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Literaturforum: irgendwie feige


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Forum > Sonstiges > irgendwie feige
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 Thema: irgendwie feige
1943Karl
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100. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 05.07.2008 um 18:46 Uhr

Diese Nachricht wurde von 1943Karl um 18:47:35 am 05.07.2008 editiert

Liebe Matze,
wenn ich deine Literaturkritikkritik so lese, dann frage ich mich zwischendurch, ob du nicht eigentlich auf die zunehmende gesellschaftliche Dekadenz hinweisen willst, die sich selbstverständlich auch am Zustand von ihrer Kunst und Kultur messen läßt.
Ich beobachte immer häufiger, wie der Einzelne sich als ohnmächtiges Opfer des Systems empfindet und beschreibt. Dabei ändern sich Systeme bekanntlich nur bzw. auch schon, wenn eines seiner Teile ein anderes Spiel beginnt.
Außerdem habe ich jene typische Aussage der siebziger Jahre im Ohr, bei der immer wieder die Bewusstseinsänderung als Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Veränderungen beschworen wurden. Zu viele aber verharren bis heute bei der Bewusstseinsveränderung und lassen die daraus möglicher Weise folgenden Taten vermissen. Ich glaube, auch Literatur lässt die Aufforderung zur Tat vermissen. Es reicht nicht zu wissen, wie es gehen könnte. Es beginnt, wenn begonnen wird. Nicht das Wissen der so genannten Wissensgesellschaft verändert sondern dessen Anwendung.
Herzliche Grüße
Karl


Bei jedem Irrtum gewinnt die Wahrheit Zeit.
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Der_Geist
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101. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 05.07.2008 um 23:41 Uhr

Na, Ihr seid ja hier mal böse. Wenn wo gelehrt wird, wie man schön schreibt, ist das doch in Ordnung. Warum muss denn immer gleich eine message verpackt oder die Welt gerettet werden? (...)

Wer message will, der muss Bukowski lesen, und schon schreien wieder alle. In der Literatur wird immer nur geschrien und kritisiert. Warum nicht einfach lesen?

Zitat:

Van Gogh bittet seinen Bruder um Farbe
Hemingway testet seine Schrotflinte an sich selber
Céline geht als Arzt pleite
die Unmöglichkeit, Mensch zu sein
Villon als Dieb aus Paris verbannt
Faulkner betrunken in den Gossen seiner Stadt
die Unmöglichkeit, Mensch zu sein
Burroughs erschießt seine Frau
Mailer sticht auf seine mit dem Messer ein
die Unmöglichkeit, Mensch zu sein
Maupassant wird wahnsinnig in einem Ruderboot
Dostojewski wird an die Wand gestellt
...
Lorca von spanischen Soldaten auf der Straße ermordet
die Unmöglichkeit
...
Nietzsche unheilbar verrückt
die Unmöglichkeit, Mensch zu sein
allzu menschlich
dieses Atmen
ein und aus
aus und ein
diese verkrachten
Existenzen
...
diese Feiglinge
diese Champions
diese glorreichen
verrückten Hunde
die das Unmögliche tun
und uns diesen
schmalen Hoffnungs-
schimmer erhalten.

aus Charles Bukowski - Roter Mercedes.

So? Wem ist was recht?

Lasst uns einfach schreiben, und lest es, oder lasst es bleiben. (Ich bitte explizit um Verhackstückung des letzten Satzes.)

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Matze
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102. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 06.07.2008 um 06:31 Uhr

Lieber Karl,

wir leben im Zeitalter der Kognitionswissenschaften, die Fragestellungen der Natur–, Geistes– und Sozialwissenschaften werden übereinander geblendet, zugespitzt und neu bewertet. Die alten Unterscheidungen zwischen Natur, Geist und Gesellschaft interessieren mehr und mehr unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Unterschiede, unter dem Gesichtspunkt, was jeweils sowohl für die Natur als auch für den Geist und für die Gesellschaft gilt. Die Frage nach intelligenten Erkenntnisleistungen ist dabei ganz konkret gemeint: Wie und von wem wird in Natur, Geist und Gesellschaft derart unterschieden, daß es dem Leben, dem Bewußtsein und der Kommunikation gelingt, sich zu reproduzieren?

