefende Ironie, mit der er in unzähligen Merz–Gedichten seit 1919 seiner Anna huldigt, besitzt nach wie vor eine magische Anziehungskraft. Mit der technischen Bemächtigung des kreatürlichen Lebens hat sich auch die Idee und Praxis des Politischen zu ändern. Biopolitik kündet von den juristischen und verwaltungstechnischen Effekten, die der medizinisch–wissenschaftliche Fortschritt ermöglicht und erzwingt, vom Zugriff staatlicher Gewalt nicht auf das soziale, sondern das nackte Leben. Die Erfolge der Organtransplantation etwa nötigten zu einer rechtlichen Neudefinition des Todes des Menschen, zu der Forderung nach einer exakten Datierbarkeit des Todeszeitpunkts. Seitdem gilt juristisch als tot nicht, wessen Herz zu schlagen, sondern wessen Hirn nach Maßgabe meßbarer Merkmale zu funktionieren aufgehört hat. In der Folge "Centerfolds" verwendet Cindy Sherman ein bekanntes Muster, den weiblichen Körper speziell für männliche Blicke darzubieten – um diese desto nachhaltiger zu enttäuschen: das berühmte Ausklappbild einschlägiger Sexmagazine in der Mitte jeden Heftes, das angeblich Teile der amerikanischen Jugend mit der Vorstellung heranwachsen ließ, Heftklammern gehörten zur erotischen Ausstattung einer nackten Schönen. Träfe dies zu, wäre es der schlagende Beweis für die These, wonach sich der menschliche Körper längst in seine Darstellungsformen verflüchtigt habe. Auf „Untitled 6“ von 1977 sehen wir eine junge Frau in Miederhöschen und schwarzem Büstenhalter liegt da ausgestreckt auf einer textilen Lustwiese. Der Mund ist lasziv geöffnet, die dunkelst geschminkten Augen verlieren sich in der Ferne. Kein Fluchtpunkt ist auszumachen, mit dem sich dieses Wesen noch in der richtigen Welt, zwischen Einkaufszettel wohl und Coiffeurtermin, halten könnte. Wer freilich ein bißchen genauer hinschaut, findet – sozusagen als Daseins–Anker im aufgewühlten Linnen – ein Stück schwarzes Selbstauslöserkabel. Damit machte sich die Fotografin selbst zum Objekt nicht so sehr der Begierde, sondern des Traumes, der Kunst. Mag diese letzte Maskerade noch so naheliegend sein, so liest sie sich doch ein bißchen wie eine Fußnote zum eigenen Werk: Auch als Künstlerin bin ich immer noch eine andere als die, von der ihr meint, ich sei sie. Zur Spätmoderne gehört ja auch die Vielheit der Identitäten. Cindy Shermans Bilder sind gleichsam doppelt vermittelt. Es sind Bilder über Bilder, über Bilder von erheblicher sozialer Reichweite allerdings und einem nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die gängige Wahrnehmung jeglicher Realität. Könnte es sein, daß die erschreckten, traurigen, heiteren, verlockenden, erschreckenden und abstoßenden "personae", die Masken ihrer fotografischen Bilder deshalb so wahr anmuten, weil sie das alltägliche Lebenstheater moderner Zivilisation zwischen Wirklichkeit, Traum, Vision, Angst und Albtraum repräsentieren?

Grüßken, Matze

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1943Karl
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18. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 29.07.2008 um 18:51 Uhr

Lieber Matthias,
wieder eine lange Botschaft aus der Nacht...
Deine Kritik an den Versuchen, das Urheberrecht aus marktmachtwirtschaftlichen Gründen weiter zu unterlaufen, teile ich selbstverständlich.

Wenn ich alle gesellschaftlichen Entwicklungen zusammennehme, dann laufen wir direkt auf das System des Ameisenstaates zu, in dem nur noch Funktionen benötigt werden. Alles sollte möglichst schnell und reibungslos verlaufen. Und das Hirn, das bekanntlich ein soziales Organ ist, wird immer mehr zur Eile getrieben und individueller Denkweisen entwöhnt. Außerdem, wenn alles nur noch über den Preis geregelt wird, fördert das nicht gerade differenziertes Querdenken.
Am Ende bleibt die einzige Fluchtstätte für Persönlichkeiten mit ( wie ich meine - gesunden) "Funktionsstörungen" die Psychiatrie oder eben - so hoffe ich - doch noch die Kunst.
Vielen Dank auch diesmal wieder, dass du mir dein reiches Wissen zur Verfügung gestellt hast und herzlichen Gruß bis voraussichtlich morgen
Karl


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Matze
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19. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 30.07.2008 um 05:55 Uhr

Lieber Karl,

Du bringst mich zum Lachen:

Zitat:

Wenn ich alle gesellschaftlichen Entwicklungen zusammennehme, dann laufen wir direkt auf das System des Ameisenstaates zu, in dem nur noch Funktionen benötigt werden. Alles sollte möglichst schnell und reibungslos verlaufen.

