Klingt allerdings tatsächlich ziemlich dürftig und lückenhaft.
Im Prinzip ist es sehr verwunderlich, dass überhaupt irgendetwas, das kein neues (Staats)Gesetz war, gedruckt werden konnte. 100%-ig konnte ja sowieso niemand die Linie treffen, selbst, wenn er sich die größte Mühe gab.
Die mir vorliegende Biographie ist optisch zweigeteilt gedruckt. Einem fetten schwarzen Absatz Welt/SU-Geschichte folgen immer ein paar rote Brocken über Gorkis Leben, damit man auch schön alles in den Kontext einordnen kann.
In meinem Lesebuch wird auch der "Kultautor" N. Ostrowski ("Als der Stahl gehärtet wurde") erwähnt, ebenfalls 1936 gestorben (Baujahr 1904). Leider habe ich keine Biographie zu ihm finden können. Das Todesjahr erscheint jedenfalls auf den ersten Blick verdächtig...
Kenon
Mitglied 1499 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
Ich glaube, dass sich Gorki nach seiner Rückkehr doch mit den herrschenden Verhältnissen in der Sowjetunion arrangiert hat. Auch wenn ihm die vielen Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten nicht entgangen sein dürften, so wird er sich dennoch dafür entschieden haben, das beste daraus zu machen; gab es denn überhaupt Alternativen? Diese Einstellung wird jedenfalls in seinen Aufsätzen und Zeitungsartikeln der 30er Jahre deutlich.
Ich war zeit meines Lebens ein "Pazifist". [...] Aber nach dem heroischen Krieg, den unsere hungrigen, barfüßigen, halbnackten Arbeiter und Bauern siegreich zu Ende geführt haben, und nachdem die Arbeiterklasse sich beim Aufbau des neuen, des eigenen Staates unter unbeschreiblich schwierigen Verhältnissen als kluger und begabter Gebieter erwiesen hat und weiter erweist, habe auch ich mich überzeugt, daß ein Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich ist. (1929)
Im Innern unseres Landes organisieren die schlauen Feinde Lebensmittelmangel, die Kulaken terrorisieren die zu Kollektivwirtschaften zusammengeschlossenen Bauern durch Morde, Brandstiftungen und die verschiedenartigsten niederträchtigen Methoden. Gegen uns ist alles, was das ihm von der Geschichte beschiedene Zeitmaß bereits ausgelebt hat, und dies gibt uns das Recht, uns immer noch als im Bürgerkrieg stehend zu betrachten. Die natürliche Schlußfolgerung daraus ist: "Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er vernichtet" (1930)
LX.C
Mitglied 1770 Forenbeiträge seit dem 07.01.2005
Ich denke nicht, daß er sich einfach nur arrangiert hat.
In der Literatur run um den Allunionskongreß erfährt man eine Menge über die Stimmung um 1932-1934, darunter viele kleine Details über Gorki.
Kein Schriftsteller war beliebter als er in der UdSSR zu dieser Zeit.
Es gab eine wahnsinnige Literaturbegeisterung, da unter Stalin alle lesen lernen konnten/mußten, selbst Erwachsene. Der Analphabetismus wurde erfolgreich bekämpft und auch sonst herrschte eine wahnsinnige Aufbruchstimmung, die selbst Nichtkommunisten, wie beispielsweise Klaus Mann, faszinierten und begeisterten. Es ist heute kaum vorstellbar, aber ich glaube schon, daß der Kommunismus mitreißen konnte, ohne sich großartig arrangieren zu müssen.
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Kenon
Mitglied 1499 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001
Das Experiment "Sowjetunion" war ja auch die damals einzige Alternative des zum offenen Faschismus mutierten Kapitalismus. Interessant ist, was für quasireligiöse Züge das ganze trägt: Lenin, der verstorbene Gott, Stalin, sein lebender Vertreter auf Erden. Insgesamt, sehe ich aber, habe ich noch zu wenig Wissen über diese Periode.