Zitat:

[size=1] Es beginnt, wenn begonnen wird. Nicht das Wissen der so genannten Wissensgesellschaft verändert sondern dessen Anwendung.

„Ergründe die Menschennatur!“, heißt es einmal bei Kafka. Es ist dieser Seufzer, der zwischen den Zeilen und Szenen immer wieder zu hören ist. „Was ist der Mensch?“ Ein Krisengeschöpf, antwortet es in der Literatur. Der Mensch und mit ihm die Gesellschaft sind in endlose krisenhafte Vorgänge verwickelt; was gestern galt, kann morgen schon hinfällig sein. Das ist eine zentrale Erfahrung des beginnenden 21. Jahrhunderts. aufschlußreich ist dabei vor allem, welche Menschenbilder die Literatur vor diesem Hintergrund entwerfen. Das Krisengeschöpf Mensch hat mehrere Gesichter. Da gibt es den Typus des Unerlösten, der um die Unmöglichkeit von Erlösung weiß, die Sehnsucht danach aber nicht bezwingen kann. Der Unerlöste ist einer, der immerfort gegen die Sterblichkeit anbellt, heiser wird und am Ende verstummt. Ein Kämpfer wider das Unumstößliche, der eine ganze Welt in Bewegung setzt und doch nicht von der Stelle kommt. Mit beiden Beinen steht der Unerlöste im Sumpf der Gegenwart und berührt mit dem Herzen das Reich der letzten Dinge. Ein hysterisch Zerrissener, der keine Ruhe findet im abgesteckten Areal des Ich. Wartend auf Erlösung, jeder Erlösung aber mißtrauend. Ein existenzieller Hagelsturm geht über vertrocknete Seelenlandschaften nieder. Mit solchen Figuren wird ein vielfach gebrochener und durch das Säurebad der Aufklärung gegangener psychologischer Realismus entblättert. Aufgeklärt, weil jenseits des naiven Glaubens an bare Wirklichkeitsabschilderung, dennoch aber realistisch, weil angereichert mit genügend Wiedererkennungspotenzial. Man könnte aber auch sagen: Die Literatur ist damit wieder dort, wo es sich am besten auskennt – beim Menschen und bei dessen unergründlichen Verirrungen. Krisengeschöpfe allerorten.

Zitat:

Ich glaube, auch Literatur lässt die Aufforderung zur Tat vermissen.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in ihrer "Dialektik der Aufklärung" von 1944 der Kulturkritik einen Weg gewiesen, der sich auf das Beste in die Fragestellungen der Kognitionswissenschaften einordnet. Ihr Begriff der Kulturindustrie, das heißt der industriellen Verfertigung der Unterhaltung von Massengesellschaften, bezieht sich zwar auf Immanuel Kant, aber Kant darf mit seiner Frage nach den Bedingungen der Selbsterkenntnis von Vernunft durchaus als einer der Großväter der Kognitionswissenschaften gelten. Horkheimer und Adorno jedenfalls halten als Ausgangspunkt ihrer Beobachtung der Kulturindustrie fest: "Die Leistung, die der kantische Schematismus noch von den Subjekten erwartet hatte, nämlich die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen, wird dem Subjekt von der Industrie abgenommen. Sie betreibt den Schematismus als ersten Dienst am Kunden. In der Seele sollte ein geheimer Mechanismus wirken, der die unmittelbaren Daten bereits so präpariert, daß sie ins System der Reinen Vernunft hineinpassen. Das Geheimnis ist heute enträtselt."