Das alleinige Regulativ der Formschöpfung ist der Markt, der dem Werk die Stichworte und die Maßstäbe setzt. Es geht weder um Stilfragen noch um politische Theorie. Es ist wie bei Media Markt: „Hier spricht der Preis“. Und die Partys. Und wer eingeladen war: exakt jene Nachrichten also, die in Kunstzeitschriften fehlen, wo bei einem Abonnentenstamm von 6000 treuen, fachlich geschulten Lesern ums Überleben gekämpft wird. Die Kunstzeitschrift neuen Typs ist Vanity Fair. Hier kann man lesen, welcher Hollywoodstar welchen Künstler zu welchem Preis gekauft hat, und was der Star zur Kunst und Markt zu sagen hat. Der Sammler neuen Typs ist der Souverän seiner Kunst. Auch ein Lamborghini wird einmal zu Schrott gefahren. Der Kunstmarkt ist Spektakel der Geldvernichtung, das Sammeln etwas für Leute, die so viel Geld haben, dass sie es loswerden wollen. Denn Geld bekommt erst Sexappeal, wenn es in sinnlich verwandelter Form sich vorführt: als Luxus. Verschwendung und Großzügigkeit sind Ausdruck souveräner Macht, der sich in allen Kulturen findet. Kein Wunder, dass Kunst heute weltweit sofort verstanden wird. Aus dem Indianischen kommt das Wort Potlatsch: Es bezeichnet die mutwillige Vernichtung von Werten durch Opfer und öffentlich dargebrachte Geschenke. Der Häuptling erweist sich darin erhaben über den Kreislauf von Nehmen und Geben, wie ihn die blanke Notdurft des Lebens diktiert. Was ist der Grund für den märchenhaften Aufstieg bildender Kunst zur symbolischen Tauschwährung der globalisierten Welt?

Zitat:

Und das Hirn, das bekanntlich ein soziales Organ ist, wird immer mehr zur Eile getrieben und individueller Denkweisen entwöhnt. Außerdem, wenn alles nur noch über den Preis geregelt wird, fördert das nicht gerade differenziertes Querdenken.

Wenn man wie ich die Popmusik als Teil eines historischen Prozesses der soziokulturellen Nachkriegsdemokratisierung versteht, ist sie tot. Die Jugendkultur war eine Neuerfindung der Nachkriegszeit, Jugend war vorher eine romantische Idee, aber keine Warenwelt. Mit ihrem Marktwert aber erhielt die Jugend auch eine Stimme, und bis in die siebziger Jahre gab es dann kein anderes kulturelles Feld als Pop, das ein vergleichbares Versprechen auf gesellschaftlichen Wandel gemacht hätte. Die Idee des Individuums, überhaupt von Identität, Geschlecht, Sexualität, wurde wesentlich von Popmusik transportiert. Das ist vorbei. Pop war das erste kulturelle Feld, das vom Demokratisierungsphänomen zur Strecke gebracht wurde. Danach kam die Mode dran, dann das Design, im Moment erleben wir den gleichen Prozess in der bildenden Kunst: Die Massen drängen von hinten in der Schlange nach vorn, da wo die vermeintlich Progressiven ihre Domäne noch von Türstehern schützen lassen. Aber irgendwann fällt der privilegierte Zugang, und wenn alle drin sind im Club, verliert er sein Geheimnis und damit sein Veränderungsversprechen. Man kann diesen Prozess nicht aufhalten, man sollte es nicht mal. Als einzige Sparte der Kultur verläuft ihre Produktion, Zirkulation und Konsumtion parallel zu jener der Waren. Rocksänger und Filmstars fädeln sich zwar auch in diesen Kreislauf ein und verdienen gut dabei, haben aber ein Handicap in Sachen allgemeiner Verständlichkeit; ihre Produkte sind regional gefärbt von Moralvorstellungen, Erzählmustern, musikalischen Gewohnheiten. Doch das Kunstwerk als sichtbare Gabe, dargereicht im symbolischen Tausch des Potlatsch, hat die unmittelbare Evidenz einer archaischen Opferhandlung. Der Künstler ist Medienstar und Produzent von Warenfetischen. Sein Auftritt verbindet mediale Allgegenwart in Fernsehen, Internet und Regenbogenpresse mit der uralten, singulären Realpräsenz auratischer Werke. So vollführt die Starkunst heute eine betörende Zangenbewegung von Hybridität und Ursprünglichkeit.

Zitat:

Am Ende bleibt die einzige Fluchtstätte für Persönlichkeiten mit ( wie ich meine - gesunden) "Funktionsstörungen" die Psychiatrie oder eben - so hoffe ich - doch noch die Kunst.

