Meistens begegnete mir Albert Mayer beim Tschibo am Rotkreuzplatz in München-Neuhausen, wo ich Kaffeesüchtiger einen Kaffee trinken musste. Albert, ein ungefähr fünfzigjähriger schlanker Herr mit Normschnitt, Schnurrbart und wie immer bestens gekleidet, wenn man eine Erscheinung in Anzug und Krawatte als gut gekleidet bezeichnen wollte.
Er pumpte mich auch sogleich an. Ich war für ihn eine gewisse Geldquelle, da ich als von den Eltern unterstützter Student genügend Geld zur Verfügung hatte. So gab ich ihm einen Fünfzigmarkschein, den er auch immer wieder ihn geraumer Zeit zurückzahlte, bis auf den Letzten. Als ich ihm nach Jahren wieder begegnete, vertröstete er mich. Er sei finanziell in Schwierigkeiten.
Das Finanzielle löste Albert auf eine Weise, an der ich die Lebenskunst bewunderte. Albert arbeitete nicht. Wenn ihn jemand fragte, was er denn beruflich mache, gab er die Auskunft, er sei selbstständig. Damit war dann die Neugier aufs Erste ruhiggestellt. Selbstständig klingt ja immer geheimnisvoll nach etwas Besonderem und viel Geld, und Albert Mayer, der Krawattenträger in Anzug, machte etwas her. Der musste wohl etwas Besonderes sein, so schien es. Und in den 1980er Jahren war ja der Schein das Entscheidende. Der Schein machte das Sein.
Albert phantasierte immer von irgendwelchen Erfindungen, von denen er eine Idee hatte. Die Ausführung sollten freilich Ingenieure zuwege bringen. Das Produkt sollte ihm dann Reichtum bescheren, von dem Albert beständig träumte.
Um auf anderem Wege zu Reichtum zu kommen, spielte er auch Lotto. Hatte aber dabei mehr Geldverlust als Gewinn. Eines Tages jedoch verkündete er, er werde nicht mehr Lotto spielen, weil er eine Gotteserfahrung gemacht habe, die ihm gebot, das Glücksspiel zu unterlassen. Ab da trachtete er nicht mehr, zu viel Geld zu kommen, sondern beschied sich mit dem, was er an Geld auftreiben konnte. Er hatte seine Geldquellen, die alle eine gewisse Ergiebigkeit hatten. Bei mancher konnte man öfter im Monat anrücken, andere waren nur einmal im Monat zu nutzen. Es waren Pfarreien, freigiebige Professoren oder wohlhabende Leute, die immer wieder mal in regelmäßigen Abständen etwas springen ließen.
Immer wenn Albert Mayer wieder einmal eine Einnahme gemacht hatte, überlegte er, wo er gut und fein speisen konnte, denn eine Kantine oder eine Stelle mit günstigem Massenessen genügte seinen Ansprüchen nicht. Zum Essen trank er dann immer ein Glas Bier. Mit diesem mäßigen Alkoholgenuß ließ er es genug sein. Auch rauchte er ungefähr eine Schachtel Zigaretten am Tag. Mit solchen Suchtstängeln bediente ich ihn, wenn ich ihn traf.
Für mich war Albert Mayer ein beeindruckender Zeitgenosse, weil er es verstand, ohne zu arbeiten, durchs Leben zu kommen, wenn man von der jeweiligen Mühe und Lauferei absah, die es bedurfte, Geld aufzutreiben. Seine Findigkeit darin und das Einhalten der jeweiligen Geldtermine waren, wenn man so will, Albert Mayers Arbeit. Ich dachte mir, „wenn alle Stricke reißen“, wie man so sagt, dann mache ich es auch so wie dieser feine Herr, der sich der gewöhnlichen Arbeitsmühe nicht unterzog, denn dazu war er sich anscheinend zu gut. In seiner Anschauung, was Arbeit betraf, war er mit mir seelenverwandt, denn auch ich scheute die Arbeitsmühe. Am liebsten hätte ich nie gearbeitet. Wir beide waren in der Umgehung der Arbeit zwei Verbündete, die gegen den Strom der Zeit der 1980er und der frühen 1990er Jahre anschwammen, einer Zeit, in der jeder nach Anerkennung durch Erwerbsarbeit heischte, auch wenn er in seiner Tätigkeit nichts Sinnvolles oder sogar gar nichts tat. Und wehe einer wie ich arbeitete nicht, so wurde er mit verächtlichen Worten bedacht. Albert Mayer und ich waren beide solidarisch darin, dass man das Leben genießen sollte, ohne sich mit Arbeit abzuplacken. Denn arbeiten tun eigentlich nur die Dummen, die Intelligenten wissen, die Arbeit zu umgehen.
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