Grüßken, Matthias

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1943Karl
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103. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 06.07.2008 um 19:18 Uhr

Lieber Matthias,
dem, was du schriebst, habe ich zunächst nichts hinzuzufügen. Auch diesmal Dank dafür!
Es erscheint mir, als zeichne sich ein neuer Kultur(en)-kampf ab. Da sind einerseits die religiösen Fundamentalisten (z.B. die Evangelikalen in den USA und die Islamisten), die auch unmittelbaren politischen Einfluss nehmen wollen, und andererseits die Aufgeklärten. Zeichnet sich da nicht auch ein Kampf zwischen Kognitionswissenschaften und Glaubensideologien ab. Und hält die Literatur sich nicht irgendwo dazwischen auf. Vielleicht kann sie darüber auch Lösungen anbieten. Die Fundamentalisten einfach nur ins Mittelalter verbannen zu wollen, ist mir zu einfach. Sie und ihre Bedürfnisse gibt es ja jetzt.
Ich kann das nicht fundiert begründen. Es handelt sich möglicher Weise auch nur um einen von mir erwünschten Verdacht.
Wie siehst du das?
Immerhin muss sich die Belletristik nicht der Kognitionswissenschaften bedienen. Und immerhin ist es Literatur schon häufiger gelungen, Erkenntnisse zu produzieren, die sich der aktuellen Wissenschaft (noch) nicht erschloss.
Herzlichen Gruß
Karl


Bei jedem Irrtum gewinnt die Wahrheit Zeit.
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Matze
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104. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 07.07.2008 um 05:55 Uhr

Lieber Karl,

von wegen Gnostiker und Emphatiker – am besten streiten läßt es sich mit den Dogmatikern. Das Christentum stellt den unbedingten Wahrheitsanspruch. Eine raffinierte Täuschung, die mit Luther und seinem Kampf gegen den Papst erstmals in Frage gestellt wird. Von Interesse sind die Veränderungen, die im Laufe der Zeit die Begrifflichkeit von Aufrichtigkeit erfährt. Sie pendelt zwischen Dummheit und extremer Verstellung. In der Kunst des Kartenspiels ist Verstellung essenziell. Schon führen uns die Überlegungen zu Nietzsche, dem Protestanten und Antichristen. Da gibt es wahrlich nichts zu lachen: alles Verstellung. Das Erfinden der Erkenntnis: die verlogensten Minuten der Weltgeschichte. Um zu überleben, muß der Mensch täuschen und sich täuschen, weiß der Philosoph und erklärt die ganze Kultur zum Verstellungskunstspektakel, die Kunst zur "echten, resoluten, ehrlichen Lüge".

Zitat:

Zeichnet sich da nicht auch ein Kampf zwischen Kognitionswissenschaften und Glaubensideologien ab. Und hält die Literatur sich nicht irgendwo dazwischen auf. Vielleicht kann sie darüber auch Lösungen anbieten. Die Fundamentalisten einfach nur ins Mittelalter verbannen zu wollen, ist mir zu einfach. Sie und ihre Bedürfnisse gibt es ja jetzt.

Goethe und Kant beschreiben den Paradigmenwechsel zur bürgerlichen Kultur der Aufrichtigkeit. Diese stößt schon bald an ihre Grenzen, wenn es um Fragen der Liebe geht. Das Stottern des Verliebten, seine Sprachlosigkeit kann Gefühle schnell abtöten. Aufrichtigkeit macht verletzlich und gelegentlich sehr einsam. Je zivilisierter, desto mehr Schauspieler, weiß Kant, und so eilt das aufklärungskritische Werk ins 18. Jahrhundert, zu den zentralen Figuren Goethe, Schiller und Racine, zu Bühne, Aufrichtigkeit im Roman und Maskenspiel.

Kleist und Flaubert wären ebenso zu nennen, und ihr Einfluß auf Kafka. So entstünde ein entsteht reger Briefverkehr mit Gespenstern, die sich ihrem Gegenüber entfernen. Eine unheimliche Dialektik zwischen Nähe und Distanz entsteht, während Flaubert in seinen privaten Briefen an Louise Colet die völlige Abwesenheit inszeniert: nur keine Gefühle! In seinen Romanen und Briefen wandelt Flaubert bei Bedarf sein Geschlecht, versteckt sein Leben in der Literatur und verschwindet als Autor schließlich im Text.

