Aber ist das nicht ein pragmatischer Ansatz, der mit dem lyrischen Verständnis nicht in Einklang zu bringn ist? Lyrik ist doch kein Ding das man über Massenkompatibilität definiert. Geschweige denn über Wörter wie Macht und Geld . . Lyrik ist für Träumer, die die Welt beherrschen . . .
LX.C
Mitglied 1770 Forenbeiträge seit dem 07.01.2005
[Quote]Was ist Lyrik heute? Weder Einschlaflektüre noch Begleitmusik zum Geplauder in der Bar noch Therapie, Entlastung des bedrängten Gefühlslebens durch Ausdruck.
Die Systemtheoretiker sprechen von Ausdifferenzierung. Das ist kein Zerfallsprozess, wie man in einer marxistisch-hegelianischen Perspektive meinen möchte, die fortschreitende Spezialisierung, Arbeitsteilung zersetzt Erfahrungs- und Artikulationseinheiten, was Schweigen einerseits, ein kunstvoll leeres Reden andererseits entstehen lässt – die marxistisch-hegelianische Perspektive müsste nach dieser Diagnose den Ausblick auf neue Einheiten eröffnen. Was sie aber nicht kann.
Nein, wir erklären uns einverstanden mit der Ausdifferenzierung der Lyrik als einer Textsorte, die kein Ausdruck von Gefühlen, Erlebnissen, nichts Stimmungsmäßiges ist. Was aber auch bedeutet, dass Gefühl, Erlebnis, Stimmung als gewissermaßen von der Lyrik entbundene Energie anderswo herumvagabundieren und bei Gelegenheit für die Beantwortung der Frage, was ist Lyrik, angeführt werden können.[/Quote] Quelle: Rutschky, Michael: Was ist Lyrik heute?, in: Dieckmann, Friedrich: Die Geltung der Literatur, Aufbau-Verlag, Berlin 1999, S. 406.
Folgt man Rutschky weiter, wäre eingangs angeführte Statistik vielleicht mit der euphorischen Überschätzung der Lyrik in den 60er Jahren zu erklären, einer Mode, die außer Mode gekommen, derer man heute also vollkommen überdrüssig ist. - Damals wurden Gedichtbände unbekannterer Lyriker zu Zichtausenden verkauft und schon als Anwärter der Weltliteratur geführt, während sie inzwischen wieder vollkommen aus dem Literaturbewusstsein verschwunden sind. Zudem gab es einen regelrechten Interpretationswahn.
Man könnte also sagen, die Lyrik heute ist frei, freier als je zuvor. Den Einbruch von Verkaufszahlen folglich Einbuße von Druckerzeugnissen muss sie dafür billigend hinnehmen. .
Franklin Bekker
Mitglied 98 Forenbeiträge seit dem 09.01.2005
So könnte man es sagen. Oder: Der Lyriker mach nicht mehr einfach Gedichte für ein Publikum. Er muss Orte finden an denen es Leute gibt, die er entdecken lassen kann, dass ihnen Lyrik etwas bringt.
Es gibt keinen festgelegten Rezeptionsrahmen für lyrische Sprache mehr. Das macht die Lyrik freier und das "an den Mann bringen" von Lyrik schwieriger. Komm schon, gieß mich in Bronze!
LX.C
Mitglied 1770 Forenbeiträge seit dem 07.01.2005
Diese Nachricht wurde von LX.C um 12:55:45 am 19.06.2007 editiert
[Quote]Selbst auf dem schmalen Felde, das sie mit ihrem Dasein heute verklärt, hat sie, die zu stolz ist, vieles zu bedürfen, noch immer das was sie braucht. Sie ist noch gekannt in der feierlichen Stille die ihr zukommt, sie wird noch verehrt von Eingeweihten, sie wird noch gelesen, nicht von allzu vielen, aber auch nicht von den Vielzuvielen, sie ist, wenig gelesen und wenig gehandelt, scheinbar obskur und übersehen, dennoch eine der wirklich geheimen Mächte der Zeit, lautlos und unscheinbar wirkend, aber heimlich mit Zähneknirschen gefürchtet, mit Wut gescheut und mit Vorsicht umgangen, und wenn unverkäuflich, dafür so unkäuflich, wie die ganze tarifmäßig käufliche Welt in der wir leben, auszudenken fast nicht wagt.
Borchardt, Rudolf: Die Aufgabe der Zeit gegenüber der Literatur (1929), in: Reden, hg. von Borchardt, Marie Luise, Stuttgart 1955, S. 387.
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Matze
Mitglied 719 Forenbeiträge seit dem 09.04.2006
Gegenbeispiel: Gerhard Jaschke, die Eminenz der Wiener Kleinverlagsszene, ein Klassiker, der keinen Staub ansetzt. Seine Gedichte »Alles Klar Natürlich« sind eine gelungene Text-Sammlung dieses engagierten Autors, Herausgebers des legendären Zeitschrift für Literatur und Kunst, dem Freibord. Für Gerhard Jaschke haben die offene Flanken für künstlerische Konzepte ästhetische Ansätze. Die Gedichte nehmen Ausdrucksformen moderner Kommunikationstechniken auf und transformieren sie mit aufklärerischem Anspruch. Die aphoristische Struktur, der gestische Duktus, die ironischen Untertöne, die Unterwanderung vorgeprägter Sprache und die umgedeuteten Sprichwörte dienen häufig einem parodistischen Spiel. Der Lyriker präsentiert ein lebendiges Sprachspiel aus Alliterationen, Akronymen und Anagrammatischem. Gerhard Jaschke, der alte Stoiker, macht einfach immer weiter. Einer muss es ja machen.