In den Kathedralen des Konsums, die den Gläubigen den Weg ins 21. Jahrhundert weisen, sind die zu Konsumenten herabgewürdigten Menschen nur noch ein Zaungast. 70 Prozent aller Menschen wollen einfach nur einigermaßen gut leben. 20 Prozent möchten gern Chef sein, in ihrer Stadt oder ihrer Firma. Zehn Prozent sind Psychopathen. Diese zehn Prozent haben heute die Macht. Früher habe ich in Politikern auch noch menschliche Wesen gesehen. Heute nicht mehr. Ihre Gier nach Macht überwältigt alles. Aber macht es Sinn, Bush oder Putin umzubringen? Gewiss nicht, sie sind nur Symbole. Man muß zu den Wurzeln des Übels vordringen. Nehmen wir einen Konzern wie Nestlé. Seine Konzernzentrale in einem Gebäude mit vielen Geschossen und vielen Männern, fast alles Männern. Im obersten Stockwerk steht ein große Computer. Auf dieser Etage befindet sich kein menschliches Wesen. Diese Konzerne bestimmen, was angebaut wird, wovon wir uns ernähren, wie die Masse abgefüttert wird. Gutes Essen hat mit dem Erkennen von Qualität zu tun, man muß kritisch gegenüber allem sein, was nicht gut ist. Das ist genau die Attitüde, die ein demokratischer Mensch haben muß. Politiker müllen einen zu mit Sprüchen, und wenn man nicht aufpaßt, wird man stumpfsinnig und läßt sich alles gefallen. Beim Kochen ist es leider auch so. Keiner kann sich doch darauf herausreden, daß sein Metzger schlecht wäre, daß es keine guten Sachen mehr gäbe. Es gibt sie, man muß sie nur suchen und darf sich nicht mit jedem Mist abspeisen lassen. Wenn man dieser kulturkritischen Äußerungen folgt, mangelt es uns genau an dieser Haltung: Wir lassen sich alles vorsetzen und haben kein Bewußtsein für Qualität. Vor allem sind wir notorisch geizig. Elf Prozent ihres Einkommens geben wir für Lebensmittel aus, das ist beispiellos wenig. Über deutsche Köche und deutsche Gastronomie wird viel geschrieben, aber im Alltag merkt man davon nichts. Die Spitzenköche reüssieren, aber unten tut sich kaum etwas. Das paßt zur deutschen Geschichte. Revolutionen von unten sind nicht unsere Sache. Wenn wir ins Restaurant geht, dann meistens zum Lieblings-Italiener, zum Griechen oder Chinesen. Die Menschen spüren, daß ausländische Küchen reizvoller sind. Das fing in den fünfziger Jahren an, mit den ersten Balkan-Grills. Gefüllte Paprika und Cevapcici und all das. Später kamen die Italiener auf der Nudelwelle dahergeschwommen. Die Deutschen wollten in ihrer Infantilität nicht kauen, sondern nur lutschen wie Babys. Man kann das äußerlich ablesen am Angebot der Produkte, die wir kaufen können. In den Großstädten gibt es zum Beispiel eine Überfülle an exotischen Gewürzen und Früchten. Und wer sich mit verschiedenen Currysorten ernsthaft befaßt, der muß eine Vorstellung von feinem Essen haben. Das ist positiv. Aber leider gibt es auch die andere Seite. Viele Deutsche kochen heute überhaupt nicht mehr. Sie kaufen nur Fertigprodukte. Rein in die Mikrowelle, fertig. Das ist ein absoluter Einbruch in unserer kulturellen Entwicklung. Die Genussfeindlichkeit ist ein Bestandteil unseres Nationalcharakters. Das ist eine alte Tradition, die viel mit dem Protestantismus zu tun hat. Die Katholiken haben ja immer etwas lustiger gelebt, etwas bunter, schon der Gottesdienst ist fröhlicher, und alles wird dir irgendwann mal vergeben. Aber bei Luther und seinen Nachfolgern heißt es: Alles, was Spaß macht, ist verboten. Spaß ist Sünde. Mit so einer Haltung kann man Macht ausüben. Deshalb ist sie auch in autoritären Gesellschaften verbreitet. Die Lebensfreude ist in katholischen Ländern größer, da wird hemmungslos gefressen. Nehmen wir den Balkan, wie sie dort feiern, die Großzügigkeit, das ist beglückend. Es gibt keine deutsche Hochküche gibt, das liegt an der erwähnten Mentalität, aber auch an der geographischen Lage. Wir liegen in der Mitte Europas und werden vom Westen und vom Osten beeinflußt. Die wichtigsten kulinarischen Einflüsse kommen vom Westen, aus Frankreich: die Verfeinerung, die Modernisierung. Leider aber kommen auch Einflüsse vom Osten. Und da muß man sagen, daß im Osten immer schon viel schlechter gekocht wurde. Die polnische Küche hat noch nie was getaugt, die russische schon gar nicht. Was gut ist, wird von der anspruchsvollen Gastronomie vermittelt, nicht vom Volk. Alles, was mit Kulinarik zu tun hat, bleibt in Deutschland im Bereich des Elitären. 70 Prozent der Menschen kämpfen, damit sie und ihre Kinder eine Art Leben führen können. Da bleibt nicht viel Kraft, um ihre Regierungen davon abzubringen, die Erde in den nächsten zehn Jahren zu zerstören. Und dazu brauchen wir keine Außerirrdischen.

Grüßken, Matze

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