Damit kommt Odysseus herangerudert, der listenreich die Menschen fressenden Zyklopen blendet und besiegt. Er beweist, daß die List der körperlichen Stärke überlegen ist. Der kraft seines Verstandes siegende Odysseus wird in der Verwandlung des bürgerlichen Homo oeconomicus mit dem kapitalistischen Konkurrenzprinzip zur Natur des Menschen schlechthin erklärt. Bei Horkheimer und Adorno wird in der „Dialektik der Aufklärung“ der Sieg über die Sirenen zum Ursprung der Kunst im Zeichen der Gewalt. Oder wie bei GraSS, bei dem die Maske des Gutmenschen gefallen ist.

Kritik an der Kritik ist ein beliebtes Spiel, vor allem im Literaturbetrieb. Nur wird dabei zumeist der Gegenstand vergessen: die Literatur. "Wozu noch Literatur im 21. Jahrhundert?". Und das ist in aller Einfachheit exakt die Frage, die Literaturschaffende wie Kritiker sich gleichermaßen gelegentlich stellen sollten.

Grüßken, Matthias

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JH
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105. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 07.07.2008 um 19:06 Uhr

Zitat:

„Ergründe die Menschennatur!“, heißt es einmal bei Kafka.

Bei Kafka heißt es auch:

Prüfe dich an der Menschheit! Den Gläubigen macht sie gläubig, den Skeptischen skeptisch.


MASSONI
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1943Karl
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106. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 07.07.2008 um 19:30 Uhr

Lieber Matze,
immer wieder bin ich verblüfft über deinen Antworten, die offenbar auf einem überragenden Wissen basieren. Da komme ich mir dann schon manchmal recht klein und unwissend vor.
Dennoch stelle ich mir auch weiterhin die Frage, wofür Literatur im 21. Jahrhundert? Soll sie im Sinne konstruktivistischer Systemiker Lebensentwürfe vorstellen? Soll sie der Sinnlosigkeit zum Sinn verhelfen? Soll sie Denkfehler adeln und u.a. dadruch Lebenshilfe leisten? Oder soll sie auch weiterhin jenen, die ihre Mühe mit dem so genannten realen Leben haben, bei der Flucht in Fantasiewelten helfen? Soll sie in einer oberflächlichen Gesellschaft Tiefen ausloten? Soll sie ie Realitäten spiegeln und erweitern? Oder soll sie einfach nur zu möglichst grenzenloser Fantasie verhelfen.
Wann würde sie dein Kritikerherz höher schlagen lassen?
Herzliche Grüße
Karl


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Matze
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107. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 08.07.2008 um 05:38 Uhr

Lieber Karl,

gute Fragen

Zitat:

Dennoch stelle ich mir auch weiterhin die Frage, wofür Literatur im 21. Jahrhundert? Soll sie im Sinne konstruktivistischer Systemiker Lebensentwürfe vorstellen? Soll sie der Sinnlosigkeit zum Sinn verhelfen? Soll sie Denkfehler adeln und u.a. dadruch Lebenshilfe leisten? Oder soll sie auch weiterhin jenen, die ihre Mühe mit dem so genannten realen Leben haben, bei der Flucht in Fantasiewelten helfen? Soll sie in einer oberflächlichen Gesellschaft Tiefen ausloten? Soll sie sie Realitäten spiegeln und erweitern? Oder soll sie einfach nur zu möglichst grenzenloser Fantasie verhelfen.
Wann würde sie dein Kritikerherz höher schlagen lassen?