"Es ist Stalin offenkundig lästig, in der Art vergöttert zu werden, wie es ihm geschieht, und ab und zu macht er sich darüber lustig ... Ich sprach mit ihm freimütig über den geschmacklosen und maßlosen Kult, der mit seiner Person getrieben wird, und er antwortete ebenso freimütig. Es sei ihm, sagte er, leid um die Zeit, die er auf Repräsentation verwenden müsse ... Über die Geschmacklosigkeit der übertriebenen Verehrung seiner Person zuckt er die Achsel. Er entschuldigt seine Bauern und Arbeiter, die zuviel zu tun gehabt hätten, um sich auch noch Geschmack beizulegen, und mokiert sich ein bißchen über die hunderttausend ungeheuerlich vergrößerten Bilder eines Mannes mit Schnurrbart, die ihm bei Demonstrationen vor Augen flirren ... Er vermutet, daß hinter solchen Übertreibungen die Beflissenheit von Männern stecke, die sich erst spät zum Regime bekannt hätten und nun ihre Treue durch doppelte Intensität zu beweisen suchten. Ja, er hält es für möglich, daß die Absicht von Schädlingen dahinter stecke, welche ihn auf solche Art zu diskreditieren suchten. ,Ein serviler Narr`, sagte er ärgerlich, ,schadet mehr als hundert Feinde`." (Lion Feuchtwanger, Moskau, 1937).
Diese Nachricht wurde von Jasmin um 23:44:47 am 14.05.2005 editiert
Man sollte an dieser Stelle auch daran erinnern, wofuer der Name Stalin steht. Das obige Zitat von Lion Feuchtwanger macht Stalin sympathisch und das darf nicht sein. Er hat Millionen Menschen auf dem Gewissen, sogar seinen eigenen Sohn hat er hinrichten lassen. Dissidenten wurden gnadenlos vernichtet.
Und nicht zulezt Stichwort Archipel Gulag. Während der über zwanzigjährigen Periode des Stalinismus wurden 18-20 Millionen Menschen in diesem grauenhaften Gefangenenlager inhaftiert, das verharmlosend als "Besserungsarbeitslager" und "Besserungsarbeitskolonie" bezeichnet wurde, hinter dem aber ein System der politischen Verfolgungen, Verhaftungen, Untersuchungsgefängnisse, der Verhöre, der Folter, der Verurteilungen und der Straflager selbst mit ihren unmenschlichen, durch Hunger, Kälte, Überanstrengung, unhygienische Zustände, Krankheiten und mangelnde medizinische Versorgung geprägten Lebensbedingungen stand.
Das Buch "Moskau" hat man Feuchtwanger auch sehr übel genommen. Es zeigt aber exemplarisch sehr deutlich, wie selbst ein Intellektueller sich vom Sowjetkommunismus begeistern ließ - und um eben diese Begeisterung ging es hier schließlich gerade.
Stalin hat seinen Sohn nicht hinrichten lassen. Er hat sich "nur" geweigert, ihn, nachdem er in deutsche Gefangenschaft geraten war, gegen einen Faschisten auszutauschen. Er hat seinem Sohn also keine Sonderrechte gegenüber der "Normal"-Bevölkerung gewähren wollen. In der Gefangenschaft ist der Sohn dann verstorben.
Jasmin
Mitglied 406 Forenbeiträge seit dem 21.11.2004
Diese Nachricht wurde von Jasmin um 23:52:38 am 14.05.2005 editiert
Zitat:
Das Buch "Moskau" hat man Feuchtwanger auch sehr übel genommen. Es zeigt aber exemplarisch sehr deutlich, wie selbst ein Intellektueller sich vom Sowjetkommunismus begeistern ließ - und um eben diese Begeisterung ging es hier schließlich gerade.
Ja, was hat Feuchtwanger denn so begeistert? Und was schreibt er zum Beispiel zum Archipel Gulag? Zu den Säuberungen? Waren das die zwangsläufigen Nebeneffekte, die man in Kauf nehmen musste, um die Herrschaft des Proletariats genießen zu können?
Kenon
Mitglied 1499 Forenbeiträge seit dem 02.07.2001