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Literaturforum: irgendwie feige


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Forum > Sonstiges > irgendwie feige
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 Autor
 Thema: irgendwie feige
1943Karl
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Eröffnungsbeitrag Abgeschickt am: 21.05.2008 um 17:33 Uhr

Wie es anderen Schreibwilligen geht, ahne ich nur. Mir jedenfalls geht manches in unserer sogenannten Gesellschaft erheblich auf den Wecker. Und der ist, wie andere Uhren auch, bereits mehrere Sekunden über fünf vor zwölf hinaus.
Wer über Menschen schreiben will (und welcher Autor will das nicht), muss seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zwangsläufig ständig beobachten und auf sich wirken lassen. Auf mich wirken sie. In Bus und Bahn, im Büro und in Fußgängerzonen, auf Steh- und anderen Partys hinterlassen sie, was sie, so nehme ich zu ihren Gunsten an, viel lieber nicht hinterließen.
Ein kunstinteressierter Rechtsanwalt, den ich bei der Finissage zur Ausstellung „Zeitzeichen zur Unzeit“ traf, meinte nachdenklich über sein graues, kurzgeschorenes Haupthaar streichend, die ehrlichsten Politiker seien noch jene, die zugeben, dass sie ständig lügen. Und in meiner Stammkneipe höre ich bei jedem meiner dortigen Besuche selbst von Leuten mit gehobener Bildung und ebensolchem Wortschatz die stets wiederkehrende Floskel: „Wir werden doch ständig beschissen!“
„Wenn die da oben schon anfangen sich rauszureden, Politik sei heute nun einmal wahnsinnig kompliziert und vielschichtig!“ klagt mein Freund der Oberstudienrat, der sicherlich differenziert denken kann. Und meine Zahnärztin droht mir: „Glauben Sie ernsthaft, sich demnächst noch eine neue Brücke leisten zu können?“ „Und Geld verteilen die nur noch nach oben um!“ empört sich Dieter, arbeitet bei der Stadt und ist bei „verdi“ in der Gewerkschaft.
Da muss sich der gewöhnliche Gedichte- und Geschichtenschreiber zwangsläufig aufgerufen fühlen, der Wahrheit und Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen. Doch wer will schon einer dieser unbequemen Rechthaber sein. Lieber erfinde ich unterhaltsame Geschichten, die es mit der Wahrheit nicht ganz so genau nehmen müssen. Hauptsache sie erscheinen glaubwürdig, sind unterhaltsam und lenken vom wahren und deswegen oft unerträglichen Leben ab.
„So was wollen die Leute eben lesen! Und vor allem Promi-Tratsch zwischen zwei Buchdeckeln auf denen irgendetwas von Wahrheit steht!“ meint mein Buchhändler, seufzt, blickt sehnsüchtig zu seinem Regal mit den Klassikern und beginnt seine Tageseinnahmen zu überprüfen.
Und ich nicke und komme mir irgendwie feige vor.


Bei jedem Irrtum gewinnt die Wahrheit Zeit.
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Matze
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1. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 22.05.2008 um 06:26 Uhr

Der Nachteil des VS, also der Schriftstellergewerkschaft, wen interessiert es, sollten diese Autoren streiken?

Wer erleidet dadurch einen Verlust?

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LX.C
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2. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 24.05.2008 um 13:03 Uhr

Immerhin ein guter Anfang.


.
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1943Karl
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3. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 29.05.2008 um 19:07 Uhr

Lieber Matze, lieber LX.C,
danke für eure kurze Meinungsäußerung. Manchmal träume ich davon, ein kämpferischer politischer Schriftsteller zu sein. Leider bewegt das belletristische Wort gesellschaftlich nur wenig.
Herzliche Grüße
Karl


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LX.C
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4. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 29.05.2008 um 20:17 Uhr

[Quote]Leider bewegt das belletristische Wort gesellschaftlich nur wenig.[/Quote]

Wie recht du hast, Tucholsky ist daran verzweifelt.


.
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Matze
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5. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 30.05.2008 um 06:15 Uhr

Zitat:

Leider bewegt das belletristische Wort gesellschaftlich nur wenig.

Hat es das je? - Ich fürchte Künstler erschrecken heute nur noch konzeptionell.