Zunächst einmal sollte man sich wiesengrundsätzlich über das Verhältnis der Literatur zu ihrem Material wundern, der Sprache. Sklavisch gebunden ist diese an jene. Bildende Künstler bewegen sich schon lange jenseits von Farbe, Leinwand, Gips und Bronze. Komponisten haben nicht erst seit Cage Parameter wie Geräusch und Stille, also die Abwesenheit von gestalteter "Musik", für sich entdeckt, was die Anwesenheit struktureller Prinzipien, also die Komposition, keineswegs störte. Die Literatur aber bleibt zurückgeworfen auf leere Seiten und die Optionen des Alphabets.

Der US–amerikanische Klassiker Henry David Thoreau war der Ansicht, daß es Bücher gibt, die man "auf Zehenspitzen" lesen müsse. Thoreau forderte damit eine besondere Wachsamkeit der Leser ein sowie die Bereitschaft, sich einem Bedeutungsgehalt gegenüber zu öffnen, der dem flüchtigen oder auch bloß ersten Lesen entgeht. Es kann natürlich sein, daß man im Literaturbetrieb besonders eifrig das mach, was Autoren gern machen: einen Berg von Sprachgeröll und Handlungswust vor sich aufzubauen, nur damit sie ihn dann mühsam wieder abtragen können. Literatur als Baggerarbeit. Für die Poesie hat man dann natürlich keine Kraft mehr. Die Krise der Intelligenz ist auch eine Krise des Buches, und es stelle sich die Frage, ob das Buch seinen alten Platz als Träger der Erkenntnis behaupten wird. Auch jene, deren Publikation unbehindert geblieben ist, erreichen nur einen kleinen Teil der Leser, für die sie bestimmt und die ihnen bestimmt sind. Umso verwunderlicher erscheint eine Art von Reflexionsverweigerung in der Literatur. Während Musik und bildende Kunst, selbst Architektur, sich ständig in einem ästhetischen Diskurs befinden, der die Möglichkeiten des Materials immer wieder mit dem Gestaltungswillen der Künstler, den Projektionen und Utopien abgleicht und so erst einen fortdauernden Begriff von Moderne ermöglicht, verharrt die Literatur behaglich vor einem ästhetischen Horizont aus dem 19. Jahrhundert. Schriftsteller sollten ästhetische Debatten führen, das ist ihr Metier. Jede ästhetische Debatte hat auch moralische und politische Implikationen. Parteigänger muß man deshalb noch lange nicht werden.

Flaubert, der in seiner Gegenwart weder große Sujets noch große Gestalten entdecken kann, konstatiert während der Arbeit an seiner »Education sentimentale«: „La beauté n´est pas compatible avec la vie moderne.“ Mit andern Worten: „Wie kann man erzählen, wenn es nichts mehr zu erzählen gibt?“ Flaubert löst das Problem, das sich ihm zunächst als ein inhaltliches stellt, indem er formale Verfahren entwickelt, die es ihm ermöglichen, die Abfolge von Belanglosigkeiten wiederzugeben, als die ihm das moderne Leben erscheint. Er macht seinen durchschnittlichen Protagonisten zum Perspektiventräger und verzichtet darauf, das Geschehen durch einen Erzähler zu kommentieren. Während Flaubert sein Schreiben noch in der Tradition des realistischen Romans sieht, setzt sich Proust bereits vom Realismus ab, dem er vorhält, statt zur Wahrheit subjektiver Erlebniswirklichkeiten vorzudringen – was seiner Auffassung nach bedeuten würde, diese im Werk zuerst hervorzubringen –, nur die äußere Realität in stereotypen Formeln zu erfassen. Robbe–Grillet, der Wortführer des Nouveau Roman, nimmt diesen Vorwurf auf: Der realistische Schriftsteller richtet sein Schreiben an den Schemata aus, die seine Leser von der Wirklichkeit haben. Deshalb muß der moderne Autor auf herkömmliche Kategorien wie Figur und Geschichte verzichten. Das traditionale Erzählen erscheint hier als eine entleerte Konvention – ein Argument, mit dessen Hilfe sich der realistische Roman der Gegenwart pauschal der Unterhaltungsliteratur zurechnen ließ. Dem als Programmatiker der neuen Schreibweise auftretenden Autor wird man die polemische Zuspitzung seines Arguments nicht verargen.

Seit sich die Literatur gegen Platons Vorwurf der Lüge verteidigen muß, gibt es eine Geheimabsprache zwischen Autor und Leser, die so genannte Fiktionalität. Darin steht, daß die dichterische Rede den Anspruch auf Wahrheitsbehauptung suspendiert. Solange man nicht behauptet, die Wahrheit zu sagen, kann man auch nicht lügen. Als Aristoteles in Abgrenzung zum platonischen Vorwurf der Lüge sein poetologisches Prinzip der nachahmenden Mimesis begründete, ging es ihm nicht um die Imitation der Umgebung zur Überlistung von Fressfeinden, sondern um eine Zielvorstellung, die sich als Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung beschreiben läßt. Dieses Konzept, das der abendländischen Literaturauffassung bis heute zugrunde liegt, verlangt von der Dichtung selbstverständlich ein gewisses Maß an realistischer Glaubwürdigkeit. Ebenso offensichtlich ergibt sich daraus die Frage, wie viel historische Faktizität in literarischen Texten notwendig, erwünscht oder erlaubt sei. Mit Sicherheit wird jeder Schriftsteller für sich das Recht in Anspruch nehmen, seine diesbezüglichen Entscheidungen in künstlerischer Freiheit zu treffen.

Grüßken, Matthias

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1943Karl
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108. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 08.07.2008 um 18:44 Uhr

Lieber Matthias,
deine Antworten und meine Fragen beginnen sich im Wesentlichen zu wiederholen. Vielleicht sollten wir es mit der inzwischen sehr langen Auseinandersetzung, an deren Anfang mein relativ kurzer Text stand, bewenden lassen. Mir fällt bei aller berechtigten Forderung nach Kreativität vorerst nichts mehr ein, das es verdienen würde, aufgeschrieben zu werden.
Es hat mir in jedem Fall viel Spaß gemacht und ich habe von dir eine Menge gelernt.
Dafür bedanke ich mich herzlich. Und es wäre mir sehr recht, wenn sich demnächst wieder eine Gelegenheit böte, so intensiv Meinungen und Wissen auszutauschen.
Sei herzlich gegrüßt
Karl


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Matze
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109. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 09.07.2008 um 06:11 Uhr

Lieber Karl,

die Grenzen des ‚kritischen Bewusstseins’ sind klar geworden. Spezialisierte Literaturkritik ist selber falsches Bewußtsein, Ideologie im dialektisch–materialistischen Verstand. Zu retten ist sie nur, wenn sie in Gesellschaftskritik übergeht. Die Kritik ist, bedrängt durch die Konsumindustrie, auf dem Rückzug. Literatur, das sind winzige Buchstaben, große Worte und kein Geschäft. Deshalb versuchen Medienmacher jenseits konkreter Alltagserfahrungen, das Unfaßbare, Unaussprechliche von Poesie einzufangen. Die einzige Disziplin, der ein avancierter Intellektueller einstmals nachgehen durfte, war die Gesellschaftskritik. Diese Kritik entwarf sich selbst als Hegemonialmacht mit universaler Deutungskompetenz; allüberall, in einer Grußformel, einem Reklameslogan, einem Hollywoodfilm vermochte sie das falsche Bewußtsein, wie diese Gesellschaft es notwendig erzeugt, aufzustöbern und in ein richtiges, das heißt kritisches Bewußtsein zu verwandeln. Dort, wo die Theorie dingfest gemacht werden soll, gibt es einen Irrgarten aus Wörtern, den man – systematisch denken! Assoziation! – nicht chronologisch durchwandert, sondern durchstreift, von Stichwort zu Stichwort.

Zitat:

deine Antworten und meine Fragen beginnen sich im Wesentlichen zu wiederholen.