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1943Karl
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6. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 30.05.2008 um 22:25 Uhr

Liebe LX.C, lieber Matze,
vor allem das deutsche Wort bewegt in relativ satten Zeiten wenig. In anderen Ländern mit anderen Sprachen ist offensichtlich mehr zu bewegen.
Ja, und manche Künstler erschrecken auch nach meinem Empfinden nur noch konzepionell.
Danke für eure Kommentare und herzliche Grüße
Karl


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LX.C
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7. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 31.05.2008 um 22:04 Uhr

Diese Nachricht wurde von LX.C um 22:06:18 am 31.05.2008 editiert

Zitat:

Liebe LX.C, lieber Matze,
vor allem das deutsche Wort bewegt in relativ satten Zeiten wenig. In anderen Ländern mit anderen Sprachen ist offensichtlich mehr zu bewegen.

Ja, manchmal hat man den Eindruck, wo Kritik erlaubt ist, ist Kritik nicht mehr [nach]gefragt. (Beziehe das auf Literatur)


.
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Der_Geist
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8. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 03.06.2008 um 19:25 Uhr

Hätte Literatur eine tagesgeschehenbestimmende Macht, wäre sie Politik und MRR schon längst Bundespräsident gewesen.

Entweder ich stelle mich plärrend ans Mikro und pflege meine Rabulistik, oder ich schreibe (vergeblich) dagegen an. Wie sollte beides gleichzeitig funktionieren?

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Matze
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9. Antwort   - Permalink - Abgeschickt am: 03.06.2008 um 21:55 Uhr

Zitat:

Diese Nachricht wurde von LX.C um 22:06:18 am 31.05.2008 editiert

[quoteJa, manchmal hat man den Eindruck, wo Kritik erlaubt ist, ist Kritik nicht mehr [nach]gefragt. (Beziehe das auf Literatur)

Die Literaturkritik hat ausgedient, weil Autoren wie Popstars gehandelt werden. Erfolgreiche Autoren werden zunehmend wie Celebrities gehandelt, Literaturkritiker leben dagegen oftmals in prekären Verhältnissen. Die Medienlandschaft hat sich entscheidend verändert und damit die gesellschaftliche Bedeutung der Literaturkritik. Schon vorher wurde über viele bedeutende Kritiker ein Literaturpapst gestellt. Als der in Pension ging, kam eine Erweckungspredigerin. Doch von solch tief greifenden Wandlungsprozessen ist kaum die Rede. Die Kommerzialisierung des gesamten Feldes der Literatur führt zu einem Verfall der Kunstkritik als reflexiver Praxis. Der Untergang der Literaturkritik rührt daher, daß Kritiker sich zunehmend wie bloße Vermittler, im Extremfall gar wie Makler der Ware Literatur verhalten und nicht wie risikobereite Vorreiter unabhängigen kritischen Urteilens. Eine intellektuelle, also auch bildende Auseinandersetzung mit diesen künstlerischen Arbeiten findet von Ausnahmen nicht statt. Eine echte Begegnung zwischen Kritikersubjekt und Literatur findet dann statt, wenn die Wahrnehmung ein Verstehen und das Verstehen eine Wahrnehmung ist. Im Suchen immer neuer Verortungen zwischen den Disziplinen liege die Möglichkeit, "sich nicht dermaßen regieren zu lassen", die Michel Foucault einst in zwei kleinen Essays "Was ist Kritik?" (1978) und "Was ist Aufklärung?" (1984) mit Bezug auf Kant als Möglichkeit wahren kritischen Bewusstseins postulierte. Literatur ist keine feststehende Kategorie, denn ihre Bedeutung und ihre Präsentationsformen verändern sich im Wirken gesellschaftlicher Kräftefelder. Die Frage "Was ist Literatur?" ist mit der Frage "Was ist Kritik?" eng verbunden. Beide wurzeln historisch im 18. Jahrhundert. Damals wollte das aufgeklärte Bürgertum anhand der Kritik einen neuen Politikbegriff etablieren, der sich Politik als diskutierende Öffentlichkeit von politischen und ästhetischen Laien vorstellte. Das heutige "meinungsbildende Feuilleton" nutzt dem Literaturbetrieb, aber nutzt der Literaturbetrieb auch der Literatur?

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