In Zeiten zunehmender Kommerzialisierung und abnehmender Staatsgewalt werden Intellektuelle unwichtiger, sind nicht mehr auf historischer Mission, werden nicht mehr für die Stimme des Volkes oder Berater der Mächtigen gehalten. Die so genannte ‚Internetliteratur’ beschert in der elektronischen Kommunikation den Lesern eine Informationsverstopfung, die künstliche Intelligenz geht mit einem Verfall der Fantasie und Intelligenz der Menschen einher. Diese Autoren sind nicht einmal Randfiguren der holzverarbeitenden Industrie. In der Marktwirtschaft ist ihre Literatur ein Sozialfall. Ein Schriftsteller ist jemand, der aus wirklichen Stimmen andere Stimmen heraushört. Das literarische Feld, das durch diese zugleich literarische und politische Gruppierung geprägt war, läßt sich unter dadurch beschreiben, daß seine Zentralfiguren aus ihrem kulturellen Erfolg das Recht zu dissidenten politischen Stellungnahmen ableiteten. In gewisser Weise haben es Publikum, Kritik und Standesorganisationen sogar als den wirksamsten Maßstab des kulturellen Erfolgs gewertet, mit wie abweichlerischen politischen Ansichten man in der öffentlichen Diskussion durchkam, ohne daß einen die eigenen Leute zur Ordnung riefen.

Zitat:

Mir fällt bei aller berechtigten Forderung nach Kreativität vorerst nichts mehr ein, das es verdienen würde, aufgeschrieben zu werden.

Mir schon. Wenn man sich auf die Primärtugenden der Kritik besinnt – Neugier, Leidenschaft, Entdeckerfreude, Sachverstand und die Fähigkeit, diesen Sachverstand zu vermitteln –, dann ist schon viel gewonnen. Gesellt sich dazu noch eine methodische Vielfalt, kann es losgehen. Denn welche Werkzeuge man anwendet – ob man sich dem close reading verschreibt oder gesellschaftliche Fragen zu beantworten sucht, ob man sich bei der feministischen Literaturwissenschaft oder bei den queer studies bedient, sich psychoanalytisch inspirieren läßt oder sein Reservoir subkulturellen Wissens ausschöpft –, ist nicht kategorisch, sondern von Fall zu Fall zu entscheiden.

Zitat:

Und es wäre mir sehr recht, wenn sich demnächst wieder eine Gelegenheit böte, so intensiv Meinungen und Wissen auszutauschen.

Wenn die neue Ordnung gefunden ist, hört damit das Erzählen nicht auf. Das Erzählen reicht tief in die Geschichte der Menschheit zurück und stellt eine anthropologisch fundierte Kategorie darstellt. In diesem Zusammenhang ist ein Hinweis von Stuart Hall weiterführend, der daran erinnert, „daß jeder Diskurs placiert, positioniert und situativ ist und jedes Wissen in einem Kontext steht.“ Das gilt nicht nur für die Diskurse, durch die sich die Identität von ethnischen Gruppen konstituiert, sondern gleichfalls für Theorien wie diejenige vom Erfahrungsschwund. Das Erzählen kommt nie zum Abschluß, da es dem Prinzip der endlosen Wiederholung gehorcht. Die Selbstbestätigung, die der Leser aus der Erzählung zieht, muß er sich immer aufs Neue geben. Etwas davon kehrt in dem seltsamen Zwang wieder, mit dem Schreiben fortfahren zu müssen, wenn man einmal damit begonnen hat. Mit einem auf die Literaturvorstellungen der Aufklärung zurückgreifenden Begriff hat Uwe Johnson die Geschichten, die er erzählt, unterhaltsam genannt: „Unterhaltsam in allen Bedeutungen des Wortes. Wie man unterhalten werden kann durch ein Schauspiel, durch eine Musik, durch ein spielendes Kind; wie eine Brücke, ein Verkehr, ein Haushalt unterhalten wird.“ Wenn Erzählungen Individuen und Gruppen unterhalten, dann ist damit nicht weniger gesagt, als daß sie für diese in einem existenziellen Sinne lebenswichtig sind. Löst man sich dann noch vom Themendiktat der aktuellen Bestseller, kann es aufregend werden. Für mich ist das Aufregende am ehesten im Netz zu finden, dort, wo ich mich mit Künstlern wie Peter Meilchen, Tom Täger, Heimo Hieronymus, Holger Benkel, Francisca Ricinski, A.J. Weigoni und vielen mehr beschäftige. Nicht im Sinne eines Geheimwissens, das mich gegenüber anderen, nicht eingeweihten Kritikern auszeichnete, sondern weil die Literatur für mich ein privilegierter Ort der Fremderfahrung ist. Wie unscharf die Grenze zwischen traditionellem und modernem Erzählen tatsächlich ist, läßt sich daran ersehen, daß Verfahren wie erlebte Rede oder innerer Monolog sich konsequent aus der Realismus–Problematik herleiten laßen – nämlich aus dem Bemühen der Autoren, näher an die Erlebniswelten ihrer Figuren heranzukommen, ohne sich des herkömmlichen Mittels der Introspektion zu bedienen. Wenn realistisches und modernes Erzählen einem Problemzusammenhang angehören, dann wird man eine allgemeine Theorie des Erzählens skizzieren müssen, die beide Weisen des Erzählens umfaßt und mit deren Hilfe sich auch der Rückgriff auf traditionale Formen des Erzählens begreifen läßt. Lesen und Unvertrautes zu erfahren, gehört für mich untrennbar zusammen. In Büchern, vervielfältigen sich die Genüsse und Erkenntnismöglichkeiten.

Literatur ist ein in die Zukunft geschleuderter Haken. Von Kafka wissen wir, wie die Stoffe dieses Lebens manchmal unmerklich, manchmal mit einem Donnerschlag aus dem Ruder laufen. Fremde und rätselvolle Mächte greifen ein, das vermeintlich fest Gefügte in teuflisches oder auch komisches Ungemach zu verwandeln. Von Freud wissen wir, daß das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei. Die heutigen Autoren haben von Freud wie von Kafka gelernt, doch die Mixtur, die sie uns präsentieren, beansprucht eine eigene Essenz von Wahrheit. Liebe, etwa, ist nicht partout unmöglich. Weder ist sie nur die metaphysische Sehnsucht, die von der Gottheit aufgerieben wird, noch muß sie sich allein im Echo ihrer Projektionen erkennen. Was freilich davon bleibt – als Begegnung, Erfüllung vielleicht – verdankt sich eher Sekunden als Jahren, Tagen als Jahrzehnten des Glücks. Als Melancholiker, die die Instrumente der Zivilisationskritik virtuos beherrschen, sind Holger Benkel, Francisca Ricinsci und A.J. Weigoni zugleich Humoristen, deren Augen auch scheinbar Nebensächliches sofort erfaßt. Nicht der eitel empörte Adorno begleitet sie auf dem Weg durch die Kuriositätenkabinette des Alltags; eher inspirieren sie Jonathan Swift oder Gottfried Benn – der Engländer für alle Geschichten, da Großes und Kleines die Rollen tauschen, der Berliner Zyniker für Schräglagen, in denen spürbar wird, daß die Moderne ihren Vorrat an Kreativität erschöpft hat. Als „Unaufhörlichkeit“ hatte Benn jenen Zustand bezeichnet, in welchem sich der Fortschritt zu ewigen Variationen kultureller Langeweile verflachen sollte. Kein mächtiger Wurf mehr, keine kühnen Eroberungen, stattdessen Stillstand mit Eingewöhnung in die leeren Bequemlichkeiten. Wenn diese Autoren diese These aufgreifen, obsiegt bei ihnen das Temperament des Satirikers wider die mögliche Aufgeregtheit des Moralisten.

Grüßken, Matthias

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